Freitagsgebet in der Fatih-Moschee in Bremen. Auf dem roten Teppich unter der mächtigen Kuppel beten an die 300 Männer. Alte, Junge, Geschäftsmänner, ein paar Arbeiter vom nahe gelegenen Stahlwerk, Afrikaner, ein Araber in der Uniform seiner Fluggesellschaft, ein Indonesier der früher einmal an der Bremer Universität studiert hat. Die Fatih Moschee gehört dem Dachverband "Milli Görüs" an. Über diese Organisation schreibt das Bundesamtes für Verfassungsschutz im März 2010 auf seiner Internetseite:
Langfristiges Ziel ist die fundamentale Umgestaltung der Türkei, die Wiederherstellung einer "Großtürkei" und schließlich eine islamische Weltordnung. Diese Sichtweise bedingt die Ablehnung westlicher Demokratien.
Werner Schiffauer, Professor für Kulturanthropologie an der Universität Frankfurt/Oder bestreitet in seinem Buch "Nach dem Islamismus", dass die Einschätzung noch Gültigkeit hat:
"Es werden Positionen festgeschrieben, die seit Jahren überholt sind."
Schiffauer hat eine sehr sorgfältige Studie über Milli Görüs vorgelegt. Die Bewegung wurde vor 50 Jahren von dem Ingenieur, Unternehmer und gläubigen Muslim Necmettin Erbakan in der Türkei gegründet - als muslimische Massenbewegung gegen den herrschenden, am Westen orientierten Laizismus. Eine "gerechte Ordnung" wollte er errichten, das Vorbild war das Osmanische Reich.
Milli Görüs heißt "Nationale Sicht". Passender wäre der Name "Muslimische Sicht" gewesen - der aber war verfassungsrechtlich nicht möglich. Aus der Bewegung entwickelten sich in der Türkei immer wieder Parteien, die aber verboten wurden. Die Anhänger der Milli Görüs waren einfache, konservative Leute vom Land und Bewohner von Istanbuls rasch wachsenden Armenvierteln.
Mit den ersten sogenannten Gastarbeitern kam Milli Görüs auch nach Deutschland. Arbeiter, die sich oft schon aus dem heimatlichen Dorf kannten, bauten Lagerschuppen in deutschen Großstädten zu Gebetsräumen um. Milli Görüs war eine der Organisationen, die Hilfe anboten - sie besorgte den Hodscha und half im Umgang mit deutschen Behörden. Seit 1985 existiert Milli Görus als Verein, ist mit etwa 27.000 Mitgliedern die größte islamische Organisation in Deutschland.
Ihr Gründer Necmettin Erbakan fiel durch aggressive Äußerungen auf: antisemitische Ausfälle oder populistische Reden auf Großveranstaltungen in Deutschland.
Die Jahrestreffen waren eine Show, bei denen kaum zu entscheiden war, ob sie primär Gottesdienste darstellten, Werbeveranstaltungen für eine Holding, politische Agitprop-Feste oder nationale Gedenkveranstaltungen. Kurz: Man hat den Eindruck eines Identitätsfests, bei dem für jeden etwas dabei war.
Schiffauer lässt keinen Zweifel, dass die damals von der Milli Görüs propagierte Gesellschaftsordnung den Verfassungsschutz zu Recht auf den Plan rief.
"Diese Gesellschaftsordnung hatte stark autoritäre Züge, sie wäre demokratieinkompatibel gewesen."
Aber auch bei manchem Teilnehmer weckten die damaligen Spektakel Zweifel. Schiffauer zitiert einen von ihnen:
Ich habe mich geschämt und habe mir gesagt: Hoffentlich sind hier keine Deutschen. Keine westlichen, keine deutschen Journalisten, die das aufnehmen.
Das Zitat stammt aus den ausführlichen Interviews, die Schiffauer mit Repräsentanten von Milli Görüs in Deutschland gemacht hat. Fast zehn Jahre lang hat der Kulturanthropologe die Organisation und einige ihrer heute führenden Mitglieder als Feldforscher begleitet. Er gewann Vertrauen - und tiefe Einblicke.
Sein Hauptaugenmerk galt den - zu Beginn der Untersuchung recht jungen - aufstrebenden Männern der zweiten Generation. Schiffauer nennt sie "Postislamisten". In Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen, waren sie in für die Gründergeneration der Milli Görüs eine Brücke in die deutsche Gesellschaft.
"Womit die Führungsspitze nicht gerechnet hatte, war, dass diese jungen Leute in ihrem Gang durch die Schule ein durchaus differenziertes Deutschland- und Europabild aufbauten. Während die erste Generation von der Polarität von Westen und Islam ständig schwadronierte, sah die zweite Generation die Möglichkeiten, die der Westen bot. Die Kultur, die in der Schule vermittelt wurde, eine Kultur der Auseinandersetzung, der Debatte, des rationalen Arguments, wurde von ihnen aufgegriffen und in die Milli Görüs eingebaut."
