Eines wird wohl nie ganz klar sein: Wie viele Menschen nämlich heiße Tränen in den Augen hatten, als sie erfuhren: Mit "Willkommen bei Carmen Nebel" geht es zu Ende. Deshalb kann auch offen bleiben, wie groß der Anteil der Freudentränen war.
Aber egal. Selbst wer es sich umständehalber nicht bei jeder einzelnen Show mit Häppchen, Piccolöchen und Tabletten-Box vor dem Fernsehen gemütlich machen konnte, hatte doch immer intuitiv die Gewissheit: Die Sendung von Carmen Nebel gehört, wie sonst nur Florian Silbereisens "Feste der Volksmusik" und Andrea Kiewels "Fernsehgarten", zur musikalischen Identität Deutschlands. Diesem oft missverstandenen Land, das doch so freundlich sein kann und so glücklich.
Im Taumel blanker Bejahung
Das wird keiner leugnen, der je am Bildschirm in die strahlenden Augen Tausender sah, wenn sie mit Viki Leandros "Ich liebe das Leben" summten. Oder wenn sie mit Heino – im Taumel blanker Bejahung rhythmisch klatschend – "Blau, blau, blau, blüht der Enzian" sangen. Oder wenn sie, wie etwa 2014, ihre oberste Göttin anbeteten, Helene Fischer, die mit ihren tollen Liedern dem Schlager die Tür zum gehobenen Geschmack endgültig aufgestoßen hatte, jawohl!
Unter dem dankenswerterweise überlieferten Video des Top-Acts notierte ein Youtuber namens Hänschen Dampf noch kürzlich, dem ganzen Schlagervolk aus der Seele sprechend: "Oh Mann, Helene und Carmen – mehr geht nicht!" Wobei unklar bleibt, inwieweit sich Hänschen Dampf von Helenes Höschen-Rock benebeln ließ, der am Tag der Show rätselhaft hoch oberhalb ihrer Oberschenkel schon wieder zu Ende war.
Ein Bollwerk gegen das Unzüchtige
Aber, Gott bewahre, natürlich ist Nebels Show ein Bollwerk wider alles Unzüchtige, Ungebührliche und die garstige Unbill der Welt da draußen sowieso. Sie ist ein musikalischer Hochsicherheitstrakt für das Heile, ein öffentlich-rechtliches Elysium, kurz: eine gelebte Utopie, porentief gereinigt von allem Bösen.
Jeder weiß: Es gibt Sendungen für Konsumenten ab dem achtzehnten, sechzehnten, dem zwölften und dem sechsten Lebensjahr. "Willkommen bei Carmen Nebel" aber garantiert im Zweifel schon dem Embryo im Uterus schöne Stunden. Trotzdem begeistert die Show de facto eher die Silberhaarigen, unter denen die Empörung über das bevorstehende Ende - also jetzt nicht ihr eigenes, sondern das der Sendung - tatsächlich am größten ist.
Gotthilf Fischer: "So jung schon zum alten Eisen"
Die Bild-Zeitung vermeldete gestern zwar keinen Gelb-Westen-artigen Krawall, wohl aber einen "Aufstand der Senioren". Und bei dem hat der "Kult-Chorleiter" Gotthilf Fischer mit würdigen 91 Jahren ein wichtiges Wörtchen mitzureden, nämlich folgendes:
"Als bei mir das Ende der Sendung [Straße der Lieder] kam, war ich 80. Frau Nebel ist mal gerade 62. Es ist bedenklich, wenn man so jung schon zum alten Eisen gezählt wird." Bitte schön, ihr U-30- und U-40-Jährigen: Nehmt das! Ein Gotthilf Fischer ist mit den Fischer-Chören vermutlich schon vor Bismarck aufgetreten. Wenn sich diese unanfechtbare Autorität für Nebel ausspricht, dann haltet ruhig mal eure Grünschnäbel und hört euch irgendwas Krankes auf Spotify an.
Eine Epiphanie nach der anderen
Ach, liebe Carmen, schon vom Namen her dem Lied geboren, wie du das alles jedes Mal neu einfädelst! Da kann aus der Schlager-Gruft auferstehen welcher Zombie auch immer, ob Sandra, ob Thomas Anders, ob Mary Roos, ob Matthias Reim. Du begrüßt jeden und jede wie eine Erscheinung, die huldvoll vom Himmel zu uns herabsteigt. Du moderierst gar keine Sendung, nein, du moderierst eine Epiphanie nach der anderen.
Wenn aber nun im nächsten Jahr wirklich das letzte Stündlein schlägt, zu dem du dir keine Geringere als VerOna Pooth eingeladen hast - sicherlich wirst du sagen "eine besondere Frau, eine der ganz Großen", denn das sagst du immer -, dann hol bitte auch den Roland Kaiser dazu. Wir müssen sicher nicht groß erklären, warum: Natürlich damit wir uns vor dem Fernseher erheben und mit ihm und mit allen Menschen guten Herzens die unvergängliche Melodie anstimmen: "Ich weiß, du wirst gehen, ich muss dich verstehen... Lieb mich ein letztes Mal."