Für Matthias Lilienthal kommt die vorsichtige Öffnung der Theater nach dem Corona-Lockdown zu spät. Eigentlich hatte er zum Ende seiner Intendanz an den Münchner Kammerspielen einen fulminanten Premierenreigen geplant, dessen Höhepunkt eine 24-stündige Bustour durch München auf den Spuren von Roberto Bolaños Roman "2666" sein sollte. Nun konnte er gerade noch zwei kleine Premieren über die Bühne gehen lassen und musste sich ansonsten mit Internetformaten während des Lockdowns begnügen. Doch Matthias Lilienthal sieht die Experimente im Internet durchaus auch als Chance und sagt:
"Ich glaube, dass es richtig wäre, diese Internetpräsenz der Theater vollständig aufrechtzuerhalten und dadurch auch Akzente zu verlagern, sodass man Youtube- oder Zoom-Formate bestehender Produktionen in dem anderen Medium noch einmal neu entwirft."
Massive Bedrohung der Kultur
Doch bei aller Lust auf das Experiment und den Blick auf das kreative Potenzial der Krise sieht Matthias Lilienthal auch große Gefahren durch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie auf Kunst und Kultur zukommen. In den "Kulturfragen" im Dlf sagte er:
"Ich halte Kunst und Kultur für extrem bedroht. Und das merkt man auch an der Spardebatte, die im Moment in einer Stadt wie München geführt wird, wo pro Jahr für die Kulturinstitutionen im Ganzen 6,5 Prozent Kürzungen anstehen und das Gesamtbudget des Theaters für disponible Mittel gehalten wird. Und das ist in ganz vielen Bereichen so, dass da kulturelle Institutionen ins Herz getroffen sind. Und wenn das zwei Jahre anhält, dann glaube ich, dass das die Kultur deutlich dezimiert."
Der beschleunigte Entwurf einer neuen Gesellschaft
Politisch wie ästhetisch zieht Matthias Lilienthal für die fünf Jahre seiner Intendanz an den Münchner Kammerspielen eine positive Bilanz. Sein Plan, das Theater als "hybridisierte Form von Internationalität, von freien Gruppen und von Ensemble- und Repertoiretheater in eine andere Modernität zu führen" sei total aufgegangen, sagt er. Während die Flüchtlingsfrage immer wieder durch Kongresse und Diskussionen oder auch durch die Integration von syrischen Schauspielern in das Kammerspiel-Ensemble thematisiert wurde, verhandelte etwa die Regisseurin Anta Helena Recke in ihrer sogenannten Schwarzkopie der bereits bestehenden Inszenierung von Joseph Bierbichlers "Mittelreich", die ausschließlich mit People of Color besetzt war, Rassismus ebenso in der Gesellschaft wie auch im Theater selbst.
Und auch, wenn etwa Themen wie die Klima- oder die Flüchtlingskrise durch die Pandemie in den vergangenen Monaten in den Hintergrund gedrängt wurden, so sieht Matthias Lilienthal hier keine wirkliche Gefahr: "Ich glaube, dass etwa die Bewältigung der Coronakrise und der Klimakrise Hand in Hand gehen werden. Zumindest hoffe ich das. Und was da passiert, ist: ein sehr beschleunigter Entwurf einer neuen Gesellschaft."
In den nächsten Monaten will Matthias Lilienthal erst einmal eine Pause machen, doch die Theaterwelt sollte auch weiterhin mit dem 60-Jährigen rechnen:
"Wenn eine Stadt mir eine große Halle schenkt und sagt: Du hast zehn Millionen Budget im Jahr und denk dir doch Sachen aus, die zwischen den Genres bildender Kunst, Film und Theater sind und versuche, dort eine kulturelle Handschrift der Zukunft zu entwerfen. Dann gehe ich da hin, und mach das. Das ist das, wozu ich Lust hätte."