Einziger, allerdings keineswegs unbedeutender Mangel von Schiffauers fundierter Untersuchung: Er schreibt fast nur über Männer, er befragt fast nur Männer. Da ist er Opfer seiner Methode geworden: Wer Feldforschung betreibt, begibt sich in engen Kontakt zu den beforschten Personen. Als Mann hat Schiffauer vor allem Zugang zu Männern, zumal in einer Organisation, in der die Geschlechter weitgehend getrennt sind.
Dadurch entgeht dem Forscher allerdings eine wesentliche Entwicklung: Auch wenn Frauen noch nicht ganz oben angekommen sind, hat ihre Bedeutung bei der Milli Görüs in den letzten Jahren deutlich zugenommen.
In Deutschland haben mittlerweile die Postislamisten die Führung bei Milli Görüs übernommen, auch wenn in vielen Gemeinden die verdienten Angehörigen der ersten Generation noch ein gewichtiges Wort zu sagen haben.
Die entscheidende Veränderung besteht bei der postislamistischen Generation in der Abkehr vom politischen Ziel, einen islamischen Staat beziehungsweise eine islamische Gesellschaft zu
errichten.
Die Absage an den islamischen Staat bedeutet für die Milli Görüs aber keine Absage an einen politischen Auftrag der Religion. Der Islam soll auch innerhalb einer säkularen Ordnung seiner öffentlichen Verantwortung gerecht werden.
Die Veränderungen in der Milli Görüs in Deutschland sind seit Jahren deutlich. Wie kann der Verfassungsschutz sie übersehen? Zum einen, sagt Werner Schiffauer, sei der Verfassungsschutz kein monolithischer Block:
"Ich habe den Eindruck, dass ein starker Flügel in den Verfassungsschutzämtern meine Position teilt und diese Aufmerksamkeit und die Geldressourcen, die der Beobachtung von Milli Görüs gewidmet werden, einfach als Vergeudung von Steuergeldern ansieht."
Vor allem aber ist die anhaltende Beobachtung des muslimischen Dachverbandes eine politische Entscheidung.
"Das muss man sich so vorstellen, dass die Informationen aus den Verfassungsschutzämtern die Bürokratien in den Innenministerien hoch laufen und dort, wie man so schön sagt, politisch gewichtet werden."
Nach dem Buch von Werner Schiffauer müssen sich die Verantwortlichen für die anhaltende Beobachtung nun mindestens vorhalten lassen, sie seien uninformiert.
"Nach dem Islamismus. Eine Ethnografie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görus" ist der Titel des neuen Buches von Werner Schiffauer. Es ist heute in der edition suhrkamp erschienen, 391 Seiten für 12 Euro (ISBN: 978-3-518-12570-0 ).
Langfristiges Ziel ist die fundamentale Umgestaltung der Türkei, die Wiederherstellung einer "Großtürkei" und schließlich eine islamische Weltordnung. Diese Sichtweise bedingt die Ablehnung westlicher Demokratien.
Werner Schiffauer, Professor für Kulturanthropologie an der Universität Frankfurt/Oder bestreitet in seinem Buch "Nach dem Islamismus", dass die Einschätzung noch Gültigkeit hat:
"Es werden Positionen festgeschrieben, die seit Jahren überholt sind."
Schiffauer hat eine sehr sorgfältige Studie über Milli Görüs vorgelegt. Die Bewegung wurde vor 50 Jahren von dem Ingenieur, Unternehmer und gläubigen Muslim Necmettin Erbakan in der Türkei gegründet - als muslimische Massenbewegung gegen den herrschenden, am Westen orientierten Laizismus. Eine "gerechte Ordnung" wollte er errichten, das Vorbild war das Osmanische Reich.
Milli Görüs heißt "Nationale Sicht". Passender wäre der Name "Muslimische Sicht" gewesen - der aber war verfassungsrechtlich nicht möglich. Aus der Bewegung entwickelten sich in der Türkei immer wieder Parteien, die aber verboten wurden. Die Anhänger der Milli Görüs waren einfache, konservative Leute vom Land und Bewohner von Istanbuls rasch wachsenden Armenvierteln.
Mit den ersten sogenannten Gastarbeitern kam Milli Görüs auch nach Deutschland. Arbeiter, die sich oft schon aus dem heimatlichen Dorf kannten, bauten Lagerschuppen in deutschen Großstädten zu Gebetsräumen um. Milli Görüs war eine der Organisationen, die Hilfe anboten - sie besorgte den Hodscha und half im Umgang mit deutschen Behörden. Seit 1985 existiert Milli Görus als Verein, ist mit etwa 27.000 Mitgliedern die größte islamische Organisation in Deutschland.
Ihr Gründer Necmettin Erbakan fiel durch aggressive Äußerungen auf: antisemitische Ausfälle oder populistische Reden auf Großveranstaltungen in Deutschland.
