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Abschied aus Europa?
Dirigent James Levine nach langer Zeit wieder in Berlin

James Levine tritt noch einmal ans Pult in Berlin - auf Einladung seines Freundes Daniel Barenboim. Am Dienstag dirigiert der langjährige Musikdirektor der MET in New York die Staatskapelle Berlin. Es wird womöglich das letzte Konzert des erkrankten Dirigenten in Europa sein.

Von Matthias Nöther |
    James Levine dirigiert das Boston Symphony Orchestra beim Luzern-Festival (Archivfoto vom 26.08.2007).
    James Levine dirigiert das Boston Symphony Orchestra beim Luzern-Festival (Archivfoto vom 26.08.2007). (picture alliance / dpa / Sigi Tischler)
    Er hat sich in Europa seit vielen Jahren rargemacht: James Levine, jener Dirigent, der 40 Jahre lang das Metropolitan Opera House in New York City als Musikdirektor leitete und dort über achtzig verschiedene Werke in über 2.500 Aufführungen dirigierte. Morgen Abend wird er die Staatskapelle Berlin in der Philharmonie der Hauptstadt dirigieren – mit Gustav Mahlers riesiger Dritter Sinfonie in d-Moll.
    Ganz aus dem Tagesgeschäft des größten Opernhauses der Welt wird sich James Levine so schnell wohl nicht zurückziehen. Zurzeit dirigiert er dort, sozusagen als Einspringer für den unsteten Pult-Star Andris Nelsons, die "Tosca" – jenes Werk, mit dem Levine im Jahr 1971 an der Met sein Debüt gab. Erst wenige Jahre zuvor war das Opernhaus im Lincoln Center neu gebaut worden, Levine formte als erster langfristiger Chefdirigent hier nicht nur ein modernes Spitzenorchester, sondern hatte auch die Möglichkeit, sängerische Weltstars wie Plácido Domingo und Luciano Pavarotti mit aufzubauen.
    "Ich kann wirklich froh sein, dass ich das alles für so viele Jahre gestalten konnte. In den letzten Jahren hat es so viele Veränderungen gegeben, die vom Management und der Intendanz kamen und deren Grund die finanzielle Krise der Met war. Zum Glück haben sie nicht in meine Tätigkeit eingegriffen. Ich bin schließlich schon 45 Jahre dort – um von solchen Dingen verschont zu bleiben, ist das ja wohl lange genug."
    MET - weniger Publikum bei steigenden Betriebskosten
    Sorgen macht James Levine sich trotzdem um seine alte künstlerische Heimat – zu Recht. Hartnäckig halten sich die finanziellen Probleme des Hauses. Eine Folge der Finanzkrise seit 2008: Das Publikum, das die teuren Karten bezahlen will und kann, wird weniger, die Betriebskosten steigen. Und James Levine, eigentlich über Jahre der Fels in der Brandung, ist seit Jahren krank, sehr krank. Es muss einen Wechsel geben, das sieht auch Levine. Zu seinem designierten Nachfolger, dem kanadischen Pult-Star Yannick Nézét-Séguin, äußert sich der 74-Jährige verhalten optimistisch.
    Star-Dirigent Yannick Nézet-Séguin
    Der franko-kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin ist der designierte Nachfolger von James Levine in New York (Deutsche Grammophon/ Harald Hoffmann)
    "Ich denke, wir sollten abwarten und schauen, was Yannick tut, was er tun kann und was er tun will. Wir wissen ja, welche und wie viele Opern er dirigieren will in den ersten fünf Jahren seines Vertrags. Nur eine Produktion wird überhaupt wiederholt in dieser Zeit, während er auf der anderen Seite neues Repertoire aufbaut. Das finde ich sehr sinnvoll. Ich kann dem Unternehmen nur wünschen, dass es Erfolg hat und das bestmögliche Ergebnis erzielt. Und der einzige Weg dahin ist ein gutes Einvernehmen zwischen Yannick, der Intendanz und allen Mitarbeitern."
