Michael Köhler: Es ist ein schwerer Abschied, weil man natürlich weiß, dass Nemzow einer der wenigen gewichtigen Stimmen der Opposition war und dass es sehr schwer sein wird, ihn zu ersetzen. Das sagte der Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler, am Rande der Trauerzeremonie heute in Moskau. Nach dem Attentat war ja die Befürchtung groß, in Kulturkreisen auch, dass dies abschreckende Wirkung haben könnte und die liberalen Kräfte stark verängstigt. Kann aber von den vielen Trauernden auch ein Zeichen, ein kritischer Impuls ausgehen? Das habe ich den ukrainischen Schriftsteller und Übersetzer Tymofiy Havryliv gefragt. Ist die lange Menschenschlange am offenen Sarg heute Vormittag ein gutes Zeichen gewesen?
Tymofiy Havryliv: Es ist auf jeden Fall ein ziemlich gutes, positives Zeichen, ein Zeichen der Solidarität, ein Zeigen der ganz normalen humanen Gefühle, wo irgendwo Gewalt geschieht. Es ist ganz normal, dagegen aufzutreten, dagegen aufzubegehren. Ich glaube, dass diejenigen, die Boris Nemzow ermordet haben und vielleicht damit gerechnet haben, dass die liberalen Kräfte, die russische Zivilgesellschaft dadurch verängstigt wird, haben die entgegengesetzte Wirkung erzielt.
Es war fast genauso in der Ukraine vor etwas mehr als einem Jahr, als vom Regime, vom damaligen Regime die Studentenproteste brutal niedergeschlagen waren. Da sind dann Hunderttausende Menschen auf die Straßen gegangen, um gegen die Gewaltanwendung zu protestieren. Ich glaube, zumal ist das wichtig in dieser menschlich emotionalen Ebene.
Zum Zweiten können wir momentan kaum einschätzen, ob es sich weiter verstärkt in die Richtung entwickelt oder ob es eine vorübergehende Erscheinung sein wird.
"Es war fast genauso in der Ukraine"
Köhler: Das sollte meine zweite Frage sein. Im ersten Moment nach dem Attentat haben viele gedacht, dies wird eine abschreckende Wirkung haben. Jetzt sehen wir diese beeindruckenden Zeichen der Trauer. Ist es eine Ermutigung? Wird es zur Stärkung der liberalen Kräfte beitragen? Wird es über den Tag hinaus Bestand haben? Was meinen Sie?
Havryliv: Für mich ist es eindeutig eine Erstarkung, ein Zuspruch, ein Rückenwind für die liberalen Kräfte seitens der russischen Gesellschaft, der Teile der russischen Gesellschaft. Jetzt geht es wahrscheinlich darum, wie sie von den Politikern, von den oppositionellen Politikern, von den ganzen Segmenten der Eliten, der oppositionellen Eliten genutzt werden.
Köhler: Mit einem russischen Maidan werden wir wohl nicht rechnen können?
Havryliv: Das kann man schwer abschätzen. Die Situation ist einigermaßen anders, aber auch nicht viel anders als in der Ukraine vor einem Jahr. Da haben auch selbst die wagemutigsten Kritiker oder Zeitbeobachter nicht damit gerechnet, dass es einen Maidan so schnell und so ziemlich stark geben wird. Ich beobachte hier eine etwa ähnliche Situation.
Es ist klar, dass die ganze Medienlandschaft in den Händen nur des Regimes sich befindet, vor allem das Fernsehen, das die meisten Russen sich anschauen. Aber in der modernen Welt ist es nicht mehr möglich, die Gesellschaft ganz von den alternativen Informationen auszuschließen.
"Die Ukrainer sind ziemlich betroffen"
Köhler: Wie denkt man in der Ukraine über das, was in diesen Stunden in Moskau passiert? Können Sie das einschätzen?
Havryliv: Ja. Die Ukrainer sind ziemlich betroffen. Das war schon ein ziemliches Mitleidgefühl bei allen, sowohl in der Zivilgesellschaft als auch in der jetzigen Regierung, beim Präsidialamt. Posthum wurde sogar Nemzow mit einer Auszeichnung für die Freiheit ausgezeichnet. Warum er gerade für die Ukrainer auch so wichtig ist? Weil er immer mit allen demokratischen Ansätzen und Bewegungen in der Ukraine Sympathie gezeigt hat. Er war eine ziemlich offene Natur. Er hat sich gefreut immer über jeden Erfolg der ukrainischen Zivilgesellschaft und der Ukraine schlechthin und hat immer denselben demokratischen Weg sich für Russland auch gewünscht. Er ist ein Antipode des jetzigen Machthabers im Kreml.
Köhler: Ein letztes, Herr Havryliv. Wie denkt man im Westteil der Ukraine über den Ostteil? Sehr spitz gesagt: Gibt man ihn verloren?
Havryliv: Nein. Ich glaube, dass es ziemlich zugespitzt ist zu sagen, über das Denken der West- und der Ostukraine, weil die Ukraine viel bunter, viel farbiger ist. Auch die Übergänge sind viel farbiger. Ich glaube, dass wir in der Ukraine alle uns nach dem Frieden, nach dem langfristigen Frieden sehnen, aber ein tatsächlicher Frieden wird nur dann kommen, wenn die Grenze zu Russland wirklich kontrolliert wird.
Köhler: Die Zeichen der Trauer - der Schriftsteller und Übersetzer Tymofiy Havryliv am Tag der Trauerzeremonie und Beisetzung des Kreml-Kritikers Boris Nemzow war das.
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