Die Jahrestreffen waren eine Show, bei denen kaum zu entscheiden war, ob sie primär Gottesdienste darstellten, Werbeveranstaltungen für eine Holding, politische Agitprop-Feste oder nationale Gedenkveranstaltungen. Kurz: Man hat den Eindruck eines Identitätsfests, bei dem für jeden etwas dabei war.
Schiffauer lässt keinen Zweifel, dass die damals von der Milli Görüs propagierte Gesellschaftsordnung den Verfassungsschutz zu Recht auf den Plan rief.
"Diese Gesellschaftsordnung hatte stark autoritäre Züge, sie wäre demokratieinkompatibel gewesen."
Aber auch bei manchem Teilnehmer weckten die damaligen Spektakel Zweifel. Schiffauer zitiert einen von ihnen:
Ich habe mich geschämt und habe mir gesagt: Hoffentlich sind hier keine Deutschen. Keine westlichen, keine deutschen Journalisten, die das aufnehmen.
Das Zitat stammt aus den ausführlichen Interviews, die Schiffauer mit Repräsentanten von Milli Görüs in Deutschland gemacht hat. Fast zehn Jahre lang hat der Kulturanthropologe die Organisation und einige ihrer heute führenden Mitglieder als Feldforscher begleitet. Er gewann Vertrauen - und tiefe Einblicke.
Sein Hauptaugenmerk galt den - zu Beginn der Untersuchung recht jungen - aufstrebenden Männern der zweiten Generation. Schiffauer nennt sie "Postislamisten". In Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen, waren sie in für die Gründergeneration der Milli Görüs eine Brücke in die deutsche Gesellschaft.
"Womit die Führungsspitze nicht gerechnet hatte, war, dass diese jungen Leute in ihrem Gang durch die Schule ein durchaus differenziertes Deutschland- und Europabild aufbauten. Während die erste Generation von der Polarität von Westen und Islam ständig schwadronierte, sah die zweite Generation die Möglichkeiten, die der Westen bot. Die Kultur, die in der Schule vermittelt wurde, eine Kultur der Auseinandersetzung, der Debatte, des rationalen Arguments, wurde von ihnen aufgegriffen und in die Milli Görüs eingebaut."
Einziger, allerdings keineswegs unbedeutender Mangel von Schiffauers fundierter Untersuchung: Er schreibt fast nur über Männer, er befragt fast nur Männer. Da ist er Opfer seiner Methode geworden: Wer Feldforschung betreibt, begibt sich in engen Kontakt zu den beforschten Personen. Als Mann hat Schiffauer vor allem Zugang zu Männern, zumal in einer Organisation, in der die Geschlechter weitgehend getrennt sind.
Dadurch entgeht dem Forscher allerdings eine wesentliche Entwicklung: Auch wenn Frauen noch nicht ganz oben angekommen sind, hat ihre Bedeutung bei der Milli Görüs in den letzten Jahren deutlich zugenommen.
In Deutschland haben mittlerweile die Postislamisten die Führung bei Milli Görüs übernommen, auch wenn in vielen Gemeinden die verdienten Angehörigen der ersten Generation noch ein gewichtiges Wort zu sagen haben.
Die entscheidende Veränderung besteht bei der postislamistischen Generation in der Abkehr vom politischen Ziel, einen islamischen Staat beziehungsweise eine islamische Gesellschaft zu
errichten.
Die Absage an den islamischen Staat bedeutet für die Milli Görüs aber keine Absage an einen politischen Auftrag der Religion. Der Islam soll auch innerhalb einer säkularen Ordnung seiner öffentlichen Verantwortung gerecht werden.
Die Veränderungen in der Milli Görüs in Deutschland sind seit Jahren deutlich. Wie kann der Verfassungsschutz sie übersehen? Zum einen, sagt Werner Schiffauer, sei der Verfassungsschutz kein monolithischer Block:
"Ich habe den Eindruck, dass ein starker Flügel in den Verfassungsschutzämtern meine Position teilt und diese Aufmerksamkeit und die Geldressourcen, die der Beobachtung von Milli Görüs gewidmet werden, einfach als Vergeudung von Steuergeldern ansieht."
Vor allem aber ist die anhaltende Beobachtung des muslimischen Dachverbandes eine politische Entscheidung.
"Das muss man sich so vorstellen, dass die Informationen aus den Verfassungsschutzämtern die Bürokratien in den Innenministerien hoch laufen und dort, wie man so schön sagt, politisch gewichtet werden."
Nach dem Buch von Werner Schiffauer müssen sich die Verantwortlichen für die anhaltende Beobachtung nun mindestens vorhalten lassen, sie seien uninformiert.
"Nach dem Islamismus. Eine Ethnografie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görus" ist der Titel des neuen Buches von Werner Schiffauer. Es ist heute in der edition suhrkamp erschienen, 391 Seiten für 12 Euro (ISBN: 978-3-518-12570-0 ).