    Eingeladen von seinem Freund Daniel Barenboim
    Dieses eine Konzert in Europa ist für James Levine eine kurze Auszeit. Die meisten US-Orchester sind seit der Finanzkrise von 2008 latent ebenso gefährdet wie der künstlerische Betrieb der Met, aus der Perspektive des US-Dirigenten sind die Arbeitsbedingungen bei einem deutschen Kulturorchester traumhaft. Eingeladen wurde Levine außerdem von seinem Freund Daniel Barenboim, da konnte er wohl trotz aller gesundheitlichen Schwierigkeiten nicht Nein sagen. Zumal er Mahlers Dritte Sinfonie dirigieren darf, eines seiner Lieblingsstücke. Levine hat sich übrigens entschieden, mitten im Stück eine Pause zu machen, das habe schließlich Mahler auch getan.
    "Selbst wenn ich gelegentlich Leute gehört habe, die diese Pause hassten, weil sie angeblich die Kontinuität zerstöre – da kann ich nicht zustimmen. Es ist doch so: Wenn man die Pause nicht macht, kann man die anderen Sätze nicht mehr gut spielen. Blech und Holzbläser haben schließlich im ersten Satz unglaublich lange und sehr laut gespielt. Und dann die folgende delikate Musik spielen zu müssen ohne Unterbrechung, ist sehr heikel. Und wenn man da eine ganz normale kleine Pause macht, dann kann man zurückkommen und mit etwas neu anfangen, das auch äußerlich vom Vorigen völlig verschieden ist."
    Die körperliche Verfasstheit seiner Sänger und Musiker zu bewahren – das war schon immer ein großes Anliegen von James Levine. Berühmt geworden ist eine Anekdote über Plácido Domingo. Als der Aufstieg des großen Tenors begann, wollte Levine ihn mit aller Macht davon abhalten, zu früh Verdis kräftezehrenden Otello zu singen – oder ihn wenigstens nur mit ihm, mit James Levine zu studieren. Mit diesem Sänger ist daraus eine kongeniale Partnerschaft entstanden – wie mit nahezu allen wirklich großen Solisten dieser Generation.
    "Es ist nicht so, dass ich mir bei der Einschätzung von Sängerstimmen nun immer völlig sicher wäre. Aber mit meiner Erfahrung sieht man schon einiges. Und es ist nicht nur die Erfahrung, sondern es sind auch die Studien, die man betreibt. Es ist wichtig, etwas aus der Vergangenheit zu lesen, von Gesangslehrern, von Coaches, von Dirigenten, teilweise sehr alte Sachen. Wenn ich mit einem Sänger an etwas arbeite, ob das nun ein Liedzyklus ist oder eine Opernpartie, dann beziehen wir immer die Gesangstechnik mit ein und nicht nur Fragen der Interpretation. Denn Technik und Interpretation kann man nicht trennen."
    Unzufrieden mit der Entwicklung in der Opernszene
    Es ist dieses Verantwortungsbewusstsein gegenüber seinen Künstlern, das James Levine mit heutigen Entwicklungen in der Opernszene höchst unzufrieden werden lässt. Vor allem viele heutige Operninszenierungen bezeichnet Levine schlicht als Unsinn – weil Regisseure oft der Musik zu wenig Bedeutung beimäßen.
    "Heute nehmen wir gerne an, dass das, was in der Inszenierung passiert, gleichbedeutend mit der Musik sei. Aber das ist nicht so. Man geht da immer vom Sprechtheater aus. Da hat man die Worte, die Schauspieler, die Situation, einen meist kleinen Raum. In der Oper und jeglicher Form von Musiktheater, da vermitteln die Personen auf der Bühne die Ideen und Gedanken und Interaktionen singend, über ein großes Orchester hinweg. Und was die Zuschauer überhaupt sehen, ist zunächst mal der Hinterkopf der Person, die vor ihnen sitzt."
    Es geht James Levine ums Zuhören in der Oper, welches seiner Meinung nach nicht einmal von den Machern einer Inszenierung wirklich ernst genommen werde. Es ist bedenklich, dass ausgerechnet jener Dirigent hier resigniert, der über vierzig Jahre für die Musik am finanziell vielleicht erfolgreichsten Opernunternehmen der Welt verantwortlich war. Der große alte Opernmann James Levine krank im Rollstuhl: Es könnte fast ein Gleichnis sein auf den Zustand der großen klassischen Musikinstitutionen in den Vereinigten Staaten.