Zitat aus Thomas Mann "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull":
Bildung wird nicht in stumpfer Fron oder Plackerei gewonnen, sondern ist ein Geschenk der Freiheit und des äußeren Müßiggangs; man erringt sie nicht, man atmet sie ein.
Bildung braucht Zeit: Als Kronzeugen für ihr Plädoyer gegen die verkürzte Gymnasialzeit wählt Birgitta vom Lehn Thomas Mann. Doch dessen hätte es vielleicht nicht einmal bedurft: Inzwischen ist unter vielen Bildungsexperten Konsens, dass G8 aus einer Stimmung der Verunsicherung nach PISA heraus entstand, dass es politisch unsensibel und über die Köpfe von Eltern und Schülern hinweg durchgesetzt und handwerklich schlecht umgesetzt wurde. Birgitta vom Lehn ist Mutter dreier Kinder, von denen zwei ihr Abitur im Schnelldurchlauf machen müssen. Die Autorin lässt kein gutes Haar an der Reform:
"Eine verlorene Kindheit kann man nicht zurückholen, eine verletzte nicht reparieren. Mit halbfertigen, unreifen Absolventen können die Universitäten wenig anfangen, die Wirtschaft noch viel weniger."
Dabei waren es gerade die Lobbyisten der Wirtschaftsverbände, die jahrelang auf kürzere Gymnasial- und Studienzeiten hingearbeitet haben.
"Das ist ganz klar, man möchte die Leute schneller haben, jüngere, flexiblere, ja, auch einen Tick unreife haben, die auch willig sind, die natürlich auch billig sind. Das ist doch ganz klar, solche Leute lassen sich schnell anheuern, die lassen sich aber auch entsprechend schnell wieder nach draußen komplimentieren, ganz einfach, weil sie noch nicht diese Standfestigkeit haben, weil sie noch nicht diese gereifte Persönlichkeit haben."
Die Kritik an der verkürzten Gymnasialzeit entzündet sich vor allem daran, dass pubertierende Schüler den Stoff in kürzerer Zeit bewältigen und von der sechsten Klasse an auch an einigen Nachmittagen in der Schule büffeln müssen.
"Die Pubertät ist nun mal zum Stillsitzen und Lernen völlig ungeeignet, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Besonders die Jungen leiden darunter. Im G8 kommt noch eine fatale Besonderheit hinzu: Das eingesparte Stundenkontingent der dreizehnten Jahrgangsstufe wird auf die Unter- und Mittelstufe verteilt. Dadurch kommt es aber gerade hier zu einer übermäßigen Unterrichtsbelastung von Kindern in der Pubertät."
Eine übermäßige Belastung, bei der inhaltlich wenig hängen bleibe; der Stoff werde nur angerissen, nichts werde vertieft, bemängelt vom Lehn. Sie untermauert das argumentativ, indem sie bayerische G8-Lehrpläne mit alten G9-Lehrplänen vergleicht:
"Bei der Kategorie 'Sprachbetrachtung' fällt aber auf, dass komplett auf 'Wiederholung und Erweiterung' verzichtet wird – nach dem alten Lehrplan wurde dagegen viel wiederholt und erweitert. Auch das Wort 'Übung' taucht im G8-Plan nicht mehr auf. Üben ist wohl jetzt vor allem Sache des Elternhauses und des Nachhilfeinstituts – schade nur, dass die Zeit, die man dafür privat benötigt, nicht bei der Stundentafel berücksichtigt wird."
Als Patentlösung gilt Bildungspolitikern derzeit allerorten die sogenannte "Entrümpelung" der Lehrpläne. Das findet Birgitta vom Lehn populistisch, weil die Lehrpläne in vielen Bundesländern bereits über Jahrzehnte hinweg verschlankt worden seien. Seit G8 gebe es in den Lehrplänen der neuen gymnasialen Oberstufe in Bayern beispielsweise keine Weltkriege mehr.
"Also, ich glaube, man kommt um ein gewisses Faktenwissen nicht herum, es wird nur ignoriert und auch geleugnet, dass man es braucht. Wir reden immer von Methoden, die es zu erlernen gibt, dabei ist das ein Witz, weil es gibt einfach ein Wissen, man muss in Geschichte, in Mathe in bestimmtes Faktenwissen, ein bestimmtes Grundlagenwissen erlangen und auch auf einem bestimmten Niveau, damit sie später auf einem gewissen Niveau studieren können."
