Archiv

Abschiebungen nach Afghanistan
"Ich kann nicht von einem sicheren Land sprechen"

Nach dem Wegfall der sogenannten "Hamburger Senatoren-Regelung" fürchten viele afghanische Flüchtlinge die Abschiebung in ihr Heimatland. Die Realität deute darauf hin, dass dort enorme Gefahr für Leib und Leben bestehe, sagte Rangin Dadfar Spanta, ehemaliger Außenminister Afghanistans, im DLF. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei eine Rückkehr in eine ungewisse Zukunft.

Dr. Rangin Dadfar Spanta im Gespräch mit Axel Schröder |
    Der Aussenminister der Islamischen Republik Afghanistans Rangin Dadfar Spanta spricht am 29.04.2009 in der Afghanischen Hauptstadt Kabul zu Journalisten.
    Rangin Dadfar Spanta, ehemaliger Außenminister Afghanistans (dpa/picture alliance/Marcel Mettelsiefen)
    Dr. Rangin Dadfar Spanta war zwischen 2006 und 2010 Außenminister Afghanistans. Danach, bis 2014, Nationaler Sicherheitsberater von Afghanistans Ex-Präsident Hamid Karzai und Geheimdienstchef. Heute gehört er zur Opposition im afghanischen Parlament. Spanta hat Anfang der Neunzigerjahre, nach seinem Leben im türkischen Exil, Politikwissenschaften in Aachen studiert und ist Mitglied von Bündnis 90/ Die Grünen. Er lebt in Kabul.
    Axel Schröder: Wie beurteilen Sie die Entscheidung der deutschen Innenministerkonferenz vom Dezember 2015, Flüchtlinge aus Afghanistan wieder in ihr Herkunftsland abzuschieben? Lässt das die Sicherheitslage im Land tatsächlich zu?
    Rangin Dadfar Spanta: Wir müssen bei der Beurteilung der Lage in Afghanistan sehr vorsichtig sein! Es gibt natürlich große Städte wie Kabul, Herat, Masar-i-Sharif im Norden, in denen kein normales, aber ein halbwegs normales Leben möglich ist. Aber in anderen Gegenden, vor allem in ländlichen Gebieten, verschlechtert sich die Sicherheitslage von Tag zu Tag. Deshalb kann ich bedauerlicherweise nicht von einem sicheren Land sprechen.
    Schröder: Mit welchen Gefahren müssen die Menschen in diesen Gegenden leben?
    Spanta: Die terroristischen Übergriffe in Form von Selbstmordattentaten oder Minenexplosionen in den südlichen, zum Teil auch den nördlichen Gebieten wie Kundus oder in Helmand im Süden und auch durch bewaffnete Konfrontationen beeinträchtigen das Leben der Zivilbevölkerung. Es geht nicht um politische Verfolgung durch die Regierung. Aber die Taliban bestrafen ihre Gegner auf bestialische Art und Weise. Sie bestrafen die Menschen, die in und mit der Regierung arbeiten. Und auch die, die in den Sicherheitskräften oder in der Bürokratie arbeiten. Sogar ihre Familienmitglieder.
    "Die Leute leben in Angst und Schrecken wegen der Explosionen"
    Schröder: Sind die Menschen, die aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben werden, besonders gefährdet?
    Spanta: Das Abschieben stellt aus meiner Sicht keine zusätzliche Gefährdung für die Betroffenen dar. Aber es gibt diese schreckliche Wahrnehmung in Städten wie Kabul, in denen es keine unmittelbare Gefährdung gibt. Aber die Leute nehmen das anders wahr und leben in Angst und Schrecken wegen der Explosionen. Die gibt es ab und zu. Oder Selbstmordattentate. Und durch den Abzug der internationalen Streitkräfte aus Afghanistan und eine falsche Politik unserer Regierung hat sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verschlechtert. Die Beschäftigung hat enorm abgenommen. Diese Perspektivlosigkeit, die reale Bedrohung und die Wahrnehmung der Bedrohung - all das verursacht diese Massenflucht nach Europa und die benachbarten Staaten.
