Nach Erkenntnissen einer multi-nationalen Ermittlergruppe wurde das Flugzeug vor zwei Jahren mit einer russischen Boden-Luft-Rakete über der Ostukraine abgeschossen. Lambsdorff betonte, es wäre vorschnell, von einer vom Kreml oder vom russischen Verteidigungsministerium angeordneten Maßnahme zu sprechen.
Lambsdorff schloss nicht aus, dass die Maschine "auf Ebene der Rebellen vor Ort versehentlich" abgeschossen worden sei. Die Tatsache aber, dass so ein raffiniertes Waffensystem an die Rebellen geliefert worden sei, falle in die Verantwortung Russlands, betonte der FDP-Politiker.
Strafmaßnahmen gegen Moskau lehnte Lambsdorff auf Basis derzeitger Erkenntnisse ab. Es sei völlig unklar, wer den Befehl gegeben habe. "So lange nicht nachgewiesen werden kann, dass es sich um russisches Regiungshandeln geht, halte ich eine Verschärfung der Sanktionen nicht für angesagt."
Moskau hatte gestern den veröffentlichten Bericht der Ermittlergruppe als voreingenommen und politisch motiviert zurückgewiesen. Die Boeing 777 der Fluggesellschaft Malaysia Airlines war am 17. Juli 2014 auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur über der Ostukraine abgestürzt. An Bord waren 298 Menschen, darunter 196 Niederländer.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Die Fakten, die da gestern in den Niederlanden auf den Tisch gelegt wurden, die sprechen eine ziemlich eindeutige Sprache. Es ging um den Abschuss vor zwei Jahren von Flug MH-17 auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur. Über der Ostukraine wurde das Flugzeug von einer Boden-Luft-Rakete vom Typ BUK getroffen. Das internationale Ermittlerteam sagt nun, eindeutig wurde diese Rakete aus Russland geliefert und sie wurde abgeschossen aus einem Gebiet, das damals unter Kontrolle der prorussischen Rebellen in der Ukraine stand. Russland und seine Verbündeten seien demnach die Verantwortlichen für diese Tat, die 300 Menschen das Leben gekostet hat. Aus Moskau wurde dieser Befund umgehend als "politisch motiviert" zurückgewiesen. - Am Telefon jetzt der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff. Er ist der Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Schönen guten Morgen, Herr Lambsdorff.
Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Haben Sie noch irgendwelche Zweifel daran, dass Russland hinter diesem Abschuss steckt?
Graf Lambsdorff: Es gab schon länger keine Zweifel daran, dass es erstens eine BUK-Rakete war und diese zweitens vom Rebellengebiet, also aus einer der sogenannten Volksrepubliken abgeschossen worden ist. Was auch die niederländische beziehungsweise multinationale Untersuchung jetzt nicht aufklären konnte ist: Wer war persönlich verantwortlich und hat es Vorsatz gegeben. Dementsprechend ist diese persönliche strafrechtliche Qualität der Ermittlungen noch nicht abgeschlossen beziehungsweise noch nicht gewährleistet. Hier bleibt noch Arbeit zu tun.
Armbrüster: Das heißt, wer den Finger jetzt gleich in Richtung Kreml, in Richtung Wladimir Putin streckt, der hat nicht Recht?
Graf Lambsdorff: Der macht zumindest eine Vermutung, die nicht belegbar ist. Was belegbar ist sind die technischen Dinge. Die sind schon länger klar gewesen. Da hat die Untersuchung nicht viel Neues gebracht, sie hat es nur noch einmal konsolidiert. Aber die Untersuchung hat ja selber gesagt, das Team, der Leiter des Teams hat ja selber gesagt, die Untersuchungen gehen weiter. Man hat einige Personen identifiziert, die man mit dem Abschuss in Verbindung bringen kann. Deren Namen hat man nicht genannt und deswegen ist es vorschnell, jetzt klar zu sagen, es wäre eine vom Kreml angeordnete oder vom russischen Verteidigungsministerium oder vom russischen Generalstab angeordnete Kampfmaßnahme gewesen. Ich glaube, das wäre einfach vorschnell.
"Es ist wahrscheinlich, dass ein versehentlicher Abschuss erfolgte"
Armbrüster: Wie könnte es denn sonst gelaufen sein?