Damit die hiesigen Hochschulen ihr Niveau künftig trotz der Schulzeitverkürzung halten können, gibt es bereits erste Tendenzen, das gekürzte Schuljahr an die Hochschulen zu verlagern. ( ... ) Dass das Turbo-Abi damit auf dem besten Weg zu Billig-Abi ist, sagt niemand.
Jenseits dieser durchweg plausiblen Argumentation zeigt das Buch eine Tendenz, zum schulpolitischen Rundumschlag auszuholen, der alle großen Reformen des vergangenen Jahrzehnts niederstrecken will. So verurteilt die Autorin die inflationäre Einführung von Leistungsüberprüfungen. Die Kritik daran mag berechtigt sein – mit der verkürzten Schulzeit haben die Leistungstests jedoch nicht das Geringste zu tun. Ähnlich verhält es sich mit der Ganztagsschule, die mit G-8 natürlich verschwistert ist, weil der Unterricht durch die erweiterten Stundentafeln ohnehin bis in den Nachmittag hinein geht. Die Autorin agitiert gegen beide Reformen, aber partiell zu Unrecht. Ein sinnvoll ausgestaltetes Ganztagsschul-Programm könnte das verkürzte Gymnasium entschärfen und sozial schwächere Schüler bereichern. In ihrer Kritik am Ganztagsunterricht klingt vom Lehm bieder und herablassend bildungsbürgerlich.
Sollen deshalb diejenigen, die noch in intakten Familien mit engagierten Eltern leben dürfen, von diesen bitte schön auch nicht mehr profitieren dürfen? Solidarität ist gut und schön, aber sie geht zu weit, wenn sie mit einem gemeinschaftlichen Verzicht auf Freiheit und Freizeit verbunden ist, weil einige nichts mehr damit anzufangen wissen. Selbstständigkeit sollen unsere Kleinen schon so früh wie möglich lernen – warum dann nicht auch, dass das Leben ungerecht ist? Wer das als ungerecht empfindet, der muss alle Kinder von Geburt an von ihren Eltern trennen und in separaten Erziehungsanstalten kasernieren.
Hier bricht sich eine leicht elitär anmutende Wut Bahn, die das Buch aber zugleich lebhaft und kurzweilig macht – eine wissenschaftliche Studie ist das Buch nicht. Was dabei fehlt, ist der Blick ins Ausland, das mit zwölf Schuljahren ja keineswegs nur schlechte Erfahrungen macht. Manchmal vergaloppiert sich die Journalistin gar in wilden Spekulationen, zum Beispiel darüber, ob in Ostdeutschland deshalb so viel mehr Kinder unter ADHS leiden, weil sie schon früh in die Krippe gesteckt würden und "von früh an funktionieren" müssten.
Als beste und einfachste Lösung des G8-Dilemmas schwebt vom Lehn vor, dass Schüler zwischen einem Abitur nach zwölf oder nach 13 Jahren wählen können sollten. Praktisch wird das schwer umzusetzen sein - und dass eine der umfassendsten Schulreformen der vergangenen Jahre flächendeckend zurückgedreht wird, erscheint unrealistisch. Jenseits der genannten ärgerlichen Schwächen gebührt dem meinungsstarken Buch das Verdienst, die Gymnasialreform treffend in das gesellschaftliche Umfeld des ökonomischen Zwängen unterworfenen Lernens einzuordnen. Und dabei offenbart sich auch eine Paradoxie:
Große wollen entschleunigen, nur Kleine sollen rasen? Das Thema Entschleunigung ist bislang leider ausschließlich für die Arbeitswelt der Erwachsenen reserviert geblieben. Dort verdienen Karriereberater gutes Geld mit Entschleunigungstipps. Schule kommt aus dem Griechischen und heißt freie, unverplante Zeit.
Sandra Pfister über Birgitta vom Lehn: Generation G-8. Wie die Turbo-Schule Schüler und Familien ruiniert. Das Buch kommt aus dem Beltz Verlag, ist 223 Seiten stark und kostet 14 Euro und 95 Cent, ISBN 978-3-407-85915-0.
