Der 18. Tag des ägyptischen Bürgerprotests gegen das Regime von Präsident Hosni Mubarak drohte eine bislang nicht erlebte Eskalation zu bringen. Nicht, weil wegen des muslimischen Feiertages am Freitag immer mehr Demonstranten nach dem Mittagsgebet zusammengekommen waren, sondern weil man am Abend zuvor auf das Tiefste enttäuscht worden war: Seit Donnerstagnachmittag waren in aller Welt Gerüchte verbreitet worden, dass Mubarak noch an diesem Abend zurücktreten werde. Gerüchte, die nicht von "irgendwo" kamen, sondern aus der Nationaldemokratischen Partei Mubaraks, aus der Regierung und selbst der CIA, deren Chef, Leon Panetta, erklärt hatte:
"Es besteht große Wahrscheinlichkeit, dass Mubarak heute Abend zurücktritt – was von großer Bedeutung wäre für die Durchführung einer hoffentlich friedlichen Machtübergabe in Ägypten."
Die Hoffnungen wurden enttäuscht: Als Mubarak mit einiger Verspätung im Fernsehen zu sehen war, da war keine Rede mehr von Rücktritt:
"Ich habe beschlossen, die Befugnisse des Präsidenten auf den Vizepräsidenten Ägyptens zu übertragen – so wie es die Verfassung vorsieht ... "
Er selbst, so der "Rais", werde aber im Amt bleiben, bis ein verfassungsgemäßer Übergang möglich sei. Also mindestens bis September, wenn Präsidentschaftswahlen stattfinden sollen. Das aber hatte Mubarak bereits zuvor gesagt und damit Frust und Ärger unter den Demonstranten nur weiter vergrößert. Und im Ausland wuchsen Ungeduld und Kritik. Auch dort, wo bisher großer Wert gelegt wurde auf enge und gute Beziehungen zum Ägypten Hosni Mubaraks. Bundesaußenminister Guido Westerwelle:
"Ich fürchte, dass diese Rede keine befriedende Wirkung in Ägypten entfalten kann und die Sorgen der internationalen Staatengemeinschaft, auch die Sorgen der Bundesregierung, sind nach dieser Rede größer und nicht kleiner geworden."
Vor diesem Hintergrund drohte Freitag eine neue Zuspitzung, vielleicht sogar mit neuer Gewalt: So gaben die Demonstranten die Parole aus, zum Präsidentenpalast in Heliopolis – auf dem Weg zum Flughafen – zu ziehen, andere begannen, das Fernsehgebäude unweit des Tahrir-Platzes zu belagern. Gefahr drohte am Präsidentenpalast, der von der Präsidentengarde bewacht wird. Einer Truppe, der man ein weitaus härteres Durchgreifen nachsagt als dem regulären Militär – das sich während der letzten Wochen sehr zurückgehalten hatte.
Der offene Zusammenstoß blieb aus: Am frühen Nachmittag wurde Mubarak mit seiner Familie per Hubschrauber ausgeflogen und an seinen Wintersitz in Sharm-el-Sheikh am Südende der Sinai-Halbinsel gebracht, wenig später kam die wirkliche Überraschung, als Mubarak Vize Omar Suleiman im nationalen Fernsehen auftrat und eine kurze und knappe Erklärung abgab:
"Im Namen Allahs, des Gnädigen und des Barmherzigen, Bürger: Angesichts der schwierigen Umstände, die jetzt den Staat treffen, hat Präsident Mohamad Hosni Mubarak beschlossen, vom Amt des Präsidenten der Republik zurückzutreten und er hat den Obersten Rat der Streitkräfte beauftragt, die Staatsgeschäfte zu führen. Möge Gott allen beistehen."
Dieser "Oberste Rat der Streitkräfte" ist keine feste Institution, sondern eine Gruppe der wichtigsten Militärs, die sich in Zeiten des nationalen Notstandes treffen, um zu beraten, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen. Bisher war dieser Kreis nur zweimal zusammengetreten – beide Male zur Zeit von Kriegen mit Israel. Der Rat ist aber die konsequente Fortsetzung der Revolution von 1952: Diese wurde von jungen Offizieren getragen, die sich damals und auch nach dem Sturz des Königs immer wieder trafen, um über politische Fragen zu beraten. Und es ist auch kein Rückfall in die alten Tage, denn die Führung des Staates hatte bisher immer in Händen von Ex-Militärs gelegen: Naguib, Nasser und Sadat hatten an der Revolution von 1952 teilgenommen, Mubarak war damals bereits in der Luftwaffe. Das Militär hat also nie aufgehört, Einfluss zu nehmen auf die Geschicke des Staates.
