Die Begründung, dass sich die Lage in Syrien verändert habe und auf dem Weg der Befriedung sei, hält die SPD für zynisch. Sadiqu Al-Mousllie sieht die Begründung ebenfalls kritisch und bezeichnete sie als "Kardinalfehler". Al-Mousllie ist Vorsitzender der Initiative für Bürgerrechte in Syrien und Teil der von der Bundesregierung anerkannten und sogenannten gemäßigten Opposition Syriens.
Zwar beschreiben Beobachter in Syrien, dass es mittlerweile Regionen gebe, in denen nicht mehr gekämpft wird und der Islamische Staat vertrieben worden ist. Doch herrsche dort nach wie vor eine schwierige Lage vor, so Al-Mousllie, in der mit Zerstörung und Folter zu rechnen sei. Daher sei es auch nicht akzeptabel und nicht vertretbar, Syrer unter diesen Umständen mittelfristig wieder zurück in ihr Heimatland zu schicken. Die Geflüchteten seien nicht nur vor dem Islamischen Staat geflohen, sondern auch vor dem Regime und seiner Tyrannei.
In diesem Jahr sollen mehr als 700.000 syrische Flüchtlinge wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt sein, so offizielle Angaben der Internationalen Organisation für Migration. Al-Mousllies Einschätzung: "Vieles, was jetzt in Syrien passiert, passiert unter der Flagge der Stabilität. Das bedeutet jedoch nicht, dass man dort nachhaltigen Frieden hat und dass man Leute und Familien zurückschicken kann."
Martin Zagatta: Noch ist ja unklar, ob es zu einer Neuauflage der Großen Koalition kommt, da gibt es in der Flüchtlingspolitik aber schon wieder einen neuen Streit zwischen Union und SPD. Unionsgeführte Länder wollen den generellen Abschiebestopp für Menschen aus Syrien nicht mehr um ein Jahr, sondern nur noch um ein halbes Jahr verlängern und mittelfristig Syrer wieder in ihr Heimatland abschieben, vor allem Straftäter und Gefährder. Die Begründung: Syrien sei auf dem Weg der Befriedung. Die SPD nennt das zynisch und ich vermute mal, so ähnlich wird das auch Sadiqu Al-Mousllie sehen. Er ist der Vorsitzende der Initiative für Bürgerrechte in Syrien und gehört dem Syrischen Nationalrat an beziehungsweise der Syrischen Nationalen Kommission, der auch von der Bundesregierung anerkannten sogenannten gemäßigten Opposition Syriens. Außerdem ist er Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Niedersachsen. Guten Morgen, Herr Al-Mousllie!
Sadiqu Al-Mousllie: Guten Morgen, Herr Zagatta!
Zagatta: Herr Al-Mousllie, ist das so zynisch, wenn man jetzt erwartet, dass Syrer, die nach Deutschland geflohen sind, baldmöglichst in ihre Heimat zurückkehren, wenn das möglich ist?
Al-Mousllie: Es ist in der Tat hier ein kardinaler Fehler, der gemacht wird von den Unionsparteien, und gerade von den Leuten, die auch so einen Antrag stellen beziehungsweise auch diese Bemühungen machen. Die Sicherheitslage in Syrien hat sich nicht verändert, die ist nach wie vor eine schwierige Lage, es ist mit viel Zerstörung, mit viel Tot und Folter zu rechnen und deswegen ist es nicht akzeptabel und auch vertretbar, dass man Syrer unter diesen Umständen zurückschickt.
"Islamische Staat ist nur ein Teil des Problems in Syrien"
Zagatta: Nun sagen aber Beobachter, es gebe in Syrien mittlerweile Regionen, in denen nicht mehr gekämpft wird, sei es, weil der Islamische Staat vertrieben worden ist, oder sei es, weil das Regime von Präsident Assad mit russischer Hilfe militärisch die Oberhand – ob einem das gefällt oder nicht – gewonnen hat.
Al-Mousllie: Zum einen denkt man, dass der Islamische Staat das eigentliche Problem in Syrien ist – es ist nur ein Teil des Problems. Das eigentliche Problem und wie das Ganze angefangen hat, war das syrische Regime selbst, mit Assad, mit den Helfermilizen, die aus dem Iran, aus dem Irak, aus dem Libanon kamen. Und die greifen die Bevölkerung an. Das heißt, die Menschen, die auch geflüchtet sind, sind nicht wegen dem Islamischen Staat alleine geflüchtet, sondern hauptsächlich ist der Grund, dass sie vor dem Regime und seiner Tyrannei auch flohen. Und dass die Lage sich in manchen Orten entspannt hat, liegt natürlich daran, dass das Regime vielleicht in manchen Orten, aber auch die Opposition in manchen Orten die Kontrolle hat. Das Problem ist, dass eine Gruppe, eine Anzahl von Menschen wieder in ihre Häuser zurück konnte, weil auch die Fluchtorte selbst bombardiert worden sind, und die Leute sagen dann: Wenn ich sowieso da auch bombardiert werde beziehungsweise unter Lebensgefahr lebe, dann kann ich auch wieder in mein Zuhause gehen. Und das weckt natürlich einen falschen Eindruck auch bei den Politikern, die auch hier das Gefühl haben, na ja, die Menschen gehen zurück zu diesen Orten.
