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Abkommen für Bergkarabach
"Das Hauptproblem ist der Hass in der Region"

Der Politikwissenschaftler Stefan Meister sieht das Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan kritisch. Es komme letztlich einer Kapitulation Armeniens gleich, sagte er im Dlf. Zudem habe sich das Hauptproblem, der Hass zwischen den Volksgruppen, sogar noch verstärkt.

Stefan Meister im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker |
Proteste gegen das Waffenstillstansabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan in der armenischen Haupstadt Eriwan: Demonstranten im Sitz des Premierministers Nikol Paschinjan
In Armeniens Hauptstadt Eriwan stürmten Demonstranten den Regierungssitz von Premierminister Nikol Paschinjan (imago/Stanislav Krasilnikov)
Der Krieg um die Krisenregion Bergkarabach im Südkaukasus ist vorerst beendet. Unter russischer Vermittlung einigten sich die Konfliktparteien Armenien und Aserbaidschan auf ein Waffenstillstandsabkommen. Beide Seiten stimmten darin auch der Stationierung von russischen Friedenstruppen zu, die die Einhaltung der Vereinbarung überwachen sollen, unter anderem den Abzug armenischer Truppen aus dem Konfliktgebiet.
Für die armenische Seite bedeutet das Abkommen damit den Verlust großer Gebiete in der Region Bergkarabach. Wohl auch deshalb kam es in Armenien zu Massenprotesten. Demonstranten besetzten und verwüsteten das Parlamentsgebäude und den Regierungssitz von Premierminister Nikol Paschinjan, der als Verräter beschimpft wurde.
Der Sitz des Präsidenten der nicht anerkannten "Republik Berg-Karabach" in der Hauptstadt
Streit um Bergkarabach - Ein stark historisch aufgeladener Konflikt
Der Konflikt um Bergkarabach ist ein seit vielen Jahrzehnten schwelender Konflikt. Auf die Region erheben sowohl Armenien als auch Aserbaidschan Anspruch.
Angesichts der militärischen Überlegenheit Aserbaidschans hätte Armenien jedoch keine andere Wahl gehabt, als die Vereinbarung zu unterzeichnen, sagte der Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in der georgischen Hauptstadt Tiflis, Stefan Meister, im Gespräch mit dem Dlf. Russland habe eingegriffen, als sein Verbündeter Armenien kurz vor der Niederlage stand. Der Politikwissenschaftler befürchtet, dass die Proteste in Armenien das Land und letztlich die gesamte Region weiter destabilisieren könnten.
Stefan Meister ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tiflis/ Georgien
Stefan Meister ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tiflis/ Georgien (Stephan Röhl)

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ann-Kathrin Büüsker: Wenn wir auf dieses Abkommen schauen, was geschlossen wurde zwischen Armenien und Aserbaidschan, hatte Armenien eigentlich eine andere Wahl, als dieses Abkommen zu unterzeichnen?
Stefan Meister: Das hat es wohl nicht, weil es ist ja im Prinzip ein Verlust, ein weitestgehender Verlust dessen, was man Anfang der 90er-Jahre erobert hat, die sieben Provinzen um Bergkarabach, Teile von Bergkarabach, und letztlich kommt es einer Kapitulation gleich. Wir sehen, dass die militärische Dominanz Aserbaidschans auch mit Unterstützung der Türkei so stark war, dass es einfach nur noch mehr Opfer gegeben hätte und dass die armenische Seite einfach keine Chance gesehen hat, diesen Krieg noch zurückzudrängen oder auch in irgendeiner Form zu gewinnen.
Büüsker: Russland spricht jetzt ja von Friedenssoldaten, die in die Region entsendet werden. Was dürfen wir uns darunter vorstellen?
Meister: Russland hat ja erst mal abgewartet und zugeschaut, wie dieser Krieg weitergehen wird, und hat dann in dem Moment eingegriffen und auch die Bereitschaft gezeigt, Friedenstruppen zu schicken, als Armenien kurz vor der Niederlage stand. Für Russland ist das natürlich einerseits der Vorteil, dass es jetzt in der Region selbst Truppen hat und auch diesen Krieg dazu genutzt hat, um noch mehr Präsenz in der Region zu zeigen.