Dass es – wie jetzt – offiziell beauftragt wird, diese Geschicke zu lenken, ist freilich neu. Selbst wenn es nur für eine Übergangszeit sein soll. De facto ist jetzt jedenfalls der bisherige Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, der 75-jährige Feldmarschall Mohamed Hussein Tantawi, Staatspräsident. Ein altgedienter Militär, der sich allerdings erst 1956, also nach der Revolution, den Streitkräften anschloss. Weitgehend unbemerkt von der Außenwelt war Tantawi längst der starke Mann im Rücken von Hosni Mubarak und so wundert es denn auch kaum, dass nur Stunden nach dem Rücktritt Mubaraks ein Militärsprecher im Fernsehen offiziell Dank und Anerkennung des "Obersten Rates der Streitkräfte" für Mubarak aussprach.
Der Übergang von Mubarak zu Tantawi und dem "Obersten Rat" war für sich gesehen also noch keine Revolution. Und auch kein Militärputsch, vor dem Omar Suleiman Anfang der Woche gewarnt hatte. Obwohl der Rat diesen Gang der Dinge ganz offenbar beeinflusst, wenn nicht gar geplant hatte. Am Donnerstag trat der Rat nämlich zum ersten Mal zusammen und empfahl Mubarak anschließend anscheinend den Rückzug. Als dieser nicht Folge leistete, erhöhte man am Freitag offenbar den Druck.
In seiner neuen Funktion verkündete der "Oberste Rat" in einem zweiten Communiqué seit Donnerstag, was man sich vorgenommen habe. Vor allem: Man wolle den Ausnahmezustand aufheben Zitat "sobald die gegenwärtigen Umstände vorbei sind". Man wolle über Berufungsverfahren gegen die Parlamentswahlen vom letzten Herbst und daraus folgende Maßnahmen entscheiden. Man wolle notwendige Gesetzesänderungen vornehmen, um dann auf der Grundlage einer verbesserten Verfassung freie und faire Präsidentschaftswahlen abzuhalten.
Die Streitkräfte würden sich weiter für die legitimen Rechte der Bevölkerung einsetzen, um einen möglichst raschen und reibungslosen Übergang zur Demokratie zu ermöglichen. Dazu gehöre der Schutz der Demonstranten der letzten Wochen, die Gewährleistung der Sicherheit für die Bevölkerung und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das Parlament allerdings werde aufgelöst, die Regierung, so ein weiteres Communiqué heute, bleibe vorläufig im Amt und an internationalen Verträgen werde man festhalten!
Wenn man diese Dinge hört, dann könnte man meinen, dass mit fast zweijähriger Verspätung verwirklicht werden soll, was US-Präsident Barack Obama – damals kurz nach seiner Amtseinführung – in seiner berühmten Kairoer Rede verkündet hatte:
" ...Ich habe den unerschütterlichen Glauben, dass alle Menschen sich nach bestimmten Dingen sehnen: Die Möglichkeit, sich frei zu äußern und sagen zu können, wie man regiert werden will; das Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit vor dem Gesetz, eine Regierung, die transparent ist und das Volk nicht bestiehlt, die Freiheit, so zu leben, wie man will. Dies sind nicht nur amerikanische Ideen, dies sind Menschenrechte und wir werden sie deswegen überall unterstützen."
Damals hatte die Rede in Ägypten und anderen Teilen der muslimischen und arabischen Welt nichts geändert. Korrupte Gewaltherrscher blieben an der Macht, Oppositionelle wurden ebenso verfolgt wie die Medien und offiziell wurden weiter gute Beziehungen mit den USA gepflegt. Die Ägypten allein jedes Jahr mit fast zwei Milliarden Dollar unterstützen – der größte Teil davon für den Militärhaushalt.
Die Entwicklungen in Tunesien und dann in Ägypten schienen das Ausland kalt erwischt zu haben. Besonders die USA. Hektisch begann man hin und her zu überlegen, wie man sich nun verhalten solle. Am alten Freund Mubarak festhalten oder ihm den Rücktritt nahelegen? Und was, wenn er dazu nicht bereit wäre? Mubarak selbst verbat sich ausländische Einmischung. Und als die Idee aufkam, man könne vielleicht die Hilfe für Ägypten einschränken oder sperren, da entrüstete sich der bisherige Außenminister, Ahmed Abu Al Gheit:
"Gut, und was dann? Wenn sie ihre Unterstützung abbrechen wollen – ich nenne das Unterstützung, nicht Hilfe ... Wollen sie ihre Unterstützung für die Armee abbrechen, die die Stabilität in diesem Land aufrecht erhält? Ist das vorstellbar?"