Bildung wird nicht in stumpfer Fron oder Plackerei gewonnen, sondern ist ein Geschenk der Freiheit und des äußeren Müßiggangs; man erringt sie nicht, man atmet sie ein.
Bildung braucht Zeit: Als Kronzeugen für ihr Plädoyer gegen die verkürzte Gymnasialzeit wählt Birgitta vom Lehn Thomas Mann. Doch dessen hätte es vielleicht nicht einmal bedurft: Inzwischen ist unter vielen Bildungsexperten Konsens, dass G8 aus einer Stimmung der Verunsicherung nach PISA heraus entstand, dass es politisch unsensibel und über die Köpfe von Eltern und Schülern hinweg durchgesetzt und handwerklich schlecht umgesetzt wurde. Birgitta vom Lehn ist Mutter dreier Kinder, von denen zwei ihr Abitur im Schnelldurchlauf machen müssen. Die Autorin lässt kein gutes Haar an der Reform:
"Eine verlorene Kindheit kann man nicht zurückholen, eine verletzte nicht reparieren. Mit halbfertigen, unreifen Absolventen können die Universitäten wenig anfangen, die Wirtschaft noch viel weniger."
Dabei waren es gerade die Lobbyisten der Wirtschaftsverbände, die jahrelang auf kürzere Gymnasial- und Studienzeiten hingearbeitet haben.
"Das ist ganz klar, man möchte die Leute schneller haben, jüngere, flexiblere, ja, auch einen Tick unreife haben, die auch willig sind, die natürlich auch billig sind. Das ist doch ganz klar, solche Leute lassen sich schnell anheuern, die lassen sich aber auch entsprechend schnell wieder nach draußen komplimentieren, ganz einfach, weil sie noch nicht diese Standfestigkeit haben, weil sie noch nicht diese gereifte Persönlichkeit haben."
Die Kritik an der verkürzten Gymnasialzeit entzündet sich vor allem daran, dass pubertierende Schüler den Stoff in kürzerer Zeit bewältigen und von der sechsten Klasse an auch an einigen Nachmittagen in der Schule büffeln müssen.
"Die Pubertät ist nun mal zum Stillsitzen und Lernen völlig ungeeignet, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Besonders die Jungen leiden darunter. Im G8 kommt noch eine fatale Besonderheit hinzu: Das eingesparte Stundenkontingent der dreizehnten Jahrgangsstufe wird auf die Unter- und Mittelstufe verteilt. Dadurch kommt es aber gerade hier zu einer übermäßigen Unterrichtsbelastung von Kindern in der Pubertät."
Eine übermäßige Belastung, bei der inhaltlich wenig hängen bleibe; der Stoff werde nur angerissen, nichts werde vertieft, bemängelt vom Lehn. Sie untermauert das argumentativ, indem sie bayerische G8-Lehrpläne mit alten G9-Lehrplänen vergleicht:
"Bei der Kategorie 'Sprachbetrachtung' fällt aber auf, dass komplett auf 'Wiederholung und Erweiterung' verzichtet wird – nach dem alten Lehrplan wurde dagegen viel wiederholt und erweitert. Auch das Wort 'Übung' taucht im G8-Plan nicht mehr auf. Üben ist wohl jetzt vor allem Sache des Elternhauses und des Nachhilfeinstituts – schade nur, dass die Zeit, die man dafür privat benötigt, nicht bei der Stundentafel berücksichtigt wird."
Als Patentlösung gilt Bildungspolitikern derzeit allerorten die sogenannte "Entrümpelung" der Lehrpläne. Das findet Birgitta vom Lehn populistisch, weil die Lehrpläne in vielen Bundesländern bereits über Jahrzehnte hinweg verschlankt worden seien. Seit G8 gebe es in den Lehrplänen der neuen gymnasialen Oberstufe in Bayern beispielsweise keine Weltkriege mehr.
"Also, ich glaube, man kommt um ein gewisses Faktenwissen nicht herum, es wird nur ignoriert und auch geleugnet, dass man es braucht. Wir reden immer von Methoden, die es zu erlernen gibt, dabei ist das ein Witz, weil es gibt einfach ein Wissen, man muss in Geschichte, in Mathe in bestimmtes Faktenwissen, ein bestimmtes Grundlagenwissen erlangen und auch auf einem bestimmten Niveau, damit sie später auf einem gewissen Niveau studieren können."
