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Abschiebungen nach Afghanistan
"Kabul und andere größere Städte sind weitgehend sicher"

Unions-Fraktionsvize Thorsten Frei hält Abschiebungen von Straftätern und Gefährdern nach Afghanistan nach wie vor für vertretbar. Es bestehe nicht grundsätzlich eine Gefahr für Leib und Leben, sagte er im Dlf. Die Lage werde permanent vor Ort evaluiert und man müsse jeden Einzelfall prüfen.

Thorsten Frei im Gespräch mit Sandra Schulz |
Thorsten Frei (CDU) während der 222. Sitzung des Deutschen Bundestags am 16.04.2021 in Berlin.
Thorsten Frei (CDU) hat weitere Abschiebungen nach Afghanistan verteidigt (imago / Christian Spicker)
Nach dem Abzug der internationalen Truppen in Afghanistan sind die Taliban auf dem Vormarsch. Sind Abschiebungen nach Afghanistan noch zu verantworten, angesichts der sich immer weiter verschlechternden Sicherheitslage in dem Land? Diese Frage sorgt für Diskussion.
Ein genereller Abschiebestopp für Menschen aus Afghanistan kommt für die Bundesregierung derzeit nicht infrage. Ein ursprünglich für Dienstagabend (03.08.21) geplanter Abschiebeflug von München nach Kabul wurde aufgrund von Sicherheitsbedenken kurzfristig abgesagt. Nach Willen des Ministeriums soll der Flug bald nachgeholt werden.

Frei: Insbesondere große Städte sind sicher

Auch Thorsten Frei, stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, verteidigte im Dlf-Interview weitere Abschiebungen nach Afghanistan. "Grundsätzlich davon auszugehen, dass die Situation so ist, dass Leib und Leben gefährdet wären, ist meines Erachtens mit der Sicherheitslage in Afghanistan nicht vereinbar. Es ist tatsächlich nicht so", sagte der CDU-Politiker im Dlf. Frei betonte, dass insbesondere die großen Städte wie beispielsweise Kabul - jedenfalls für afghanische Verhältnisse - sicher seien.

Jeder Mensch hat Menschenrechte

"Die Bundesregierung prüft, wo Abschiebungen möglich und angezeigt sind", sagte Thorsten Frei. Dass das auch von Gerichten überprüft werde, sei eine Stärke des Rechtsstaates. Jeder Mensch habe Menschenrechte. Inwieweit Abschiebungen möglich sind, müsse man deswegen "letztlich im Einzelfall prüfen", sagte der CDU-Politiker Frei. Auch in Abstimmung mit der afghanischen Regierung.
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Nach Angaben von Frei sind in den vergangenen fünf Jahren nur etwa 1.000 Menschen nach Afghanistan abgeschoben worden. Dabei habe es sich um Terrorgefährder und Straftäter gehandelt. Insgesamt gebe es hierzulande derzeit 30.000 ausreisepflichtige Afghanen.