    Schröder: Auf den Internetseiten des Auswärtigen Amtes wird von Reisen nach Afghanistan abgeraten. Trotzdem haben die Innenminister aus dem Bund und aus den Ländern entschieden: Flüchtlinge aus Afghanistan können in einige Distrikte dieses krisengeschüttelten Landes abgeschoben werden. Wieso werden hier – für deutsche Bürger einerseits und Flüchtlinge aus Afghanistan andererseits – unterschiedliche Gefährdungslagen angenommen?
    Spanta: Das liegt am Aussehen, der Haarfarbe, etc. Vor allem Staatsbürger aus Europa sind sehr, sehr deutlich erkennbar. Die stellen ein direktes Ziel dar. Nicht nur für die Taliban, auch für kriminelle Banden, die Erpressungen und Entführungen organisieren. Natürlich ist das eine zusätzliche Gefährdung! Aber ganz Afghanistan als ein sicheres Land zu beschreiben, da habe ich, ehrlich gesagt, meine Zweifel. Die Realität deutet darauf hin, dass hier enorme Gefahr für Leib und Leben der Bevölkerung da ist. Vor allem in Städten wie Kundus, Helmand und anderen.
    "2016 wird das gefährlichste Jahr für Afghanistan"
    Schröder: Werden denn die Landesteile, die heute als einigermaßen sicher eingestuft werden, noch sicher bleiben, wenn die internationalen Truppen abziehen?
    Spanta: Nach Einschätzungen der Geheimdienste, des US-Geheimdienstes, dem der Bundesrepublik und dem Afghanistans - auch nach meinen eigenen Beobachtungen und Erfahrungen als Nationaler Sicherheitsberater und als Außenminister Afghanistans - kann ich sagen, dass das Jahr 2016, im Vergleich zu den letzten 14 Jahren, das gefährlichste Jahr für Afghanistan werden wird!
    Schröder: Woran liegt das?
    Spanta: Da ist zum einen die so genannte Transition: seit 2012 haben wir damit angefangen, die Zuständigkeit für die Sicherheit auf die afghanischen Behörden zu übertragen. Das wurde bis Ende 2014 realisiert. Aber auch damals, in meiner Funktion als Teil der Verhandlungsdelegation aus Afghanistan, habe ich unsere Partner davor gewarnt, dass diese Übertragung der Verantwortlichkeiten am Ende zu Machtlosigkeit führen wird. Weil die Sicherheits- und Verteidigungsorgane nicht adäquat vorbereitet wurden! Afghanistan verfügt über keine Luftwaffe, Afghanistan verfügt nicht über schwere Artillerie. Und die Mobilität der Sicherheitsorgane hat nachgelassen. Die Einmischungen von Außen, vor allem von Seiten Pakistans haben nicht ab, sondern zugenommen. Und das Engagement der internationalen Gemeinschaft hat in Afghanistan sowohl zivil als auch militärisch enorm abgenommen. Und das alles bei einer schwachen Regierung in Kabul, die mit sich selbst beschäftigt ist. Mit Konkurrenzkämpfen. Das hat dazu geführt, dass die Taliban sich jetzt mehr Erfolg versprechen können. Ihre Frühlingsoffensive haben sie schon angekündigt! Und wir werden in den kommenden Tagen leider Zeuge von mehr bewaffneten Aktivitäten sein.
    Rückkehr in einer ungewisse Zukunft
    Schröder: Kennen Sie Menschen, die aus Afghanistan nach Deutschland geflohen sind und dann wieder zurückgekehrt sind?
    Spanta: Ja. Ich kenne einige Leute, vor allem Familien und teilweise auch junge Leute, die die Situation in den Flüchtlingsheimen nicht ertragen. Die fühlten sich enorm isoliert. Und bedroht von Rechtsextremisten. Aber diese zurückgekehrten Leute, aus Städten wie Kabul, Herat oder Masar-i-Sharif, haben ihre Verwandten oder eigene Häuser. Die anderen Leute, die ihr Hab und Gut verkauft haben an Schmugglerbanden – das ist eine sehr komplizierte Sache. Eine Rückkehr nach Afghanistan bedeutet für diese Leute: eine Rückkehr in eine ungewisse Zukunft.
    Das Interview führte Axel Schröder, Landeskorrespondent des Deutschlandfunks in Hamburg, im Zuge seiner Recherche zum Wegfall der sogenannten "Hamburger Senatoren-Regelung". Bislang schützte diese Regelung Flüchtlinge aus Afghanistan vor einer Abschiebung in ihr Heimatland.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.