Es kann einem fast schwindelig werden in dieser Schau, die Werke aus der vielleicht entlegensten und unbekanntesten Kunstregion der Welt zeigt. Lila, Magenta, Gelb, Orange, Grün, Türkis, Rosa, Rot – so farbprächtig drehen sich die Kreise und winden sich die Linien auf den Bildern.
Willkommen in den Ngaanyatjarra Lands.
Farben aus der Wüste
"All die Farben, die Sie in der Ausstellung sehen, die finden Sie in der Wüste. Wüste ist nicht nur roter Sand in Australien, sondern je nach Tages- und Jahreszeit finden Sie all diese Farben in der Vegetation. Gerade diese lila-magenta Töne sind die typischen Töne, die abends kurz vor Sonnenuntergang die Erde erleuchten lassen, wenn die sehr eisenhaltig ist."
Galeristin und Kuratorin Robyn Kelch steht vor einem leuchtenden Gemälde, daneben hängt eine Australien-Karte. Sie zeigt auf ein kleines Gebiet im Mittleren Westen des Landes: Hier leben knapp 2000 Ngaanyatjarra, Aborigines, in einem Gebiet, das halb so groß ist wie Deutschland. Gleich fünf Kunstzentren gibt es hier, denn Malen gehört für die Ureinwohner zum Alltag:
"Die Aboriginal Art ist die Kunst mit der weltweit längsten Tradition. Dieses Volk malt seit über 40.000 Jahren nachweislich. Ursprünglich nicht auf Leinwänden, sondern im Sand, auf Körpern und Fels. Deswegen haben wir in der Ausstellung bewusst einige Werke liegend präsentiert, um an die Perspektive zu erinnern, die man hat, wenn man im Sand malt, nämlich die Vogelperspektive."
Durch ihre Malerei erzählen die Ureinwohner Geschichten, geben Bräuche weiter und huldigen ihren Ahnen.
Gemälde erzählen Schöpfungsgeschichten
Was auf den ersten Blick abstrakt und zufällig erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ganz spezielle Ikonografie. Fast alle Gemälde erzählen Schöpfungsgeschichten und zeigen die Landschaften, in denen sich diese manifestieren. Die Bilder sind wie topografische Karten zu lesen.
"Kreise stehen in der Wüstenkunst immer für Wasserlöcher. U-Formen stehen für Menschen – das ist der Gesäßabdruck von jemandem, wenn er aus dem Sand aufsteht. Und die Aborigines glauben, dass sie direkte Nachfahren der Schöpferahnen sind. Das heißt, wenn irgendwo eine Felsgruppe ist, ist das nicht einfach eine Felsgruppe, sondern vielleicht der Ur-ur-ur-ur-Opa, der mit seiner Familie erfroren ist oder das Gesetz gebrochen hat und vom Blitz erschlagen wurde."
Zwei Beispiele aus der Ausstellung: Anmanaria Brown und Angilyiya Mitchell illustrieren die Geschichte der "Sieben Schwestern", die vor einem Verfolger in den Himmel flohen und sich heute im Sternbild der Plejaden widerspiegelt. Carol Golding malt den "Jungen, der sich in Wind verwandelt" und dessen Spuren noch heute am Walu-Felsloch in der Region zu finden sind.
Intuitive Bildsprache
Eine rohe, archaische Kraft bergen jene Gemälde der indigenen Künstler im letzten Lebensabschnitt, die in ihrer Kultur einen besonderen Status genießen. Künstlerstars im hohen Alter wie Neville Mcarthur bestechen mit ihrer intuitiven Bildsprache:
"In Australien wird das derzeit gefeiert, in Deutschland ist das noch ein Tabu-Thema. Dabei gibt es auch in der westlichen Kunst viele Künstler, die mit Krankheit im Alter gearbeitet haben, wie Willem de Kooning, der mit Alzheimer gemalt hat, oder Otto Dix, nach einem Schlaganfall."
In Australien sind die Ngaanyatjarra und ihre Werke mittlerweile ein fester Teil der Kunstszene. Prämierte Künstler wie Eunice Porter, Esther und Nyarapayi Giles oder Bob Gibson verdienen mit Kunst ihren Lebensunterhalt. Ihre Bilder hängen in den großen Museen von Melbourne, Sydney oder Canberra und schmücken deren Sammlung. Allmählich finden sie auch in den USA, Großbritannien und Deutschland mehr Verbreitung. Eine umfassende Ausstellung, wie jetzt in München (mit 51 Werken), ist außerhalb Australiens aber nach wie vor die Ausnahme.
Dabei eröffnet dieser Blick auf eine fremde Kultur und deren Kunst ganz neue Perspektiven – thematisch wie ästhetisch. Malen als Lebenselixier, als grundlegendste menschliche Ausdrucksform. Das trifft einen mit ganzer Wucht.