Das dürfte nun nicht passieren. Denn die Streitkräfte unterhalten enge Beziehungen zu den USA. Die wichtigsten Generäle und Offiziere sind dort ausgebildet worden, die Waffen kommen aus den USA und es wäre deswegen undenkbar, dass man all dies durch unbedachte Schritte aufs Spiel setzen könnte. Besonders nicht jetzt, wenn Washington wieder in Tritt zu kommen scheint und sich positiv zu den Entwicklungen äußert:
"Durch seinen Rücktritt hat Präsident Mubarak auf den Hunger der Ägypter nach Veränderung geantwortet. Aber dies ist nicht das Ende von Ägyptens Veränderung. Dies ist ein Anfang. Ich bin sicher, dass noch viele schwierige Tage kommen und viele Fragen unbeantwortet bleiben. Aber ich bin zuversichtlich, dass das ägyptische Volk die Antworten finden kann. Und das auf friedlichem, konstruktivem Weg tun kann und im Geist der Einheit, der diese letzten Wochen bestimmt hat. Denn die Ägypter haben klargestellt, dass sie sich nicht mit weniger abfinden werden als mit echter Demokratie."
Frankreichs Präsident Sarkozy, der mit dem tunesischen Ex-Präsidenten Ben Ali und auch mit Ägyptens Staatschef Mubarak enge und scheinbar freundschaftliche Beziehungen unterhielt, hatte dies rasch vergessen: Ben Ali wollte er nicht Zuflucht gewähren und zu den Vorgängen in Ägypten äußerte er sich erst nach dem Rücktritt Mubarak:
"Das war unausweichlich ... unausweichlich. Ich hoffe von ganzem Herzen für die jetzt entstehende ägyptische Demokratie, dass sie sich ihre Zeit nimmt zum politischen Aufbau und zur Entwicklung von Grundsätzen, was sie auf den Weg zur Demokratie führen wird."
Die USA haben ihre volle Unterstützung zugesagt, deswegen ist – zumindest kurz- und mittelfristig nicht mit einer Trübung der ägyptisch-amerikanischen Beziehungen zu rechnen ist. Zumindest nicht, soweit es die Haltung und den Kurs der ägyptischen Militärs angeht. Es war Zufall, dass der Rücktritt Mubaraks am 32. Jahrestag der Islamischen Revolution im Iran stattfand. Trotzdem hatten iranische Politiker in letzter Zeit wiederholt versucht, die Vorgänge am Nil in Kontext zu stellen mit der seit 1979 erhofften – aber nicht erfolgten – Ausweitung der Islamischen Revolution auf die gesamte Region. Der Oberste Führer des Iran, Ayatollah Ali Khamenei, hatte eine Woche vor Mubaraks Rücktritt sogar in Arabisch verkündet:
"In der islamischen Welt gibt es heute eine großartige und entscheidende Entwicklung – ein Ereignis, das die Arroganz in dieser Region zugunsten des Islam und seiner Völker umkippen lassen könnte. Dieses Ereignis kann Ehre und Ruhm der arabischen und islamischen Völker wiederherstellen und ihnen den Staub jahrzehntelanger Unterdrückung und Erniedrigung aus dem Gesicht wischen, die diesen edlen Völkern durch den Westen und Amerika zugefügt wurden."
Ägypten wird dem Vorbild des Iran kaum folgen, obwohl unbestritten ist, dass Politiker wie Präsident Ahmedinejad in der einfachen Bevölkerung Ägyptens einiges Ansehen genießen. Die einzigen, denen man solche Ambitionen immer wieder nachsagte, sind die Muslimbrüder. 1928 von Hassan el Banna gegründet, unterhält diese Bewegung heute Zweige in weiten Teilen der muslimischen Welt und ihre politische Stärke wird in Ägypten auf 20 bis 30 Prozent geschätzt. Genaue Angaben gibt es nicht, weil sie entweder verboten oder stillschweigend geduldet – dann aber wieder um die Früchte ihrer Beteiligung an Wahlen betrogen wurden.