Das Foto des armenischen Verteidigungsministeriums zeigt armenisch-stämmige Einheiten in Berg-Karabach, die Artillerie in Richtung aserbaidschanischer Truppen feuern.
Die Rolle Russlands im Konflikt am Kaukasus
In dem seit Jahrzehnten währenden Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach haben sich auch die Türkei und Russland eingeschaltet.
Andererseits: Ohne Russland wäre ein Waffenstillstandsabkommen nicht zustande gekommen. Ohne Garantie auch durch russische Friedenstruppen wäre es nicht zu diesem "Frieden" gekommen. Russland spielt einfach eine entscheidende Rolle und hat auch noch mal demonstriert, dass es der Akteur ist im Südkaukasus und dass nicht die Türkei hier vielleicht mehr Boden gewonnen hat, wie das ursprünglich mal befürchtet worden ist.
Büüsker: Was bedeutet das alles jetzt für die Menschen in Bergkarabach?
Meister: Das ist die Frage. Der Status von Berg-Karabach kommt in dieser Erklärung bisher nicht vor. Der Aserbaidschanische Präsident Aliyev hat ganz klar gesagt, dass es um den Autonomiestatus von Bergkarabach geht, er nicht akzeptieren wird, dass es ein unabhängiges Bergkarabach geben wird. Es ist davon auszugehen, dass es zu Flucht kommen wird, dass es zu einer Entleerung dieses Gebietes kommt, auch wenn es im Moment noch unter armenischer Kontrolle ist und dann auch unter russischer Kontrolle sein wird. Aber es wird wohl auch in der einen oder anderen Form – der Status muss geklärt werden – an Aserbaidschan gehen.
Versöhnung zwischen den Völkern wird sehr schwer
Büüsker: Wie nachhaltig hat dieses Abkommen jetzt die Möglichkeit, die Region tatsächlich nachhaltig zu verändern?
Meister: Das Hauptproblem ist ja der Hass in der Region, der Hass auf den anderen zwischen Aserbaidschan und Armenien. Die vielen Toten - wir wissen noch nicht, wie viele Menschen gestorben sind, sowohl Soldaten als auch Zivilbevölkerung. Man spricht von fünf bis 6000 Toten. Dieser Hass hat sich ja verstärkt. Friedensaktivisten sind attackiert worden, mit Hassmails überschüttet worden, in den sozialen Medien auch attackiert worden, auf den Straßen attackiert worden.
Ölfelder außerhalb von Aserbaidschans Hauptstadt Baku am Kaspischen Meer im März 2019
Konflikt um Bergkarabach - Türkei zielt auf Korridor bis zum Kaspischen Meer
Es gehe der Türkei im Konflikt um Bergkarabach auch um Zugang zu den Gas- und Ölvorkommen im Kaukasus, meint der Politikwissenschaftler Hakan Günes.
Es wird sehr schwer sein, hier eine Versöhnung zwischen beiden Völkern zu finden, und ohne Versöhnung wird es kaum möglich sein, wirklich einen dauerhaften Frieden zu erzeugen. Aber wir haben jetzt einfach eine neue militärische Realität. Wir haben jetzt eine Dominanz auch der Aserbaidschaner und Russland ist der Garant für einen Waffenstillstand und für einen relativen Frieden in und um Bergkarabach und zwischen Armenien und Aserbaidschan.
"Angst der Armenier vor Genozid ist nachvollziehbar"
Büüsker: Sie haben jetzt den Hass zwischen beiden Ländern schon beschrieben. Es gibt in der armenischen Diaspora in Deutschland ja viele, die mit Blick auf diesen Krieg sogar befürchtet haben, dass Aserbaidschan im Prinzip einen neuen Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern begehen wollte. Würden Sie dieser These zustimmen? Wie positionieren Sie sich dazu?