Zagatta: Jetzt sollen aber in diesem Jahr schon mehr als 700.000 syrische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückgekehrt sein, das sind offizielle Angaben der Internationalen Organisation für Migration. Und da heißt es, das seien vor allem Rückkehrer aus der Türkei, dem Libanon und Jordanien. Wenn das so ist, warum können dann Flüchtlinge aus Nachbarländern zurück, aber aus Deutschland nicht?
Al-Mousllie: Aus den Nachbarländern sind auch die Umstände, wie man da lebt, viel schwieriger. Ich sage mal so, die Unterstützung, die man da erfährt, ist nicht die gleiche. Außerdem ist der Weg für die Geflüchteten von Syrien in die Nachbarländer viel einfacher gewesen. Und ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir hier die geflüchteten Menschen auch haben, über eine halbe Million vielleicht in Deutschland, und das seit Monaten, und wir versuchen und investieren die Zeit auch in der Integration, in der Sprache - und dann nachher zu sagen, ihr könnt und solltet zurückgehen? Ich denke, man kann es auch freiwillig den Leuten überlassen. Sicherlich kann man auch einige Fälle dann zurückschieben beziehungsweise auch schauen, wohin sie dann gehen können. Aber nach wie vor ist die Lage nicht in Ordnung. Dass man selber den Weg wählt, als Geflüchteter zurückzugehen, finde ich, ist in Ordnung. Aber dass man dann auch per Dekret beziehungsweise per Politik oder auch per Gesetz die Leute dazu zwingt, in diesem Fall finde ich es auch in Deutschland nicht Deutschland-würdig. Und meines Erachtens auch, wenn da Lebensgefahr besteht, ist das verfassungswidrig.
"Seit sechseinhalb Jahren konnten in Syrien viele Kinder nicht zur Schule"
Zagatta: Wenn Sie sagen, das soll man den Geflüchteten, den Flüchtlingen freiwillig überlassen, wie ist denn da Ihr Eindruck? Sie haben ja täglich mit Ihren Landsleuten zu tun. Wollen die nach Deutschland geflohenen Syrer mehrheitlich zurück oder wollen sehr, sehr viele doch hierbleiben?
Al-Mousllie: Viele von den Leuten, die hierherkamen, kamen auch aus dem Grunde, dass sie etwas Besseres für ihre Kinder auch machen wollten. Seit sechs, sechseinhalb Jahren, das ist eine lange Zeit, konnten in Syrien viele Kinder nicht zur Schule. Man muss sich vorstellen, dass Kinder, die 2011 sechs Jahre alt waren, die sind jetzt, 2017, zwölf Jahre alt. Das heißt, wenn sie nicht in der Schule waren, können sie nicht mal lesen und schreiben. Und die meisten Familien, die diesen Weg auch teilweise zu Fuß gewagt haben, haben das für ihre Familien gemacht. Diese Leute wollen meistens hier eine Existenz aufbauen, wenn möglich, sie suchen Arbeit, sie lernen die Sprache – ich habe tagtäglichen Kontakt zu diesen Leuten – und versuchen auch, das Beste aus ihrer Zeit zu machen. Und dieses Signal ist ein sehr schlechtes Signal, wenn man jetzt schon – gerade für die Leute, die nur einen subsidiären Status haben – ihnen sagt, im Juni nächsten Jahres werdet ihr unter Umständen abgeschoben.
Zagatta: Wird das überprüft.
Al-Mousllie: Ja, oder wird das überprüft. Das ist schon sehr kontraproduktiv für die Integration, für das Lernen. Die Leute werden in Sorge sitzen und um ihre Existenz bangen, sage ich mal, weil das auch für sie schwieriger ist, dann noch mal den Alltag auch zu bewältigen, ohne diese Gedanken auch dann im Kopf zu haben.
"Der Risikofaktor in der ganzen Geschichte"
Zagatta: Herr Al-Mousllie, das hängt ja jetzt auch mit dem Stichwort zusammen, was wir da unter Familiennachzug diskutieren. Wie Sie uns das jetzt schildern, wäre es dann gerade fahrlässig, wenn man dann sagt, okay, dann holt man jetzt Familien – Kinder, Frauen – noch nach, konfrontiert die hier mit einer neuen Sprache, wenn man dann doch vielleicht in Syrien irgendwann Aussicht auf Frieden hat? Wäre es dann nicht viel sinnvoller, man investiert dieses Geld dann gleich in Möglichkeiten in Syrien und vielleicht auch in Rückkehrhilfen?
Al-Mousllie: Ich kann sehr gut verstehen, dass wir in Deutschland hier auch die Zuwanderung irgendwie organisieren wollen. Sicherlich auch in der syrischen Frage, für die Geflüchteten ist es auch nicht falsch, da zu investieren und da die Umstände auch zu verbessern. Der Risikofaktor in der ganzen Geschichte bleibt und ist die Sicherheitslage in Syrien beziehungsweise in den umliegenden Ländern, und ob man da wirklich was erreicht. Und wir stellen bis jetzt fest, dass in Syrien selbst die Sicherheitslage noch nicht so weit ist, dass man die Leute abschieben kann. Und vieles, was jetzt in Syrien passiert, passiert auch unter der Flagge der Stabilität, aber das bedeutet nicht, dass man da nachhaltigen Frieden hat und dass man da auch Familien beziehungsweise Leute zurückschicken kann.
Zagatta: Sagt der syrische Oppositionspolitiker hier in Deutschland Sadiqu Al-Mousllie. Herr Mousllie, herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Al-Mousllie: Bitte schön, Herr Zagatta!
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