Die Muslimbrüder, die doch immer den Sturz der bestehenden – und allesamt als illegitim bezeichneten – Regime der arabischen Welt gefordert hatten, wurden selbst überrascht und offenbar überfordert von den jüngsten Entwicklungen. Auch davon, dass die meisten der Demonstranten, die da auf die Straße zogen in Kairo, Alexandria, Port Said und Suez, keinen islamischen Gottesstaat forderten, sondern einen modernen, demokratischen Rechtsstaat. Aber in den Reihen der Muslimbrüder hat sich in den letzten Jahren ohnehin einiges geändert: Man betrachtet den Islam zwar immer noch als ein starkes Band der Solidarität mit anderen Staaten und als eine wünschenswerte Grundlage für den eigenen Staat, der aber soll eher so organisiert werden wie die Türkei heute – auf einer eher laizistischen Verfassungsbasis also.
Ob es dazu kommt, wird davon abhängen, wie gut die Muslimbrüder, aber auch die anderen Gruppierungen und Parteien in der Lage sein werden, sich politisch zu organisieren, um bei den nächsten Wahlen um die Gunst der Wähler zu werben. Besonders wichtig dürfte diese Aufgabe für die breite Masse der Demonstranten werden, die bisher vor allem geeint waren in der Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten. Die sich bisher aber keine Gedanken darüber gemacht zu haben scheinen, wie es nach dem Rücktritt weitergehen soll.
Selbst wenn dies von den weitaus besser organisierten Muslimbrüdern ausgenützt werden könnte – das Horrorszenario dürfte kaum eintreten, das manche in den letzten Jahren gemalt hatten und das auch Mubarak nicht müde wurde zu beschwören: keine zweite Islamische Republik, kein Bruch mit den USA und auch keine Aufkündigung des Friedens mit Israel.
Dieser Frieden, den Mubarak-Vorgänger Sadat 1978 in Camp David besiegelte und 1979 in Washington unterzeichnete, ist in der ägyptischen Bevölkerung nicht sonderlich populär, auch nicht in den Streitkräften, deren ältere Offiziere sämtlich an Kriegen gegen Israel beteiligt gewesen waren. Aber was unter Mubarak der Fall war, dürfte nun fortgesetzt werden: Die Streitkräfte haben kein Interesse an neuen Spannungen und sie werden deswegen den Friedensvertrag mit Israel nicht anrühren und sicher auch alles daran setzen, dass keine Regierung zustande kommt, die das tun könnte. Selbst wenn Veränderungen natürlich stattfinden werden. Noch einmal Barack Obama:
"Es gibt sehr wenige Momente in unserem Leben, in denen wir das Privileg haben, geschichtliche Entwicklungen direkt mitzuerleben. Dies ist ein solcher Moment, ein solcher Augenblick. Die Menschen in Ägypten haben gesprochen, ihre Worte sind erhört worden und Ägypten wird nicht mehr so sein wie bisher."
In offiziellen Kreisen Israels hat man sich – zumindest in der Öffentlichkeit – bisher zurückgehalten: Natürlich sei man für eine Demokratisierung in der arabischen Welt, gleichzeitig habe man aber vor der eigenen Haustür schlechte Erfahrungen damit gemacht: In freien und demokratischen Wahlen war in den palästinensischen Autonomiegebieten die islamistische Hamas gewählt worden, die unversöhnlich in ihrer Ablehnung Israels bleibt und inzwischen den Gazastreifen beherrscht. Oder im Libanon, wo die schiitisch-islamistische Hisbollah durch freie Wahlen so stark wurde, dass sie inzwischen die Regierung stellt. Und gleichzeitig – mit iranischer Unterstützung – ihre offene Konfrontation mit Israel fortsetzt.
Zu Beginn der Krise in Ägypten hatte der israelische Ministerpräsident Netanyahu noch gewarnt, der Frieden mit Ägypten dürfe nicht gefährdet werden.
"Unsere Position ist klar: Wir stehen auf der Seite der Kräfte, die Freiheit, Fortschritt und Frieden fördern. Und wir erwarten, dass jede Regierung in Ägypten den Frieden respektiert. Mehr noch: Wir gehen davon aus, dass auch die internationale Gemeinschaft von jeder ägyptischen Regierung erwartet, dass sie den Frieden respektiert. Das muss klar sein."
Israel spielte beim Protest auf der Straße in Ägypten keine Rolle. So, wie auch die USA oder andere Staaten nicht beschimpft oder kritisiert wurden. Den Demonstranten ging es ganz offensichtlich in erster Linie um eigene, innenpolitische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme. Was natürlich nicht ausschließt, dass hieraus eines Tages eine breitere Kampagne auch gegen andere Länder entsteht. Washington zumindest ist sich dieser Möglichkeit bewusst und Präsident Obama hat deswegen Emissäre nach Israel und Jordanien geschickt. Wahrscheinlich, um dort für Zurückhaltung zu werben.