Graf Lambsdorff: Nun, wir haben ja Gespräche gehört der Rebellenkommandeure vor Ort in der Nähe von Snischne, wo jemand aus einer sehr niedrigen Hierarchiestufe dem Vorgesetzten meldete, man habe ein großes ukrainisches Transportflugzeug abgeschossen. Und dann einige Zeit später, als die Absturzstelle erreicht worden ist, dann gab es Anrufe, mit denen relativ erschrocken festgestellt wurde, dass es sich nicht um ein Transport-, sondern um ein Verkehrsflugzeug gehandelt habe. Mit anderen Worten: Es ist auch nicht ausgeschlossen, nach meinem Dafürhalten sogar eher wahrscheinlich, dass hier ein versehentlicher Abschuss erfolgt ist auf Ebene der Rebellen vor Ort, dass deswegen also eine Beschuldigung der russischen Hierarchie vorschnell wäre. Ich will aber eines deutlich sagen. Alleine die Tatsache, dass ein so raffiniertes oder hoch entwickeltes Waffensystem wie diese BUK-Lafetten an die Rebellen geliefert worden sind, das ist eindeutig die Verantwortung Russlands. Insofern: Natürlich trifft Russland ein Teil der Verantwortung, aber wer das genau ist und wen es da genau trifft, das hat auch die Ermittlung gestern nicht klar gemacht.
Armbrüster: Aber muss man da nicht in der EU zumindest schon jetzt über deutliche Schritte gegen Russland nachdenken, über eine deutliche Reaktion?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, es gibt hier eine Reaktion der Europäischen Union gegenüber Russland angesichts seines Verhaltens, sowohl was die Annexion der Krim als auch was die Destabilisierung und den Bürgerkrieg im Osten der Ukraine betrifft. Die Sanktionen sind in Kraft, sie sind verlängert worden, sie laufen noch bis weit in das nächste Jahr hinein.
Armbrüster: Herr Lambsdorff, ist das hier nicht eine etwas andere Dimension, so ein Flugzeugabschuss mit knapp 300 Menschen an Bord?
Graf Lambsdorff: Herr Armbrüster, das ist es ohne Zweifel. Aber wenn wir hier über Sanktionen reden, dann sind das rechtsförmige Verfahren. Die Europäische Union ist eine Rechtsgemeinschaft. Wir verhängen keine Sanktionen aufgrund von Vermutungen, sondern aufgrund von nachgewiesenem Handeln. Was wir hier nachgewiesen bekommen haben durch die internationale Kommission ist das, was wir wussten, nämlich dass das ein Abschuss von einer BUK-Lafette war, dass diese Lafette aus Russland gekommen war, dass aber völlig unklar ist, wer den Befehl gegeben hat und wer den Befehl ausgeführt hat. Solange hier Unklarheit herrscht, solange nicht nachgewiesen werden kann, dass es sich um russisches Regierungshandeln handelt, halte ich eine Verschärfung der Sanktionen aufgrund dieses Vorfalls - so tragisch, so dramatisch und so strafrechtlich relevant er ist -, halte ich eine Verschärfung der Sanktionen hier nicht für angesagt.
Armbrüster: Oder können wir da vielleicht aus Ihrer Reaktion herauslesen, dass Sie langsam etwas vorsichtig geworden sind, innerhalb der EU solche Anschuldigungen gegen Russland zu erheben?
Abwarten bis alle Fakten vorliegen
Graf Lambsdorff: Nein! Ich glaube, dass die Verantwortung Russlands für die Ereignisse im Osten der Ukraine völlig unbestritten ist. Es sind dort mehrere Tausend Menschen bei den Kämpfen ums Leben gekommen. Natürlich trägt Russland dafür die Verantwortung. Natürlich ist es richtig, dass die Europäische Union in übrigens bemerkenswerter Geschlossenheit aller ihrer Mitgliedsstaaten ein Sanktionsregime gegen Russland in Kraft gesetzt hat, das auch wirkt. Aber ich würde wie gesagt diesen Vorfall mit dem Flug MH-17 nicht herausgreifen und eine einzelne Sanktion jetzt daraus ableiten, die zusätzlich noch gemacht werden muss, sondern da sollten wir abwarten, was dieses internationale Ermittlerteam uns vorlegt, wenn es die Namen hat, wenn es die Befehlsketten hat, wenn es also klar benennen kann, wer Verantwortung trägt. Sollte das möglich sein, sollte das gelingen, können wir darüber erneut reden. Nur heute, zum heutigen Zeitpunkt auf Grundlage dessen, was da gestern vorgestellt worden ist, hielte ich das wie gesagt für übereilt und für unvorsichtig.
Armbrüster: Abwarten ist ein gutes Stichwort. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schreibt heute in einem Kommentar, die EU habe mit Russland, so wörtlich, "eine Engelsgeduld". Ist da was dran?
