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Abkommen mit der EU
"Libyen sich selbst zu überlassen, hat zu Chaos geführt"

Ein Abkommen mit Libyen ähnlich dem mit der Türkei, um eine neue Hauptroute für Flüchtlinge zu verhindern? Für Nahost-Experte Andreas Dittmann könnte die EU dem Land so auch aus seiner Krise helfen. Denn aktuell sei Libyen "eigentlich kein Staat".

Andreas Dittmann im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 09.04.2016
    Ann-Kathrin Büüsker: Es gibt zahlreiche Konflikte in dieser Welt, die seit Monaten, wenn nicht gar seit Jahren im Gang sind, aber auf die wir hier im Westen nur sehr selten schauen, es sei denn, etwas verändert sich. So zum Beispiel gerade im Jemen, wo an diesem Wochenende eine Waffenruhe in Kraft treten soll, oder auch in Libyen, das seit dem Sturz von Muammar al-Gaddafi 2011 in eine so verworrene Lage geraten ist, dass es zurzeit mehrere Regierungen gibt. Ein Parlament in Tobruk, bis zu dieser Woche eine islamistische Regierung in Tripolis und seit Kurzem eine international anerkannte Einheitsregierung, die in der vergangenen Woche dann in Tripolis angekommen ist, dort aber erst einmal zurückgedrängt wurde unter anderem von besagter islamistischer Regierung, die inzwischen ihren Rückzug und ihre Unterstützung für die Einheitsregierung angekündigt hat. Ja, das ist alles sehr verwirrend, verwirrend genug.
    Über die verworrene Lage möchte ich jetzt mit Professor Andreas Dittmann sprechen. Er arbeitet an der Uni Gießen, und einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die geografische Konfliktforschung, wo er Libyen stets im Blick hat. Guten Morgen, Herr Dittmann!
    Andreas Dittmann: Guten Morgen!
    Büüsker: Herr Dittmann, so viele politische Akteure, dazu noch diverse Milizen im Land: Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass diese Einheitsregierung das Land jetzt auf einen Kurs in Richtung Stabilität bringen kann?
    Dittmann: Man hat schon mehrfach gehofft, also auch im vergangenen Dezember hat es eine Einigung gegeben auf eine Einheitsregierung. Das ist dann an verschiedenen Punkten wieder gescheitert, aber mittlerweile scheint es so zu sein, dass alle Akteure verstanden haben, dass es kein Weg ist, mit Milizen und Waffengewalt oder auch dem Vertreiben von Regierungen - Sie haben die beiden existierenden, bis vor Kurzem existierenden Regierungen angesprochen -, dass so keiner zum Ziel kommen kann. Alle hoffen jetzt, dass der neue Weg vielleicht dann einer ist, der Libyen als Staat wieder repräsentiert, denn im Moment ist Libyen eigentlich kein Staat.
    "Je schwächer ein Staat, desto stärker der IS"
    Büüsker: Wie darf man sich das eigentlich in der Bevölkerung vorstellen? Ist die auch so gespalten, wie es die politische Lage vermuten lässt?
    Dittmann: Ja, manche sind gespalten und andere zerstritten nach eigener Überzeugung, und andere werden bestimmten Lagern einfach durch die Geografie zugewiesen. Diese Gegenregierungen haben sich auf die eine, die gewählte, die der Westen anerkannt hat, die hat sich im Osten des Landes festgesetzt, nachdem sie von Tripolis im Westen in den Osten nach Tobruk geflohen war. Und die Menschen so grob in der östlichen Hälfte des Landes sind natürlich dann eher im Einflussgebiet dieser gewählten, vom Westen anerkannten Regierungen und die im Westen mit der alten, neuen Hauptstadt mit dem Zentrum um Tripolis, die sind in dem Einflussbereich der Gegenspieler. Also manche werden durch die Überzeugung islamisch, islamistisch, weltlich zugeordnet und andere einfach dadurch, wo sie wohnen, durch die Geografie zugeordnet.
    Büüsker: Ein Akteur, der seit kurzer Zeit offenbar an großem Einfluss zu gewinnen scheint in Libyen, ist der selbst ernannte "Islamische Staat". Wie groß schätzen Sie den Einfluss ein?
    Dittmann: Der Einfluss, die Stärke des "Islamischen Staates" kollidiert immer, und zwar unabhängig davon, ob man von Syrien, von Irak oder jetzt von Libyen mit der Schwäche der Staaten, in der er sich einnistet, und die wirksamste Bekämpfungsmethode, das wäre jetzt eine allgemeine Anerkennung der Einheitsregierung von allen Kombattanten. So kann der "Islamische Staat", der sich um die Stadtviertel schon etabliert hat, wieder aus Libyen vertrieben werden. Also je schwächer ein Staat, desto stärker die Einnistungsmöglichkeiten durch den "Islamischen Staat".
    Büüsker: Jetzt hat der UN-Vermittler Martin Kobler gegenüber dem ARD-Studio Kairo gesagt, das Wichtigste ist jetzt, dass jetzt eine funktionierende Armee gebildet wird. Teilen Sie diese Einschätzung?