Alle Beiträge auf dradio.de zu den Krisen im Nahen und Mittleren Osten im Überblick:
Der arabische Aufstand
"Es besteht große Wahrscheinlichkeit, dass Mubarak heute Abend zurücktritt – was von großer Bedeutung wäre für die Durchführung einer hoffentlich friedlichen Machtübergabe in Ägypten."
Die Hoffnungen wurden enttäuscht: Als Mubarak mit einiger Verspätung im Fernsehen zu sehen war, da war keine Rede mehr von Rücktritt:
"Ich habe beschlossen, die Befugnisse des Präsidenten auf den Vizepräsidenten Ägyptens zu übertragen – so wie es die Verfassung vorsieht ... "
Er selbst, so der "Rais", werde aber im Amt bleiben, bis ein verfassungsgemäßer Übergang möglich sei. Also mindestens bis September, wenn Präsidentschaftswahlen stattfinden sollen. Das aber hatte Mubarak bereits zuvor gesagt und damit Frust und Ärger unter den Demonstranten nur weiter vergrößert. Und im Ausland wuchsen Ungeduld und Kritik. Auch dort, wo bisher großer Wert gelegt wurde auf enge und gute Beziehungen zum Ägypten Hosni Mubaraks. Bundesaußenminister Guido Westerwelle:
"Ich fürchte, dass diese Rede keine befriedende Wirkung in Ägypten entfalten kann und die Sorgen der internationalen Staatengemeinschaft, auch die Sorgen der Bundesregierung, sind nach dieser Rede größer und nicht kleiner geworden."
Vor diesem Hintergrund drohte Freitag eine neue Zuspitzung, vielleicht sogar mit neuer Gewalt: So gaben die Demonstranten die Parole aus, zum Präsidentenpalast in Heliopolis – auf dem Weg zum Flughafen – zu ziehen, andere begannen, das Fernsehgebäude unweit des Tahrir-Platzes zu belagern. Gefahr drohte am Präsidentenpalast, der von der Präsidentengarde bewacht wird. Einer Truppe, der man ein weitaus härteres Durchgreifen nachsagt als dem regulären Militär – das sich während der letzten Wochen sehr zurückgehalten hatte.
Der offene Zusammenstoß blieb aus: Am frühen Nachmittag wurde Mubarak mit seiner Familie per Hubschrauber ausgeflogen und an seinen Wintersitz in Sharm-el-Sheikh am Südende der Sinai-Halbinsel gebracht, wenig später kam die wirkliche Überraschung, als Mubarak Vize Omar Suleiman im nationalen Fernsehen auftrat und eine kurze und knappe Erklärung abgab:
"Im Namen Allahs, des Gnädigen und des Barmherzigen, Bürger: Angesichts der schwierigen Umstände, die jetzt den Staat treffen, hat Präsident Mohamad Hosni Mubarak beschlossen, vom Amt des Präsidenten der Republik zurückzutreten und er hat den Obersten Rat der Streitkräfte beauftragt, die Staatsgeschäfte zu führen. Möge Gott allen beistehen."
Dieser "Oberste Rat der Streitkräfte" ist keine feste Institution, sondern eine Gruppe der wichtigsten Militärs, die sich in Zeiten des nationalen Notstandes treffen, um zu beraten, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen. Bisher war dieser Kreis nur zweimal zusammengetreten – beide Male zur Zeit von Kriegen mit Israel. Der Rat ist aber die konsequente Fortsetzung der Revolution von 1952: Diese wurde von jungen Offizieren getragen, die sich damals und auch nach dem Sturz des Königs immer wieder trafen, um über politische Fragen zu beraten. Und es ist auch kein Rückfall in die alten Tage, denn die Führung des Staates hatte bisher immer in Händen von Ex-Militärs gelegen: Naguib, Nasser und Sadat hatten an der Revolution von 1952 teilgenommen, Mubarak war damals bereits in der Luftwaffe. Das Militär hat also nie aufgehört, Einfluss zu nehmen auf die Geschicke des Staates.
