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Abschied von Sir Simon Rattle
"Einer der ersten, die der Gegenentwurf sind zum Dompteur"

Am Mittwoch leitete Sir Simon Rattle sein letztes Sinfoniekonzert als Musikdirektor der Berliner Philharmoniker. Der Brite verkörperte als Erster die neue Ära der heutigen Dirigenten, sagte Knut Weber, Cellist und Orchestervorstand der Berliner Philharmoniker im Dlf. "Er ist auch jemand, der sich bereichern lässt von anderen."

Knut Weber im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Sir Simon Rattle nach seinem letzten Konzert als Chefdirigent in der Berliner Philharmonie
    Großer Applaus für Sir Simon Rattle nach seinem letzten Konzert in der Berliner Philharmonie (picture alliance / Annette Riedl)
    Christoph Heinemann: Herr Weber, guten Tag!
    Knut Weber: Guten Tag!
    Heinemann: Erinnern Sie sich an Ihren ersten Eindruck von Simon Rattle?
    Weber: Ja! Und zwar habe ich in der Zeit in Köln studiert und habe gesehen, die Wiener Philharmoniker touren mit Simon Rattle und kommen nach Köln in die Philharmonie. Ich habe mich dann versucht, reinzuschleichen. Das ist mir auch gelungen. Ich habe mich dann als Österreicher ausgegeben, der ich ja auch bin, aber als Musiker, der da mitwirkt, und habe das anscheinend so authentisch hingekriegt, dass ich da reingelassen wurde, und habe mir das Konzert angehört und das war ein unglaubliches Erlebnis.
    Es war so eine explosive Energie auf der Bühne, die natürlich sehr, sehr stark von Simon Rattle ausgegangen ist, und ich war so fasziniert, als ich ihn dann später erlebt habe als Mitglied schon der Berliner Philharmoniker und ihn als Gastdirigenten, war ich natürlich genauso elektrisiert auf der Bühne. Aber ich habe mich entsprechend auch vorher darauf gefreut.
    Knut Weber, Cellist und Orchestervorstand der Berliner Philharmoniker.
    Knut Weber, Cellist und Orchestervorstand der Berliner Philharmoniker (Berliner Philharmoniker / Sebastian Hänel )
    Heinemann: Die explosive Kraft haben Sie jetzt angesprochen. Welche sind seine Stärken, vielleicht auch die Schwächen?
    Weber: Wenn man es jetzt versucht, in einem Satz zusammenzufassen, würde ich sagen: Seine unglaublich vielseitigen Programme. Das ist ja auch etwas, was einen Dirigenten ausmacht. Seine Programmgestaltung. Vor allem, wenn man einen Dirigenten als Chef wählt, dann ist das sehr, sehr wichtig.
    Was auch einen Dirigenten ausmacht, einen guten Dirigenten, ist eine sehr hohe soziale Kompetenz. Eine sehr konzentrierte und sehr gut durchdachte Probenarbeit zum Beispiel ist sehr wichtig für uns Orchestermusiker. Eine große Loyalität zum Orchester. Das hat er alles, würde ich fast sagen, exemplarisch mitgebracht. Und natürlich dann beim Dirigieren selbst im Konzert eine Ausstrahlung, eine Aura, diese starke Energie, die er ausstrahlt, und die Kraft, die er hat, um ein Orchester zu animieren beim Dirigieren.
    "Einer der ersten, die der Gegenentwurf sind zu einem Dompteur"
    Heinemann: Soziale Kompetenz, haben Sie gesagt. Das heißt, die Zeit der Dompteure ist vorbei?
    Weber: Er hat das erste Mal die Berliner Philharmoniker dirigiert 87. Da hat Karajan noch gelebt und war auch noch Chef. Das war eine ganz andere Zeit. Wenn man jetzt Dompteur sagt - man hat ja, glaube ich, Herrn von Karajan auch manchmal so genannt -, wenn man das jetzt vergleicht, dann muss man fast sagen, vielleicht ist Simon Rattle einer der ersten, die der Gegenentwurf sind zu dem Dompteur.
    Natürlich war auch ein Claudio Abbado kein Dompteur, aber er hat vielleicht seine Macht auf eine andere, auf eine subversivere Art irgendwie doch auch ausgeübt. Und Simon Rattle ist jemand, mit dem man, ich denke, über fast alles oder vielleicht sogar über alles sprechen kann, und zwar jeder Einzelne aus dem Orchester. Und er ist jemand, der sich auch beraten lässt sogar in musikalischer Hinsicht.
    Gestern Abend hatten wir das letzte Konzert mit ihm als Chefdirigenten in der Philharmonie, und das war natürlich ein sehr emotionaler Moment. Ich habe kurz danach mit ihm noch mal gesprochen und er hat gesagt, er hat so unglaublich viel gelernt von diesen Musikern in diesem Orchester. Das heißt, es ist auch jemand, der das auch zulässt, sich bereichern zu lassen von anderen.
