Im Foyer der Alten Oper Frankfurt. An Garderoben und Treppenaufgängen bilden sich lange Schlangen. Gleich beginnt einer von insgesamt zehn Workshops zur Methode von Marina Abramovic "Anders hören". Der Name der großen Performance-Künstlerin lockt. Die Erwartung ist groß.
"Ich kenn die Arbeit schon sehr lange und schätze sie auch sehr. Dass sie auch Grenzüberschreitungen macht, auch gerade in der Performance." - "Ich war mit meiner Freundin Sonja in Bonn gewesen in der Ausstellung von der Abramovic und bin seitdem ein bisschen angefixt von dieser Frau." - "Ich möchte mich verbinden mit der Musik, ich möchte mich verbinden mit mir selber und auch mit den Gedanken, die Marina hat über ihre Arbeit. Sie hat ja auch viel mit den Aborigines gelebt und ich finde es total spannend, sich in einen Zustand zu versetzen, wo man tatsächlich auch sich nicht nur im Alltag befindet, sondern sich aufmacht für Neues."
Ohne Handys, Uhren und Gespräche
Bevor es los geht, werden Schritt für Schritt die üblichen Kommunikationskanäle mit der Außenwelt gekappt. Handys und Uhren sind an der Garderobe abzugeben. Das Mitbringen von Speisen und Getränken ist nicht erlaubt. Helfer in schwarzer Kleidung weisen die Besucher freundlich an, ab jetzt zu schweigen.
Bevor es in den großen Saal geht, verteilen schwarz gekleidete Helfer geräuschschluckende Kopfhörer. Bei der Abramovic-Methode des Hörens höre ich also erstmal: nichts. Eine Helferin nimmt mich an die Hand, führt mich langsam in den Konzertsaal. Keine Sitzreihen, keine Bühne, stattdessen 300 Menschen, die sich im Wahrnehmen üben.
Langsames Gehen, auf kleinen Podesten mit verbundenen Augen stehen, Reis zählen, fremden Menschen gegenübersitzend in die Augen schauen. Einfache, reduzierte Übungen, wie man sie aus Performances von Marina Abramovic kennt, die mir aber auch aus der Meditation oder der Theaterarbeit vertraut sind. Alle Teilnehmer wählen eigenständig, wie lange sie was tun wollen.
Gefährlich wird es im Konzertsaal der Alten Oper Frankfurt für niemanden. Keine Rasierklingen, keine Peitschen, keine Messer, mit denen sich Marina Abramovic in ihren eigenen Performances bis an den Rand der Selbstzerstörung ihrem Gegenüber ausgeliefert oder gegeißelt hat. Hier geht es allein darum, sich in Konzentration zu üben. Was schwer genug ist.
Übungen für die Konzentration
Die Beziehung von Körper und Geist spielten eine große Rolle, sagt Marina Abramovic, die Beziehung zum Publikum, die Energie in einem Raum. Es gehe ihr um die innere Bereitschaft etwas wahrzunehmen, sich von etwas oder jemandem berühren und sich dabei nicht ablenken zu lassen. Vor allem nicht vom Blick aufs Handy. Für die meisten Besucher klassischer Konzerte eigentlich selbstverständlich, ist meine Erfahrung.
Meine zwei aufeinander folgenden, im Ablauf identischen Workshops gehen zu Ende. Nach insgesamt sieben Stunden gehen, stehen, schauen, spüren, bin ich erschöpft. Auch wenn insgesamt die Atmosphäre im Saal trotz der vielen Teilnehmer erstaunlich konzentriert war. Am meisten berührt haben mich Begegnungen mit fremden Menschen, denen ich mehrere Minuten schweigend gegenübergesessen und in die Augen geschaut habe. Anderen Teilnehmern ging es ähnlich.
"Egal was man gemacht hat, es ist intensiv. Auch wenn man jemanden betrachtet hat nur in die Augen, es ist intensiv. Das kostet Kraft, jemandem 10 Minuten in die Pupille reinzuschauen." - "Dem Blick standzuhalten. Ja dem Blick standzuhalten und dann erwartet man, was aus den Augen zurückkommt, Wärme oder so, aber manchmal bekommt man das nicht."
Zwei Tage später in der Alten Oper. Die Erfahrungen aus den Workshops liegen schon wieder weit zurück, überlagert vom Alltag. Rund 2.000 Teilnehmer warten auf Einlass in den großen Saal, wo uns ein fünfstündiges Konzert erwartet. Was die Musiker spielten, sei ihnen überlassen, hat Marina Abramovic im Vorfeld verlauten lassen. Entscheidend sei aber weniger, was sie spielten als "das Charisma der Musiker. Sie müssten an das glauben, was sie tun – und alles hineinlegen". Auch das aus meiner eigenen Konzerterfahrung eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Grand Dame der Performancekunst
Der große Saal ist diesmal zur Hälfte bestuhlt, auf den freien Flächen liegen Kissen verteilt. Die Konzertbühne besteht aus einem kleinen flachen Podest. Der angekündigte Auftritt von Marina Abramovic ist kurz, aber wirkungsvoll inszeniert. Die schwarz gekleideten Helfer aus den Workshops gruppieren sich im Halbkreis um das kleine Podest. Dann betritt Abramovic den Raum. Die Grand Dame der Performancekunst.
Nach einer gemeinsamen Übung beginnt das eigentliche Konzert mit der Geigerin Caroline Widmann. Einige Minuten dauert ihre intensive Meditation über Bach bis Ysaye, dann übernimmt eine Pipa-Spielerin mit einer Improvisation auf der chinesischen Laute. Nahtlos geht es weiter mit Orgelmusik, einer Akkordeon-Improvisation. Ein armenischer Oboist bewegt sich mit seiner Improvisation zwischen den stehenden, sitzenden oder liegenden Besuchern durch den Raum. Danach spielt Pianist Fazil Say einen Satz aus einer Beethoven-Sonate, das Aris Quartett schließt an mit Musik von Haydn, dann hört man einen Sitar-Spieler.
Der Musik entkommt man nicht
Die Auswahl der Stücke hat Marina Abramovic den einzelnen Musikern überlassen. Ein schlüssiges musikalisches Konzept ist nicht erkennbar. Stattdessen ein fünfstündiger Klangteppich, ohne Unterbrechung. Auf Applaus sollte verzichtet werden, auch wenn sich das Publikum nicht immer daran hält. Nach zweieinhalb Stunden brauche ich eine Pause. Man kann den Saal jederzeit verlassen. Der Musik entkommt man aber nicht. In jeden Gang, in jeden Raum bis in die Toiletten wird das Konzert aus Lautsprechern übertragen.
Das Prinzip der zeitlichen Überdehnung, wie man es aus den Performances von Marina Abramovic kennt, wirkt also auch hier. Nach fünf Stunden Dauerbeschallung bin ich erschöpft, Bach und Beethoven sicher nicht nähergekommen. Der Transfer aus den Workshops von fokussierter Körperwahrnehmung zum neuen Musikerleben ist mir nicht gelungen. Statt im Hier und Jetzt zu sein, sehne ich mich weg. An einen Ort, wo ich nur noch eines höre: Nichts.