Dass es – wie jetzt – offiziell beauftragt wird, diese Geschicke zu lenken, ist freilich neu. Selbst wenn es nur für eine Übergangszeit sein soll. De facto ist jetzt jedenfalls der bisherige Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, der 75-jährige Feldmarschall Mohamed Hussein Tantawi, Staatspräsident. Ein altgedienter Militär, der sich allerdings erst 1956, also nach der Revolution, den Streitkräften anschloss. Weitgehend unbemerkt von der Außenwelt war Tantawi längst der starke Mann im Rücken von Hosni Mubarak und so wundert es denn auch kaum, dass nur Stunden nach dem Rücktritt Mubaraks ein Militärsprecher im Fernsehen offiziell Dank und Anerkennung des "Obersten Rates der Streitkräfte" für Mubarak aussprach.
Der Übergang von Mubarak zu Tantawi und dem "Obersten Rat" war für sich gesehen also noch keine Revolution. Und auch kein Militärputsch, vor dem Omar Suleiman Anfang der Woche gewarnt hatte. Obwohl der Rat diesen Gang der Dinge ganz offenbar beeinflusst, wenn nicht gar geplant hatte. Am Donnerstag trat der Rat nämlich zum ersten Mal zusammen und empfahl Mubarak anschließend anscheinend den Rückzug. Als dieser nicht Folge leistete, erhöhte man am Freitag offenbar den Druck.
In seiner neuen Funktion verkündete der "Oberste Rat" in einem zweiten Communiqué seit Donnerstag, was man sich vorgenommen habe. Vor allem: Man wolle den Ausnahmezustand aufheben Zitat "sobald die gegenwärtigen Umstände vorbei sind". Man wolle über Berufungsverfahren gegen die Parlamentswahlen vom letzten Herbst und daraus folgende Maßnahmen entscheiden. Man wolle notwendige Gesetzesänderungen vornehmen, um dann auf der Grundlage einer verbesserten Verfassung freie und faire Präsidentschaftswahlen abzuhalten.
Die Streitkräfte würden sich weiter für die legitimen Rechte der Bevölkerung einsetzen, um einen möglichst raschen und reibungslosen Übergang zur Demokratie zu ermöglichen. Dazu gehöre der Schutz der Demonstranten der letzten Wochen, die Gewährleistung der Sicherheit für die Bevölkerung und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das Parlament allerdings werde aufgelöst, die Regierung, so ein weiteres Communiqué heute, bleibe vorläufig im Amt und an internationalen Verträgen werde man festhalten!
Wenn man diese Dinge hört, dann könnte man meinen, dass mit fast zweijähriger Verspätung verwirklicht werden soll, was US-Präsident Barack Obama – damals kurz nach seiner Amtseinführung – in seiner berühmten Kairoer Rede verkündet hatte:
" ...Ich habe den unerschütterlichen Glauben, dass alle Menschen sich nach bestimmten Dingen sehnen: Die Möglichkeit, sich frei zu äußern und sagen zu können, wie man regiert werden will; das Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit vor dem Gesetz, eine Regierung, die transparent ist und das Volk nicht bestiehlt, die Freiheit, so zu leben, wie man will. Dies sind nicht nur amerikanische Ideen, dies sind Menschenrechte und wir werden sie deswegen überall unterstützen."
Damals hatte die Rede in Ägypten und anderen Teilen der muslimischen und arabischen Welt nichts geändert. Korrupte Gewaltherrscher blieben an der Macht, Oppositionelle wurden ebenso verfolgt wie die Medien und offiziell wurden weiter gute Beziehungen mit den USA gepflegt. Die Ägypten allein jedes Jahr mit fast zwei Milliarden Dollar unterstützen – der größte Teil davon für den Militärhaushalt.
Die Entwicklungen in Tunesien und dann in Ägypten schienen das Ausland kalt erwischt zu haben. Besonders die USA. Hektisch begann man hin und her zu überlegen, wie man sich nun verhalten solle. Am alten Freund Mubarak festhalten oder ihm den Rücktritt nahelegen? Und was, wenn er dazu nicht bereit wäre? Mubarak selbst verbat sich ausländische Einmischung. Und als die Idee aufkam, man könne vielleicht die Hilfe für Ägypten einschränken oder sperren, da entrüstete sich der bisherige Außenminister, Ahmed Abu Al Gheit:
"Gut, und was dann? Wenn sie ihre Unterstützung abbrechen wollen – ich nenne das Unterstützung, nicht Hilfe ... Wollen sie ihre Unterstützung für die Armee abbrechen, die die Stabilität in diesem Land aufrecht erhält? Ist das vorstellbar?"
