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Unterschätzte Abhängigkeit
Auch Europas Nuklearindustrie kann nicht ohne Russland

Angesichts der Energiekrise, die Krieg in der Ukraine ausgelöst hat, werden wieder Stimmen lauter, die den Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie kritisieren. Dabei sei Europa bei der Nukleartechnologie noch stärker abhängig von Russland als bei Gas oder Öl, sagt die Energieexpertin Anke Herold.

Von Dagmar Röhrlich | 28.04.2022
Dampf steigt aus den Kühltürmen des Atomkraftwerks Grohnde auf (Langzeitbelichtung)
Auch bei der Erzeugung von Atmoenergie ist Europa abhängig von Russland (dpa/Julian Stratenschulte)

Ohne Russland hätten europäische Betreiber von Atomkraftwerken ein Problem. Ein Fünftel des hier eingesetzten Kernbrennstoffs stammt aus Russland – ein weiteres Fünftel aus dem eng mit Russland verbündeten Kasachstan. „Aus unserer Sicht sind wir bei den Kernkraftwerken und bei der Nukleartechnologie eigentlich noch stärker abhängig von Russland als bei Gas oder bei Öl", urteilt Anke Herold, wissenschaftliche Geschäftsführerin des Öko-Instituts.

Russland führend bei Urananreicherung und Brennelementefertigung

Zwar ließen sich die nötigen Rohstoffe an sich wohl auch anderswo einkaufen. Doch Russland ist führend bei der Urananreicherung und der Fertigung von Brennelementen. „Da hat Russland einfach einen sehr, sehr hohen Einfluss, und wir haben eine ganze Reihe von EU-Mitgliedsstaaten, die diese Brennelemente aus Russland von Rosatom bekommen", sagt Herold.

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Rosatom ist ein russischer Staatskonzern, der im internationalen Uran- und Nukleargeschäft eine Spitzenposition innehat. 2007 vom damaligen und heutigen Präsidenten Wladimir Putin gegründet, untersteht er direkt dem Kreml. „Rosatom hat sich in der Vergangenheit immer bemüht, so Komplettpakete anzubieten. Zum Beispiel in der Slowakei ist Rosatom der gesamte Betreiber verschiedener Kernkraftwerke, also die liefern praktisch der Regierung den Strom", erzählt Herold.
Dem Konzern gehören mehr als 350 Unternehmen an. Die meisten im Nuklearsektor – im militärischen wie im zivilen Bereich. Darunter ist die für Brennelemente zuständige Firma TVEL. Ohne die geht wenig. Mit ihr hat sogar der französische Nuklearkonzern Framatome im Dezember 2021 einen Vertrag über eine intensive Zusammenarbeit abgeschlossen.

Größte Abhängigkeit bei Druckwasserreaktoren

Doch am größten ist die Abhängigkeit in den EU-Staaten, in denen Druckwasserreaktoren russischer Bauart laufen. Die brauchen aus technischen Gründen die speziell geformten Brennelemente von TVEL. Herold: „Die stehen zum Beispiel in Bulgarien, in der Tschechischen Republik, in Finnland, in Ungarn und auch in der Slowakei. Und es gibt bestimmte Reaktortypen, diese älteren Druckwasserreaktoren, die können überhaupt nur von Rosatom beliefert werden.“
Logo des russischen Energiekonzerns Rosatom
Rosatom hat im internationalen Uran- und Nukleargeschäft eine Spitzenposition (dpa/TASS/Anton Vaganov)
Die Europäische Nuklear-Versorgungsagentur warnt bei diesen Druckwasserreaktoren russischer Bauart schon lange vor einer „signifikanten Verwundbarkeit“. „Es gibt Aussagen aus früheren Dokumenten aus der EU und von Euratom, wo einfach ganz lapidar gesagt wird: Die Versorgungssicherheit ist in dem Nuklearbereich gar kein Problem, weil man die Brennelemente ja sehr lange lagern könnte", so Herold

Nuklearsektor von EU-Sanktionen gegen Russland ausgenommen

Offenbar sind die Vorräte aber knapp. Noch nach Beginn des Kriegs in der Ukraine erhielt ein russisches Flugzeug deshalb eine Ausnahmeerlaubnis, um Brennelemente nach Europa zu liefern. Ohnehin ist derzeit der zivile Nuklearsektor von den EU-Sanktionen gegen Russlands Energiewirtschaft explizit ausgenommen. Herold: „Wenn man sich anguckt: Nicht mal die USA ist unabhängig von Rosatom im Atombereich. Auch 20 Prozent des niedrig angereicherten Urans für amerikanische Reaktoren wird aus Russland geliefert.“
Und weitere 30 Prozent beziehen die USA von Russlands engen Alliierten Usbekistan und Kasachstan. Deshalb ist auch dort der Nuklearsektor von den Sanktionen bislang ausgenommen. Und hätte Wladimir Putin den Ukrainekrieg später begonnen, wäre die Abhängigkeit der Welt von Russland noch größer gewesen: „Wir haben ja jetzt auch so eine große Diskussion von diesen Small Modular Reaktoren, also diese neuen kleinen Reaktoren, die jetzt gebaut werden sollen. Da wird ein stärker angereicherter Brennstoff benötigt für diese Reaktoren, der wird überhaupt nur von Rosatom angeboten", sagt Herold.

Russland hat gezielt strategische Position aufgebaut

Der Westen müsste diese Produktionskapazitäten erst noch aufbauen. Russland verdient derweil sogar an Stilllegung und Rückbau deutscher Kernkraftwerke: Die deutsche Firma NUKEM Technologies in Alzenau ist seit Dezember 2009 in russischem Besitz. Nicht einmal 24 Millionen Euro zahlte die Rosatom-Tochter Atomstroiexport dafür– und verschaffte sich so Zugang auch zur Zwischen- und Endlagerung.
Wohl nur zufällig nicht zustande gekommen ist dagegen der Kaufvertrag für die Brennelementefabrik in Lingen. Herold: „Die EU Kommission hatte schon entschieden, ja, Rosatom darf diese Brennelementefabrik kaufen. Und dann lag der jetzt fast 20 Monate beim Wirtschaftsministerium, und es wurde nicht entschieden. Am 24. Februar dieses Jahres, also mit Kriegsbeginn, hat dann Rosatom diesen Antrag zurückgezogen. Aber wenn das Timing ein bisschen anders gewesen wäre, dann hätten wir diese 20 Monate, die das Wirtschaftsministerium Zeit hat, darüber zu entscheiden, die waren schon fast vorbei, und das Kartellamt hatte auch schon zugestimmt zu diesem Verkauf dieser Brennelementfertigung.“

Russland, urteilt Anke Herold, hat in den vergangenen Jahren auf dem Nuklearsektor gezielt eine strategische Position aufgebaut. Ohne dass sie als problematisch wahrgenommen worden wäre. Selbst jetzt wurde über die explizite Embargo-Ausnahme für den zivilen Nuklearsektor viel weniger diskutiert als über die Gaslieferungen. Immerhin fordert das Europäische Parlament inzwischen ein sofortiges Embargo auch für die Einfuhr von Kernbrennstoffen.