Das Interview im Wortlaut:
Sandra Schulz: Welche Orte, welche Regionen in Afghanistan würden Sie im Moment als sicher bezeichnen?
Thorsten Frei: Ich glaube, man muss zum einen differenzieren. Es geht um bestimmte Regionen in Afghanistan, zum anderen aber auch um bestimmte Bevölkerungsgruppen, die sicher beziehungsweise unsicher sind. Was die Regionen anbelangt, kann man sicherlich sagen, dass insbesondere die größeren Städte weitestgehend sicher sind, jedenfalls für afghanische Verhältnisse. Wir haben bis auf Lashkar Gar, die Hauptstadt der Provinz Helmand, im Prinzip keine Provinzhauptstadt, die von den Taliban bisher unter Kontrolle gebracht werden konnte. Wir sehen beispielsweise im Westen des Landes, in Herat, in den Außenbezirken umkämpfte Situationen. Aber insbesondere Kabul und auch andere größere Städte sind grundsätzlich immer im afghanischen Maßstab sicher. Das kann man sicherlich sagen.
Zum anderen ist es auch so, dass es auf die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ankommt. Während die schiitischen Hazara sicherlich in einem Großteil des Landes nicht sicher leben können, dürfte für andere Volksgruppen das Leben weitestgehend sicher sein.
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Schulz: Lassen Sie mich das genauer nachfragen, wenn Sie sprechen über afghanische Verhältnisse. Der Abschiebeflug, der für Dienstag geplant war, der musste ja nun wegen eines Anschlags gestoppt werden. Es hat im ersten Halbjahr des Jahres 2021 nach aktuellen Zahlen der Vereinten Nationen so viele Tote und Verletzte gegeben wie in den letzten Jahren nicht mehr. 5.000 Zivilisten wurden verwundet und getötet. Das ist sicher?
Frei: Das ist mit Sicherheit für unsere Verhältnisse nicht sicher. Sie werden aber viele andere Länder auf der Erde finden, wo es bestimmte Bereiche oder Städte gibt, wo Sie mit ähnlich hohen Gefährdungen zu leben haben. Insofern ist es natürlich ein schwieriges Land und nicht umsonst waren in den letzten 20 Jahren internationale Truppen in Afghanistan präsent, insbesondere auch, um dort die nationalen Sicherheitskräfte zu stärken und zu unterstützen. Das ist bisher ja auch ganz gut gelungen. Die etwa 300.000 Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte versuchen nach Kräften, für Sicherheit im Land zu sorgen. Dass das nicht überall gleichermaßen gelingt und dass es Bereiche gibt, Provinzen und auch Distrikte, wo wir eine sehr, sehr schlechte Sicherheitslage haben, das ist vollkommen klar. Deswegen ist es ja auch richtig, dass das Auswärtige Amt die Lage vor Ort permanent evaluiert, untersucht und wir Entscheidungen über Abschiebungen erstens regelmäßig anpassen und zweitens natürlich im engen Kontakt mit der afghanischen Regierung auch schauen, wo es tatsächlich möglich ist und wo nicht.

"Letzten fünf Jahren etwa 1.000 Männer abgeschoben"

Schulz: Herr Frei, so wie Sie die Lage schildern: Ist das wirklich realistisch, frage ich Sie, angesichts des Vormarsches der Taliban? Der scheint ja kaum zu stoppen zu sein. Schon Mitte Juli war die Hälfte der Regierungsbezirke in der Hand der Taliban. Die marschieren auch in Gebiete vor, bei denen man es vorher überhaupt nicht gedacht hat. Wo wäre bei Ihnen der Punkt erreicht, an dem Sie sagen würden, jetzt ist es wirklich aus Perspektive der Menschenrechte nicht mehr zu verantworten?
Frei: Zunächst einmal muss man sagen, dass wir ja kaum nach Afghanistan abschieben. Wir haben in Deutschland etwa 280.000 Afghanen, von denen etwa 30.000 vollziehbar ausreisepflichtig sind, und wir haben in den letzten fünf Jahren insgesamt etwa 1.000 Männer abgeschoben, die entweder Terrorgefährder oder Straftäter waren. Da muss man sagen, dass wir mit Sicherheit noch nicht an dem Punkt sind, wo man sagen kann, dass diejenigen, die durch schwerste Straftaten auch ein Unsicherheitsfaktor hier bei uns in Deutschland sind, grundsätzlich nicht nach Afghanistan abgeschoben werden können.
Schulz: Wo ist der Punkt für Sie, Herr Frei? Müssen dafür die Taliban ganz Afghanistan kontrollieren?
Frei: Nein, das ist sicherlich nicht der Fall. Das würde dann auch nicht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entsprechen. Man muss schon das ganze Land betrachten und dort muss es insbesondere auch die Möglichkeit der Fortbewegungsfreiheit geben, jedenfalls der eingeschränkten. Das haben wir momentan, aber das wäre sicherlich schon der Fall oder wäre nicht mehr der Fall, bevor die Taliban das gesamte Land unter Kontrolle hätten. Das versuchen wir aber nach Kräften zu verhindern und dabei natürlich auch die afghanische Regierung zu unterstützen.