Das dürfte nun nicht passieren. Denn die Streitkräfte unterhalten enge Beziehungen zu den USA. Die wichtigsten Generäle und Offiziere sind dort ausgebildet worden, die Waffen kommen aus den USA und es wäre deswegen undenkbar, dass man all dies durch unbedachte Schritte aufs Spiel setzen könnte. Besonders nicht jetzt, wenn Washington wieder in Tritt zu kommen scheint und sich positiv zu den Entwicklungen äußert:
"Durch seinen Rücktritt hat Präsident Mubarak auf den Hunger der Ägypter nach Veränderung geantwortet. Aber dies ist nicht das Ende von Ägyptens Veränderung. Dies ist ein Anfang. Ich bin sicher, dass noch viele schwierige Tage kommen und viele Fragen unbeantwortet bleiben. Aber ich bin zuversichtlich, dass das ägyptische Volk die Antworten finden kann. Und das auf friedlichem, konstruktivem Weg tun kann und im Geist der Einheit, der diese letzten Wochen bestimmt hat. Denn die Ägypter haben klargestellt, dass sie sich nicht mit weniger abfinden werden als mit echter Demokratie."
Frankreichs Präsident Sarkozy, der mit dem tunesischen Ex-Präsidenten Ben Ali und auch mit Ägyptens Staatschef Mubarak enge und scheinbar freundschaftliche Beziehungen unterhielt, hatte dies rasch vergessen: Ben Ali wollte er nicht Zuflucht gewähren und zu den Vorgängen in Ägypten äußerte er sich erst nach dem Rücktritt Mubarak:
"Das war unausweichlich ... unausweichlich. Ich hoffe von ganzem Herzen für die jetzt entstehende ägyptische Demokratie, dass sie sich ihre Zeit nimmt zum politischen Aufbau und zur Entwicklung von Grundsätzen, was sie auf den Weg zur Demokratie führen wird."
Die USA haben ihre volle Unterstützung zugesagt, deswegen ist – zumindest kurz- und mittelfristig nicht mit einer Trübung der ägyptisch-amerikanischen Beziehungen zu rechnen ist. Zumindest nicht, soweit es die Haltung und den Kurs der ägyptischen Militärs angeht. Es war Zufall, dass der Rücktritt Mubaraks am 32. Jahrestag der Islamischen Revolution im Iran stattfand. Trotzdem hatten iranische Politiker in letzter Zeit wiederholt versucht, die Vorgänge am Nil in Kontext zu stellen mit der seit 1979 erhofften – aber nicht erfolgten – Ausweitung der Islamischen Revolution auf die gesamte Region. Der Oberste Führer des Iran, Ayatollah Ali Khamenei, hatte eine Woche vor Mubaraks Rücktritt sogar in Arabisch verkündet:
"In der islamischen Welt gibt es heute eine großartige und entscheidende Entwicklung – ein Ereignis, das die Arroganz in dieser Region zugunsten des Islam und seiner Völker umkippen lassen könnte. Dieses Ereignis kann Ehre und Ruhm der arabischen und islamischen Völker wiederherstellen und ihnen den Staub jahrzehntelanger Unterdrückung und Erniedrigung aus dem Gesicht wischen, die diesen edlen Völkern durch den Westen und Amerika zugefügt wurden."
Ägypten wird dem Vorbild des Iran kaum folgen, obwohl unbestritten ist, dass Politiker wie Präsident Ahmedinejad in der einfachen Bevölkerung Ägyptens einiges Ansehen genießen. Die einzigen, denen man solche Ambitionen immer wieder nachsagte, sind die Muslimbrüder. 1928 von Hassan el Banna gegründet, unterhält diese Bewegung heute Zweige in weiten Teilen der muslimischen Welt und ihre politische Stärke wird in Ägypten auf 20 bis 30 Prozent geschätzt. Genaue Angaben gibt es nicht, weil sie entweder verboten oder stillschweigend geduldet – dann aber wieder um die Früchte ihrer Beteiligung an Wahlen betrogen wurden.
Die Muslimbrüder, die doch immer den Sturz der bestehenden – und allesamt als illegitim bezeichneten – Regime der arabischen Welt gefordert hatten, wurden selbst überrascht und offenbar überfordert von den jüngsten Entwicklungen. Auch davon, dass die meisten der Demonstranten, die da auf die Straße zogen in Kairo, Alexandria, Port Said und Suez, keinen islamischen Gottesstaat forderten, sondern einen modernen, demokratischen Rechtsstaat. Aber in den Reihen der Muslimbrüder hat sich in den letzten Jahren ohnehin einiges geändert: Man betrachtet den Islam zwar immer noch als ein starkes Band der Solidarität mit anderen Staaten und als eine wünschenswerte Grundlage für den eigenen Staat, der aber soll eher so organisiert werden wie die Türkei heute – auf einer eher laizistischen Verfassungsbasis also.
