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Abschied von der Paranoia

Anti-Intellektualismus und ein paranoider Stil liegen der US-amerikanischen Politikkultur zugrunde, sagte einst der Historiker Richard J. Hofstadter. Nun ist möglicherweise eine Abkehr von diesem Stil zu beobachten. Der NSA-Datenskandal vereinte im Kongress eine überparteiliche Opposition.

Von Jürgen Kalwa |
    Es ist ein halbes Jahrhundert her, da veröffentlichte der amerikanische Historiker Richard J. Hofstadter kurz nacheinander zwei Bücher, in denen er einige der herausragenden Facetten des amerikanischen Politikprofils thematisierte: Anti-Intellektualismus und eine besondere, krankhafte Befindlichkeit. Er nannte sie den "paranoiden Stil”, weil "kein anderes Wort angemessen die überdrehte Übertreibung, das Misstrauen und die konspirative Fantasie widerspiegelt, die ich im Kopf habe”.

    Die Arbeiten machten Eindruck. Hofstadter bekam 1964 den Pulitzer-Preis.

    Seitdem haben eine ganze Reihe von Ereignissen das Land und seine politischen Eliten herausgefordert: Vietnam, Watergate und zuletzt der 11. September 2001. Sie durch das Prisma von Hofstadters Einschätzung zu betrachten, lohnt sich. Auch heute noch. Der hatte einst gesagt, der paranoide Stil komme in Wellen mit unterschiedlicher Intensität, aber sei im Grunde unausrottbar. Was unter anderem den Erfolg einer Figur wie Sarah Palin erklärt. Kaum jemand in letzter Zeit war so perfekt in der Lage, die anti-intellektuelle Haltung und den paranoiden Stil in einer Person zu vereinen.

    Doch die amerikanische Politik ist vielschichtiger. So werden im Alltag der Gesetzgebungsmaschine von Washington meistens beide Merkmale übertüncht. Die Reden und das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten im Kongress wirken eher so, als ginge es ständig um die Demarkationslinie zwischen rechts und links. Was nicht stimmt. Weshalb es mitunter zu Ereignissen kommt, die in anderen Parlamenten kaum vorstellbar scheinen. So wie am Mittwoch, als sich im Repräsentantenhaus eine ungewöhnliche Koalition aus ideologisch weit voneinander entfernten linken Demokraten und rechten Republikanern formierte. Sie verbindet ein gemeinsames Ziel: Die National Security Agency in ihre Schranken zu verweisen und das Ausspähen unbescholtener Bürger zu verhindern.

    Der Antrag scheiterte. Mit 215 zu 207 Stimmen. Aber das war knapp. Einige Kommentatoren sahen darin einen Zeitenwechsel.

    Was die Kongressabgeordneten umtreibt, könnte man mit Hofstadter als pure Paranoia einstufen. Das Misstrauen ist intensiv. Denn Barack Obama betreibt eine Politik, die sich von den Allmachtsfantasien seines Vorgängers George W. Bush nicht wesentlich unterscheidet.

    Eine Paranoia, die richtungsbestimmend werden könnte. Bis dato hatte Obama ohne Gegenwind aus dem Kongress an der imperialen Präsidentschaft weiterzimmern können. Dank eines überparteilichen Konsenses für den Überwachungsstaat. Weshalb Jack Balkin, ein angesehener, linksliberaler Jura-Professor an der Yale University voraussagte: Die auf die Bürgerrechte pochende Opposition werde nach Ablauf der Präsidentschaft von Obama in drei Jahren schlichtweg keine politische Heimat mehr haben.

    Was er nicht kommen sah: wie Enthüllungen wie die des in Moskau festsitzenden Exilanten Edward Snowden die Stimmungslandschaft verändern können. Seither wächst die Zahl derjenigen, die den Schnüffelstaat ablehnen. So glaubt nur noch eine knappe Mehrheit, dass die Vereinigten Staaten durch Überwachung sicherer werden.

    Der Stimmungswechsel hat die Organisatoren des "1984 Day” ermuntert, die an George Orwells Vision eines totalen Überwachungsstaates anknüpfen. Sie wollen am 4. August Demonstration in mehreren Städten auf die Beine stellen, zu denen 100.000 Amerikaner erwartet werden.