Damit die hiesigen Hochschulen ihr Niveau künftig trotz der Schulzeitverkürzung halten können, gibt es bereits erste Tendenzen, das gekürzte Schuljahr an die Hochschulen zu verlagern. ( ... ) Dass das Turbo-Abi damit auf dem besten Weg zu Billig-Abi ist, sagt niemand.
Jenseits dieser durchweg plausiblen Argumentation zeigt das Buch eine Tendenz, zum schulpolitischen Rundumschlag auszuholen, der alle großen Reformen des vergangenen Jahrzehnts niederstrecken will. So verurteilt die Autorin die inflationäre Einführung von Leistungsüberprüfungen. Die Kritik daran mag berechtigt sein – mit der verkürzten Schulzeit haben die Leistungstests jedoch nicht das Geringste zu tun. Ähnlich verhält es sich mit der Ganztagsschule, die mit G-8 natürlich verschwistert ist, weil der Unterricht durch die erweiterten Stundentafeln ohnehin bis in den Nachmittag hinein geht. Die Autorin agitiert gegen beide Reformen, aber partiell zu Unrecht. Ein sinnvoll ausgestaltetes Ganztagsschul-Programm könnte das verkürzte Gymnasium entschärfen und sozial schwächere Schüler bereichern. In ihrer Kritik am Ganztagsunterricht klingt vom Lehm bieder und herablassend bildungsbürgerlich.
Sollen deshalb diejenigen, die noch in intakten Familien mit engagierten Eltern leben dürfen, von diesen bitte schön auch nicht mehr profitieren dürfen? Solidarität ist gut und schön, aber sie geht zu weit, wenn sie mit einem gemeinschaftlichen Verzicht auf Freiheit und Freizeit verbunden ist, weil einige nichts mehr damit anzufangen wissen. Selbstständigkeit sollen unsere Kleinen schon so früh wie möglich lernen – warum dann nicht auch, dass das Leben ungerecht ist? Wer das als ungerecht empfindet, der muss alle Kinder von Geburt an von ihren Eltern trennen und in separaten Erziehungsanstalten kasernieren.
Hier bricht sich eine leicht elitär anmutende Wut Bahn, die das Buch aber zugleich lebhaft und kurzweilig macht – eine wissenschaftliche Studie ist das Buch nicht. Was dabei fehlt, ist der Blick ins Ausland, das mit zwölf Schuljahren ja keineswegs nur schlechte Erfahrungen macht. Manchmal vergaloppiert sich die Journalistin gar in wilden Spekulationen, zum Beispiel darüber, ob in Ostdeutschland deshalb so viel mehr Kinder unter ADHS leiden, weil sie schon früh in die Krippe gesteckt würden und "von früh an funktionieren" müssten.
Als beste und einfachste Lösung des G8-Dilemmas schwebt vom Lehn vor, dass Schüler zwischen einem Abitur nach zwölf oder nach 13 Jahren wählen können sollten. Praktisch wird das schwer umzusetzen sein - und dass eine der umfassendsten Schulreformen der vergangenen Jahre flächendeckend zurückgedreht wird, erscheint unrealistisch. Jenseits der genannten ärgerlichen Schwächen gebührt dem meinungsstarken Buch das Verdienst, die Gymnasialreform treffend in das gesellschaftliche Umfeld des ökonomischen Zwängen unterworfenen Lernens einzuordnen. Und dabei offenbart sich auch eine Paradoxie:
Große wollen entschleunigen, nur Kleine sollen rasen? Das Thema Entschleunigung ist bislang leider ausschließlich für die Arbeitswelt der Erwachsenen reserviert geblieben. Dort verdienen Karriereberater gutes Geld mit Entschleunigungstipps. Schule kommt aus dem Griechischen und heißt freie, unverplante Zeit.
Sandra Pfister über Birgitta vom Lehn: Generation G-8. Wie die Turbo-Schule Schüler und Familien ruiniert. Das Buch kommt aus dem Beltz Verlag, ist 223 Seiten stark und kostet 14 Euro und 95 Cent, ISBN 978-3-407-85915-0.