    Der Dirigent Simon Rattle
    Der Dirigent Simon Rattle (Monika Rittershaus/Musikfest Berlin)
    Heinemann: Das würde mich zu der Frage bringen: Welcher Einfluss ist eigentlich stärker, der des Chefdirigenten auf das Orchester oder umgekehrt des Orchesters auf den Chef?
    Weber: Das ist eine gute Frage. Jetzt in unserem Fall: Das Orchester ist jetzt deutlich über 100 Jahre alt, schon bald 150 Jahre alt. Ich denke, dass eine gewisse Tradition erhalten bleibt, obwohl es natürlich immer wieder einen Austausch gibt an Musikern.
    Das ist, glaube ich, möglich - dadurch, dass nicht alle immer zum gleichen Zeitpunkt wechseln, sondern das zeitversetzt passiert und eine Spielkultur überliefert wird von dem einen zum anderen Musiker. Ein Chefdirigent hat dann eine bestimmte Zeit zur Verfügung, in der er das Orchester formen kann, und in der Zeit wird das Orchester auch geformt und geht in eine bestimmte Richtung, und das ist ja immer auch dann die große Frage, in welche Richtung wollen wir gehen, wenn man sich einen Chefdirigenten aussucht.
    Ich würde sagen, das ist auf beiden Seiten sehr, sehr stark. Vielleicht dadurch, dass das Orchester schon eine Zeit vor dieser Person, vor diesem Chefdirigenten hatte und danach eine haben wird, ist der Einfluss des Chefdirigenten aufs Orchester nicht ganz so groß wie umgekehrt.
    Der russische Dirigent Kirill Petrenko
    Rattles Nachfolger: Der russische Dirigent Kirill Petrenko wird die Berliner Philharmoniker in Zukunft leiten (Victoria Bonn-Meuser/dpa)
    Heinemann: Okay. Schauen wir auf die Zeit danach. Es war ja nicht ganz einfach, sich auf einen Nachfolger zu einigen. Sie benötigten zwei Wahlgänge. Was wird sich ändern unter dem künftigen Chef, unter Kirill Petrenko?
    Weber: Was ich hoffe und was ich für mich auch ganz klar so sehe ist, dass auch seine soziale Kompetenz sehr, sehr hoch ist. Er ist ein sehr, sehr umgänglicher Mensch, ein sehr liebenswerter Mensch und jemand, der sicher immer auch an sich arbeitet. Das ist wahrscheinlich gar nicht so einfach, wenn man ein Chefdirigent ist und klare Ansagen machen muss, dass man trotzdem beibehalten kann.
    Ihm traue ich das ganz eindeutig so zu, dass er eine sehr, sehr klare musikalische Linie hat und ganz klar etwas vorgeben kann, aber trotzdem immer wieder sich auch hinterfragen wird. Ich denke auch, dass das gemeinsam mit dem Orchester passieren wird, ein Diskurs in künstlerischer Hinsicht.
    Heinemann: Wenn es nun dazu kommt, dass ein Dirigent ein Werk aufführt oder so aufführen möchte, dass es Ihnen als Musiker gegen den Strich geht, beim Cello ja vielleicht sogar im wahrsten Sinne des Wortes, ärgern Sie sich dann?
    Weber: Inzwischen kann man, glaube ich, mit jedem Dirigenten sprechen. Ich bin Stellvertreter des Orchesters, also Orchestervorstand, und habe da öfter Gelegenheiten, auch mit den Dirigenten mich auszutauschen.
    "Ich würde sagen, diese langen Zeiten, die basieren natürlich auch auf einem sehr, sehr großen Vertrauen"
    Heinemann: Geht das? Kann man sagen, hören Sie mal, so können Sie das wirklich nicht machen?
    Weber: Na ja, vielleicht in einer anderen Art. Aber sinngemäß könnte man sagen, wir haben viele Aufführungen von dem Stück schon gemacht, wir haben diese und diese Erfahrungen, vielleicht könnte man versuchen, da aufeinander zuzugehen. Das ist möglich.
    Beim Chefdirigenten ist es wieder was ganz anderes natürlich, weil ein Chefdirigent auch die Möglichkeit hat, das Orchester zu erziehen, wenn man so will, und der wird sich wahrscheinlich dann schon was dabei denken.
    Heinemann: Zehn Chefdirigenten leiteten die Philharmoniker in den letzten 136 Jahren. Ich habe mal nachgezählt: Karajan 35 Jahre lang, Simon Rattle jetzt 16 Jahre. Was bedeuten solche eheähnlichen Zeitspannen für ein Orchester?
    Die Berliner Philharmoniker
    Blick auf das Orchester der Berliner Philharmoniker (imago / Kai Bienert)
    Weber: Es bedeutet schon mal zunächst, wenn jemand ins Orchester kommt, in einem Jahr, wo ein Chefdirigent gerade seine Chefposition antritt, dass man mindestens ein Jahrzehnt in der Vergangenheit, manchmal auch mehr nur mit diesem Chefdirigenten verbringt.