Ob es dazu kommt, wird davon abhängen, wie gut die Muslimbrüder, aber auch die anderen Gruppierungen und Parteien in der Lage sein werden, sich politisch zu organisieren, um bei den nächsten Wahlen um die Gunst der Wähler zu werben. Besonders wichtig dürfte diese Aufgabe für die breite Masse der Demonstranten werden, die bisher vor allem geeint waren in der Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten. Die sich bisher aber keine Gedanken darüber gemacht zu haben scheinen, wie es nach dem Rücktritt weitergehen soll.
Selbst wenn dies von den weitaus besser organisierten Muslimbrüdern ausgenützt werden könnte – das Horrorszenario dürfte kaum eintreten, das manche in den letzten Jahren gemalt hatten und das auch Mubarak nicht müde wurde zu beschwören: keine zweite Islamische Republik, kein Bruch mit den USA und auch keine Aufkündigung des Friedens mit Israel.
Dieser Frieden, den Mubarak-Vorgänger Sadat 1978 in Camp David besiegelte und 1979 in Washington unterzeichnete, ist in der ägyptischen Bevölkerung nicht sonderlich populär, auch nicht in den Streitkräften, deren ältere Offiziere sämtlich an Kriegen gegen Israel beteiligt gewesen waren. Aber was unter Mubarak der Fall war, dürfte nun fortgesetzt werden: Die Streitkräfte haben kein Interesse an neuen Spannungen und sie werden deswegen den Friedensvertrag mit Israel nicht anrühren und sicher auch alles daran setzen, dass keine Regierung zustande kommt, die das tun könnte. Selbst wenn Veränderungen natürlich stattfinden werden. Noch einmal Barack Obama:
"Es gibt sehr wenige Momente in unserem Leben, in denen wir das Privileg haben, geschichtliche Entwicklungen direkt mitzuerleben. Dies ist ein solcher Moment, ein solcher Augenblick. Die Menschen in Ägypten haben gesprochen, ihre Worte sind erhört worden und Ägypten wird nicht mehr so sein wie bisher."
In offiziellen Kreisen Israels hat man sich – zumindest in der Öffentlichkeit – bisher zurückgehalten: Natürlich sei man für eine Demokratisierung in der arabischen Welt, gleichzeitig habe man aber vor der eigenen Haustür schlechte Erfahrungen damit gemacht: In freien und demokratischen Wahlen war in den palästinensischen Autonomiegebieten die islamistische Hamas gewählt worden, die unversöhnlich in ihrer Ablehnung Israels bleibt und inzwischen den Gazastreifen beherrscht. Oder im Libanon, wo die schiitisch-islamistische Hisbollah durch freie Wahlen so stark wurde, dass sie inzwischen die Regierung stellt. Und gleichzeitig – mit iranischer Unterstützung – ihre offene Konfrontation mit Israel fortsetzt.
Zu Beginn der Krise in Ägypten hatte der israelische Ministerpräsident Netanyahu noch gewarnt, der Frieden mit Ägypten dürfe nicht gefährdet werden.
"Unsere Position ist klar: Wir stehen auf der Seite der Kräfte, die Freiheit, Fortschritt und Frieden fördern. Und wir erwarten, dass jede Regierung in Ägypten den Frieden respektiert. Mehr noch: Wir gehen davon aus, dass auch die internationale Gemeinschaft von jeder ägyptischen Regierung erwartet, dass sie den Frieden respektiert. Das muss klar sein."
Israel spielte beim Protest auf der Straße in Ägypten keine Rolle. So, wie auch die USA oder andere Staaten nicht beschimpft oder kritisiert wurden. Den Demonstranten ging es ganz offensichtlich in erster Linie um eigene, innenpolitische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme. Was natürlich nicht ausschließt, dass hieraus eines Tages eine breitere Kampagne auch gegen andere Länder entsteht. Washington zumindest ist sich dieser Möglichkeit bewusst und Präsident Obama hat deswegen Emissäre nach Israel und Jordanien geschickt. Wahrscheinlich, um dort für Zurückhaltung zu werben.
Alle Beiträge auf dradio.de zu den Krisen im Nahen und Mittleren Osten im Überblick:
Der arabische Aufstand