Meister: Ich glaube, man muss das aus dem Trauma der Armenier verstehen. Durch den Völkermord, durch den Genozid, der an ihnen begangen worden ist Anfang des 20. Jahrhunderts, der ganz tief in der Erinnerung und in der Identität der Armenier steckt, und diese Angst vor einem erneuten Völkermord, der durch die Türkei möglicherweise als zentraler Unterstützer Aserbaidschans direkt oder indirekt hätte begangen werden können – dieses Narrativ, glaube ich, das muss man aus diesen tiefen Gefühlen und dieser Erinnerung heraus erklären. Aber ich sehe jetzt nicht, dass hier jetzt konkret ein Völkermord geplant worden ist.
Was natürlich sichtbar geworden ist, dass es ethnische Säuberungen hätte geben können oder auch zum Teil Menschen ermordet worden sind, weil sie der anderen Ethnie angehören. Und dass es gerade, wenn es jetzt diesen Waffenstillstand nicht gegeben hätte, auch ethnische Säuberungen in Bergkarabach gegeben hätte und die Armenier vertrieben worden sind. Diese Angst ist sicher nachvollziehbar. Aber ja, ich halte diesen Begriff des Genozids für verständlich, aber ich denke, er wird auch überbetont aus dieser Erinnerung heraus.
Auf Premier Paschinjan kommen harte Wochen zu
Büüsker: Vor dem Hintergrund dessen, was Sie gerade beschrieben haben – wir haben ja gestern in Armenien auch gesehen, dass Menschen zum Teil mit Demonstrationen reagiert haben. Einige haben das Parlament und das Regierungsgebäude besetzt, gegen das Abkommen protestiert. Wie ist das zu erklären?
Meister: Es kommen jetzt harte Wochen auf Armenien zu, vor allem auf den Premierminister Paschinian, der ja einer der wenigen demokratisch gewählten Premierminister ist in der neueren armenischen Geschichte, der mit einer samtenen Revolution, einer demokratischen Revolution an die Macht gekommen ist. Wir haben natürlich jetzt einen verstärkten Nationalismus in Armenien. Es ist ein Verdrängen oder an den Rand drängen von zivilgesellschaftlichen Akteuren, von ausgleichenden Akteuren.
Und es sind vor allem die Nationalisten, die fordern, dass man dieses Waffenstillstandsabkommen nicht hätte unterschreiben sollen, dass man kämpfen hätte sollen bis zum Ende, und die üben massiven Druck auf die Regierung von Paschinian aus. Es ist tatsächlich die Frage, wird er das politisch überleben und wird diese Regierung die nächsten Monate maßgeblich mitbestimmen können, wie Armenien sich weiterentwickeln wird. Das, denke ich, wird das große Fragezeichen bleiben und das wird weitere Instabilitäten nicht nur für Armenien bedeuten, sondern auch für die Region.
Konsequenzen für die gesamte Region
Büüsker: Und was hätte das dann unter Umständen zur Folge?
Meister: Einerseits, denke ich, werden wir möglicherweise beobachten, dass Nationalisten an die Macht kommen und dass jegliches ausgleichendes Element mit Blick auf Friedensverhandlungen, mit Blick auf Ausgleich zwischen den Gesellschaften an den politischen Rand gedrängt wird und damit auch einfach noch ein größerer Hass, der sich in diesem Land entwickelt, und eine Rückdrängung auch der demokratischen Bewegung in Armenien, was im Prinzip das demokratischste Land aktuell neben Georgien in der Region ist.
Und wir müssen sehen: Das ist natürlich ein Konflikt, bei dem jetzt die Türkei auch in die Region stärker hineingekommen ist, mit Russland hier um Macht konkurriert, wo der Iran auch betroffen ist mit einer großen aserbaidschanischen Minderheit. Georgien hat Armenier und Aserbaidschaner als Minderheit. Das sind auch Konsequenzen, die mehrere Länder in der Region betreffen können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.