    Unser Orchester hat, seit Sir Simon seine Amtszeit bei uns begonnen hat, sich nicht ganz um die Hälfte, aber deutlich über ein Drittel verändert. Das heißt, die Leute, die seit damals neu dazugekommen sind zu den Berliner Philharmonikern, die haben nie einen anderen Chef gehabt in den allermeisten Fällen. Das ist schon mal etwas, würde ich sagen, sehr, sehr Prägendes.
    Das Orchester kennen sie natürlich auch in anderen Konstellationen mit Gastdirigenten, aber jemand, der so häufig kommt und natürlich seinen Einfluss auch hinterlässt und seine persönliche Note, der beeinflusst natürlich auch jeden einzelnen Musiker. Das ist so.
    Ich würde sagen, diese langen Zeiten, die basieren natürlich auch auf einem sehr, sehr großen Vertrauen, und das ist, glaube ich, auch die Voraussetzung, dass man überhaupt so lange miteinander arbeiten kann.
    "Das Miteinander funktioniert nicht nur spannungsfrei, sondern ist sogar Teil des Erfolgs"
    Weber: Herr Weber, Sie haben eben schon gesagt, Sie sind gebürtiger Österreicher. Im Orchester spielen Musikerinnen und Musiker aus vielen Nationen zusammen. Wie erleben Sie diese Verschiedenheit?
    Weber: Ja, das ist für uns ganz normal. Man fragt ja nicht, ob der erste Oboist jetzt aus England kommt oder aus Spanien. Wir sprechen ja die gleiche Sprache. Das klingt ein bisschen klischeehaft, aber wir wählen ja die Leute aus nach dem, wie sie spielen.
    Jeder präsentiert sich von uns einmal auf der Bühne vor dem gesamten Orchester und jeder im Orchester hat ein Stimmrecht, um jemanden zu engagieren. Man liest zwar schon den Lebenslauf, aber ich würde sagen, wir schaffen, das so objektiv zu beurteilen, dass die musikalische Aussage diejenige ist, aufgrund der jemand ins Orchester kommt.
    Das heißt, ob man dann auf Tournee, wenn man mit neuen Leuten, mit neuen Kollegen zusammensitzt, dann auch mal auf Englisch spricht oder so, das ist vielleicht ein kleiner Seiteneffekt. Aber das ergibt sich meistens, weil natürlich dann doch alle Deutsch lernen, wenn sie hier sind.
    Heinemann: Das funktioniert spannungsfrei?
    Weber: Ja. Das Miteinander, würde ich sagen, funktioniert nicht nur spannungsfrei, sondern ist sogar Teil des Erfolgs, würde ich sagen, oder des guten Zusammenlebens. Wir sind ja sehr viel auch gemeinsam unterwegs, wo man dann gemeinsam im Zug sitzt, im Bus sitzt, im Flugzeug sitzt und zum Hotel fährt, zur Probe fährt, und da ist es unumgänglich, dass man miteinander auch kommuniziert, und das funktioniert bei uns sehr gut, würde ich sagen.
    Heinemann: Werden Sie Simon Rattle vermissen?
    Weber: Ich werde immer wieder wahrscheinlich ihn auch mal vermissen als jemand, der sehr, sehr viele vorhin angesprochene Stärken hat. Aber ich werde ihn nicht vermissen in der Saison, weil er als Gastdirigent zurückkommen wird. Er macht in der nächsten Saison zwei Programme, einmal auch eine Johannes-Passion, die wir schon mal gemacht haben in einer szenischen Aufführung, und ein anderes Programm, auch mit einer Schumann-Sinfonie und einem neuen Stück von Lachenmann. Er lebt auch weiterhin in Berlin. Ich denke mal, man wird ihn hin und wieder sehen. Gestern hat er noch zu mir gesagt, er freut sich auf die Momente, in denen er als Zuhörer im Saal sitzen kann und seinem wunderbaren Orchester lauschen kann.
    Heinemann: Verabschieden wird er sich definitiv in der Waldbühne jetzt mit der Berliner Luft.
    Weber: Ja! Sagen wir mal so: Man kann davon ausgehen. Aber er hat auch andere Dinge vor noch in der Waldbühne. Jetzt hat er sich verabschiedet natürlich einmal auf Tournee länger. Letzte Woche hatten wir ein Überraschungskonzert für ihn und ein Late Night Konzert veranstaltet. Da haben wir uns von ihm verabschiedet. Gestern war das letzte Konzert in der Philharmonie als Chef und der allerletzte Abschied ist dann natürlich auch von den Berlinern in der Waldbühne, und man kann davon ausgehen, dass man auf jeden Fall am Schluss des Konzerts die Berliner Luft hören wird.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.