Abschiebungen: "Bundesregierung prüft intensiv"

Schulz: Diese vergleichsweise niedrige Zahl von Abschiebungen nach Afghanistan, die hängt auch damit zusammen, dass drei Viertel der geplanten Abschiebungen gerichtlich gestoppt werden. Machen da Gerichte aus Rechtsstaatsperspektive die Arbeit, die eigentlich die Politik machen müsste?
Frei: Nein, das sehe ich nicht so, sondern es macht jeder seine jeweilige Arbeit. Auch die Bundesregierung prüft natürlich intensiv, wo Abschiebungen möglich und angezeigt sind. Und dass sie dann in der Regel auch von Gerichten überprüft werden, ist keine Schwäche des Rechtsstaates, sondern eine Stärke des Rechtsstaates.
Schulz: Ich habe jetzt verstanden, dass für Sie das Argument, das wir ja auch von Ihrem Parteichef und von Ihrem Kanzlerkandidaten Armin Laschet gehört haben, ganz wichtig ist, dass Straftäter und Terrorgefährder ihr Aufenthaltsrecht verlieren können müssen, wenn die entsprechenden Taten vorliegen. Aber juristisch muss man es trotzdem noch trennen. Es kann juristisch trotzdem noch ein sogenanntes Abschiebehindernis geben, Gründe, warum jemand, der eigentlich das Land verlassen muss, trotzdem nicht abgeschoben werden kann. Wir sind da jetzt im Kernbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention, auch des Grundgesetzes. Wir sprechen über das Recht auf Leben, wir sprechen über das Recht auf körperliche Unversehrtheit, wir sprechen über den Schutz vor Folter. – Bei aller Antipathie gegenüber Straftätern und Terrorgefährdern – kann man ihnen diese Menschenrechte absprechen?
Frei: Menschenrechte hat jeder Mensch. Das ist unzweifelhaft so. Deswegen muss man das letztlich im Einzelfall prüfen. Am vergangenen Dienstag sind in Abstimmung mit der afghanischen Regierung gerade einmal sechs Straftäter im Flugzeug in Richtung Kabul gesessen, das dann letztlich nicht abheben konnte. Das heißt, es wird im Einzelfall auch in Abstimmung mit der afghanischen Regierung in Kabul geprüft, inwieweit Rückführungen möglich sind und inwieweit es auch möglich ist, dafür zu sorgen, dass es zu solchen Menschenrechtsgefährdungen an Leib und Leben nicht kommt. Aber ich will es einfach noch mal ausdrücklich sagen: Grundsätzlich davon auszugehen, dass die Situation so ist, dass Leib und Leben gefährdet wären, ist meines Erachtens mit der Sicherheitslage in Afghanistan nicht vereinbar. Es ist tatsächlich nicht so. Wenn Sie unter diesen Voraussetzungen sagen, dass grundsätzlich niemand mehr nach Afghanistan abgeschoben wird, so wie wir es beispielsweise lange Zeit bei Syrien hatten, dann ist das natürlich nicht nur eine Einladung für die etwa 30.000 Menschen, die wöchentlich Afghanistan verlassen, auf schnellstem Weg nach Deutschland zu kommen, sondern das ist vor allen Dingen auch eine Einladung an kriminelle Schlepperbanden, die Menschen auf diesen unsicheren und langen Weg zu schicken.
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"Haben derzeit sehr hohe Zahl an Migranten aus Afghanistan"

Schulz: Warum ist das eine Einladung? Es hat ja eine ganze Reihe von Staaten gegeben, die sogar auf Bitte der afghanischen Regierung ihrerseits auf Abschiebungen verzichtet haben. Haben die auch Einladungen ausgesprochen?
Frei: Ich glaube jedenfalls, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt. Wir haben derzeit eine sehr, sehr hohe Zahl an Migranten aus Afghanistan. Wir haben etwa die zweitgrößte Migrantengruppe, die derzeit aus Afghanistan kommt, die bei uns eine Schutzquote von 37,5 Prozent erreicht. Sie haben vorher in Ihrer Anmerkung ganz zutreffend gesagt, Schutzquote ist das eine, Abschiebehindernisse sind das andere. Eine Großzahl derer, die aus Afghanistan zu uns kommen, bekommen ja Schutz bei uns im Land. Aber wir möchten, dass nach Möglichkeit dann diejenigen, die das Land verlassen müssen, auch in der Region untergebracht werden können, und dafür bedarf es dann auch der Unterstützung sowohl Deutschlands als auch der Europäischen Union insgesamt, dass in den Nachbarländern Schutz für Afghanen, die selbst nicht mehr im Land bleiben können, geschaffen werden kann. Beispielsweise in Tadschikistan ist derzeit ein Lager aufgebaut worden für etwa 100.000 Menschen. Auch in den anderen, insbesondere nördlichen Nachbarstaaten von Afghanistan gibt es die Bereitschaft der Aufnahme.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.