    Flüchtlingsprävention ist "eine Stärkung des Staates"
    Dittmann: Ja, genau. Es hatte der Westen ja damals stark auch mitgemischt, stärker als im Vergleich in Syrien, beim Sturz Gaddafis, und hatte zum Beispiel Libyens gesonderte drei Verantwortlichkeiten erfunden, also den Schutz der Bevölkerung und die Verpflichtung einzugreifen, aber die dritte Verantwortung, der muss sich der Westen jetzt bewusst werden, und dann auch umsetzen, das war die Verantwortung zum Wiederaufbau. Dazu gehört der Weideraufbau starker exekutiver Kräfte, der Polizei, des Zolls an den Grenzen und vor allem des Militärs, weil nur damit dann auch gegen die anderen bewaffneten Gruppen entsprechend vorgegangen werden kann.
    Büüsker: Libyen rückt jetzt vor allem deshalb in den europäischen Fokus, weil Europa fürchtet, dass Libyen wieder zu einer Hauptroute für Flüchtlinge werden könnte: Zum einen, weil Flüchtlinge wegen der geschlossenen Balkanroute ausweichen, zum anderen auch, weil viele Menschen aus Afrika zu fliehen versuchen. Es gab jetzt ein Statement von Entwicklungsminister Müller, der gesagt hat, in Libyen warten zwischen 100.000 und 200.000 Flüchtlinge darauf, nach Europa zu kommen. Für wie realistisch halten Sie das?
    Dittmann: Das ist eine realistische Gefahr. Es ist auch nichts, was neu erscheinen würde, sondern, das es in der Vergangenheit schon gab. Der kürzeste Weg von den Armenhäusern Subsahara Afrikas durch die Sahara ans Mittelmeer ist der Weg durch Libyen. Das ist ein Faktor, der diese Route quasi vorgibt, und der andere die schon erwähnte Schwäche des libyschen Staates, wo es also keine Zollkontrolle gibt, wo Schlepperleute aus Eritrea, aus Niger, aus Nigeria ins Land bringen können, die dann jetzt sozusagen auf besseres Wetter warten. In der Gegend zwischen Suara, das ist im Nordwesten Libyens, und Tripoli an der Küste warten, um entsprechend übersetzen zu können. Auch das korreliert unmittelbar mit Stärke oder Schwäche des libyschen Staates. Deshalb ist Flüchtlingsstromprävention in Libyen ein Aufbau, eine Stärkung des Staates.
    Ansprechpartner gesucht
    Büüsker: Jetzt haben Sie gesagt, das ist nichts Neues. Hat der Westen dann hier auch zu lange weggesehen?
    Dittmann: Ja, am Anfang hat der Westen heimlich hingesehen. Als Gaddafi noch da war, gab es einen Topf aus Brüssel, der Gaddafi finanziell in die Lage versetzte, hatte den Auftrag, sozusagen als ein Vorhofpolizist für Europa hier Flüchtlingsströme abzufangen, Lager zu errichten, das war den Europäern damals noch - das hat sich mittlerweile geändert -, damals noch peinlich. Das war deshalb lange geheim, aber es gab auf libyschem Territorium zur Gaddafi-Zeit Auffanglager für Flüchtlinge. Man wollte diese schmutzige Geschäft, das jetzt in Südosteuropa vor den Haustüren steht, damals noch gern auf afrikanischem Boden abhandeln. Danach, nach dem Zerfall des Gaddafi-Regimes, sind dann alle Dämme gebrochen und die Flüchtlingsströme in den bekannten Ausmaßen angeschwollen.
    Büüsker: Wenn es damals ein schmutziges Geschäft war, wie wird es dann jetzt werden? Also Steinmeier, der Außenminister von Deutschland, hat ein Stabilitätsfonds angekündigt. Bis 2017 will Deutschland alleine hier zehn Millionen Euro einzahlen. Wer sichert denn tatsächlich, dass in Libyen das auch für gute Dinge eingesetzt wird?
    Dittmann: Das kann man nur durch Controlling, durch Überwachung entsprechend umsetzen, aber es ist in der Tat der einzige Weg. Also Libyen weiterhin sich selbst zu überlassen, wie es seit dem Sturz Gaddafis war, das hat zu dem Chaos geführt, das jetzt da ist. Das liegt in Zerfallnis, das ist sozusagen ein Sprungbrett par excellence für Flüchtlinge nach Europa, und nur mit einer libyschen Regierung zusammen, mit der Betonung auf einer libyschen Regierung, das jetzt diese neue Einheitsregierung ist, kann es gelingen. Also Stärkung des Staates, und dann kann der Staat auch entsprechend als Verhandlungspartner überhaupt erst infrage kommen. Es gibt verschiedene Projekte, was man dann umsetzen könnte von der Ausbildung des Militärs, über Ausbildung der Polizei bis zum direkten Vorgehen in libyschen Hoheitsgewässern gegen Schlepper. All das setzt voraus, dass es einen Ansprechpartner auf der libyschen Seite gibt. Eine Regierung, die dann die entsprechenden Maßnahmen koordiniert oder dazu auch auffordert.
    Büüsker: Sagt Andreas Dittmann, er ist Professor an der Universität Gießen, heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Herr Dittmann, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch!
    Dittmann: Gern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.