Graf Lambsdorff: Das sieht man in Moskau anders. In Moskau sieht man die Europäische Union nicht als nachgiebig oder geradezu übermäßig geduldig. In Moskau ist man bis auf den heutigen Tag wirklich überrascht davon, dass alle Mitgliedsstaaten, dass das Europäische Parlament, die Europäische Kommission, alle miteinander ganz eindeutig und ganz klar ein Sanktionsregime nicht nur verhängt haben, sondern es mehrfach verlängert haben, dass dieses Sanktionsregime wirkt. Auch das Gegenembargo der Russen tut ja weh!
Armbrüster: Aber Verzeihung! Es hat sich doch an der russischen Außenpolitik seitdem nichts geändert.
Graf Lambsdorff: Aber Sanktionen sind ja kein Lichtschalter, Herr Armbrüster. Sie verhängen ja keine Sanktionen und am nächsten Tag ändert sich das Verhalten der Gegenseite.
"Russland möchte die Regeln brechen"
Armbrüster: Nicht am nächsten Tag. Aber ich meine, das Ganze ist ja jetzt schon einige Jahre in Kraft.
Graf Lambsdorff: Das Sanktionsregime läuft jetzt seit ungefähr einem Jahr, anderthalb Jahren. Denken Sie an die Sanktionen gegen Südafrika wegen des Apartheid-Regimes, dort waren die Sanktionen Jahrzehnte in Kraft und sie haben nach langer Zeit dann auch Wirkung gezeigt und sie haben zu einem Politikwechsel geführt. Wir müssen eines sehen: Die russische Position in der internationalen Politik ist eine, die zurzeit auf Disruption angelegt ist. Russland möchte die Regeln brechen, um nachzuweisen, dass ihm niemand kann, dass ihm niemand ernsthaft Schaden zufügen kann. Damit möchte es sich auf Augenhöhe mit den USA begeben, von denen man in Moskau glaubt, dass genau das ihren Supermachtsstatus ausmacht. Das heißt, dieses Sanktionsregime ist genau richtig, weil wir damit die Kosten für dieses Verhalten nach oben treiben. Aber wir haben es nicht in der Hand, aus Brüssel heraus, diese fundamentale Orientierung der russischen Außenpolitik zu ändern, sondern wir können die Kosten dafür erhöhen, wir werden das gemeinsam mit Amerikanern, Kanadiern, Japanern, Australiern, dem gesamten Westen auch weiterhin tun. Aber bis wann sich Russland dazu entschließt, sich wieder im internationalen System als ein verlässlicher Partner zu verhalten, das ist eine Entscheidung, die in Moskau gefällt werden muss, und Sie haben völlig Recht, wenn Sie sagen, danach sieht es derzeit nicht aus. Das ändert aber nichts daran, dass die harte Reaktion der Europäischen Union auch durch einen Kommentar in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" nicht unterschätzt werden sollte. In Moskau weiß man sehr genau, was hier in Brüssel passiert.
Armbrüster: Was schätzen Sie denn, vielleicht ganz kurz zum Schluss? Was schätzen Sie als Zeitraum, mit dem wir rechnen müssen? Wie lange wird es noch dauern, bis sich da in Russland was ändert, wenn dieses Sanktionsregime aufrechterhalten wird?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, wir haben eine wirtschaftliche Lage in Russland, die immer schwieriger wird. In Moskau sieht man davon nicht viel, aber im Rest des Landes machen sich der niedrige Ölpreis, die erzwungenen Haushaltseinsparungen, die mangelnde Innovationskraft der russischen Wirtschaft langsam bemerkbar. Das heißt, ich glaube, dass irgendwann auch die Regierung in Russland erkennen wird, dass sie wieder eine Perspektive für die Bevölkerung entwickeln muss, das heißt Wirtschaftswachstum und bessere Lebensverhältnisse. Das passiert zurzeit jedenfalls noch nicht. Ich glaube, dass im Inneren der Druck für Reformen wachsen wird, und das wird dann hoffentlich auch zu einem kooperativeren Verhalten Russlands auf der internationalen Bühne führen.
Armbrüster: … sagt hier bei uns im Deutschlandfunk Alexander Graf Lambsdorff von der FDP, der Vizepräsident im Europäischen Parlament. Vielen Dank, Herr Lambsdorff, für Ihre Zeit heute Morgen.
Graf Lambsdorff: Ich danke Ihnen, Herr Armbrüster.
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