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Absolute Souveränität, ein Phantasma

Derrida war offensichtlich davon überzeugt, dass Philosophieren nichts anderes bedeutet als "sterben zu lernen" und dass sein philosophisches Erbe in der Nachwelt keinerlei Bestand haben wird. Heute, fünf Jahre nach seinem eigenen Tod, lässt sich feststellen, dass sein geistiges Erbe durchaus lebendig geblieben ist.

Von Klaus Englert |
    Als Jacques Derrida kurz vor seinem Tod der französischen Tageszeitung "Le Monde" ein Interview gab, wurde er nach dem Weiterleben seiner Philosophie befragt. Dem verblüfften Interviewer gestand er:

    "Was diese Frage betrifft, bin ich von den widersprüchlichsten Hypothesen überzeugt. Glauben Sie mir, ich habe eine doppelte Empfindung, denn zum einen muss ich lächelnd und gewiss undezent gestehen, dass man keineswegs begonnen hat, mich zu lesen. Zwar gibt es zweifellos viele gute Leser (vielleicht weltweit 20, 30 oder mehr), aber im Grunde ist es zu spät, dass sich das auswirken könnte. Zum anderen bin ich mir gewiss, dass 15 Tage oder ein Monat nach meinem Tod nichts mehr übrig bleiben wird. Ausgenommen das, was in den Pflichtbeständen der Bibliotheken verwahrt wird."

    Derrida war offensichtlich davon überzeugt, dass Philosophieren nichts anderes bedeutet als "sterben zu lernen" und dass sein philosophisches Erbe in der Nachwelt keinerlei Bestand haben wird. Diese Einsicht ist nicht weiter überraschend, hat er sich doch lange mit dem Überleben, mit dem Leben nach dem Tod und mit der Bedrohung durch den Tod auseinandergesetzt. Heute, fünf Jahre nach seinem eigenen Tod, lässt sich feststellen, dass sein geistiges Erbe durchaus lebendig geblieben ist, wenngleich er sicherlich keine "Schule" hinterlassen hat – von einem "Derridismus" ganz zu schweigen. Jacques Derrida hat zwar immer den gedanklichen Austausch gesucht, den zahlreiche Literaturwissenschaftler, Juristen, Psychoanalytiker, Ethnologen und Architekten bereitwillig annahmen, aber die Originalität seines zugleich rigorosen und spielerischen Denkens bleibt einzigartig. Bislang hat niemand sein Erbe angetreten, und es ist auch nicht absehbar, dass dies in Zukunft geschehen wird. In den letzten Jahren nach Derridas Tod haben sich einige prominente Philosophen eingehend mit seinem Denken beschäftigt. Peter Sloterdijk machte den Anfang, als er dem französischen Kollegen das Büchlein "Derrida ein Ägypter" widmete. Alexander García Düttmann, der Philosophie an der University of London lehrt, erzählt in seinem Buch "Derrida und ich" von der Persönlichkeit seines früheren Lehrers. Schließlich kommentieren deutsche, französische, italienische, israelische und amerikanische Philosophen in dem Sammelband "Mnema. Derrida zum Andenken" den Einfluss des französischen Denkers auf die internationalen philosophischen Debatten. Gemeinsam fragen diese Bücher nach Derridas Vermächtnis.

    Derridas Vermächtnis aufnehmen – davon hat sich auch der algerische Islamwissenschaftler Mustapha Chérif leiten lassen, als er kürzlich den Band "Begegnung mit Jacques Derrida. Der Islam und der Westen" veröffentlichte. Das Buch gibt Derridas Stellungnahmen wieder, die er im Frühjahr 2003 während eines Kolloquiums im Pariser "Institut du monde arabe" äußerte. Anlass war eine Podiumsdiskussion über westliche und arabische Kulturen. Jacques Derrida – 1930 im islamischen Algiers geboren und in einer jüdischen Gemeinschaft aufgewachsen – bekannte unumwunden, wie er sich das Verhältnis zu den arabischen Kulturen vorstellt:

    "Ich gelte keineswegs als eurozentrischer Philosoph. Wir müssen dafür kämpfen, damit Europa seinen Platz in der zukünftigen Welt findet – nicht so sehr in einem einheitlichen Markt, in einem neo-nationalistischen Staatenverbund oder in einer neuen militärischen Ordnung. Dagegen steht mein Ja für ein Europa, das nicht mit den techno-politisch-militärischen Supermächten rivalisiert, sondern gemäß seines Gründungsgeistes und seiner Politik zu einem Antrieb, ja sogar einem Labor für die Globalisierungsgegner wird – ohne dabei irgendwelche Interventionen zu schmieden, beispielsweise im Irak oder in den israelisch-palästinensischen Konflikten. Ich denke an eine europäische Politik, die der Ethik der Aufklärung geschuldet ist. Mir schwebt ein Europa vor, in dem es möglich wäre, die israelische Politik zu kritisieren, ohne sich des Antisemitismus verdächtig zu machen. Zugleich müsste es möglich sein, die legitimen Forderungen der Palästinenser, ihr Recht auf ihr Land und den eigenen Staat zu unterstützen, ohne der antisemitischen Propaganda der arabischen Welt zu verfallen. Mein Traum ist ein Europa ohne Anti-Amerikanismus und Antizionismus, ohne anti-palästinensische Phobien, ein Europa, in dem man sich mit Amerikanern, Israelis und Palästinensern verbünden kann, die ihre eigenen Regierungen wachsamer und mutiger als wir selbst kritisieren."

    Das politische Engagement, das Gespür für multikulturelle Einflüsse, kommt nicht von ungefähr. Derrida erzählte während der Konferenz, dass die eigene jüdische Gemeinde unmittelbar an ein arabisches Viertel grenzte, und dennoch war die christliche Kultur der französischen Kolonie prägend. Der Pariser Philosoph träumte von einem Dialog der Kulturen und Religionen, der einst im islamisch dominierten Spanien vorhanden war:

    "Meine Familie kam höchstwahrscheinlich aus Spanien, wo das griechische, arabische und jüdische Denken sich eng miteinander mischten. Ich denke, dass eine der wichtigsten intellektuellen Verantwortungen heute darin besteht, die Quellen und Momente wiederzufinden, wo diese Strömungen ( ... ) einander befruchteten. ( ... ) Wenn es zu einem Dialog kommen soll zwischen dem, was wir Okzident und Orient nennen, zwischen den verschiedenen kulturellen und religiösen Sphären auf der Welt, ( ... ) dann muss es eine Bedingung geben: ( ... ) die echte Säkularisierung des Politischen, das heißt die Trennung zwischem dem Theokratischen und dem Politischen. ( ... ) Ich glaube also, dass wir es als unsere oberste Aufgabe betrachten müssen, uns mit dem zu verbünden, was in der arabischen und islamischen Welt die Idee einer Säkularisierung des Politischen voranzubringen versucht"

    Jacques Derrida rief zu einer kulturellen Neuorientierung auf, als der US-Präsident George W. Bush gerade die militärische Besetzung des Irak anordnete. Mit Jürgen Habermas verfaßte er damals das Manifest "Unsere Erneuerung", und in seinem letzten großen Werk "Schurken" stellte er den unilateralen Machtanspruch der Vereinigten Staaten, die unbedingte staatliche Souveränität, radikal in Frage. Schließlich war es Bush, Präsident der einzig verbliebenen Weltmacht, der die Staaten manichäistisch in gute und böse aufteilte. Derrida folgerte daraus: Dieser religiös verbrämte Machtanspruch speise sich aus der gleichen Quelle wie bei den iranischen Erzrivalen, den Herrschern der islamischen Republik. Hier wie dort verhindert ein theokratisches Politikverständnis die demokratische Entwicklung des Landes.
    Jacques Derrida hielt bis zu seinem Tod am 08. Oktober 2004 an seiner Kritik staatlicher Souveränität fest. Entwickelt hat er sie drei Jahre zuvor in seinem Seminar La bête et le souverain an der Pariser Ecole des hautes études en sciences sociales. Nun haben Derridas Nachlassverwalter, unter anderen seine Witwe Marguerite, den ersten Band des von 2001 bis 2003 gehaltenen Seminars über die "Bestie und den Souverän" herausgegeben. Es handelt sich um Derridas letzte Lehrveranstaltung. Dem umfangreichen Buch soll ein zweiter Band folgen, schließlich die Publikation sämtlicher, an den Pariser Universitäten abgehaltenen Seminare. Der jetzt vorliegende Band lässt den Leser an Derridas lebendigem Seminarstil teilhaben. Er führt ihm Schritt für Schritt vor Augen, wie die minutiöse Arbeit der Dekonstruktion im Austausch mit den Studenten entsteht. In diesem Fall geht es also darum, die ungeteilte Souveränität zu dekonstruieren, der in der Regel, um den Herrschaftsanspruch zu untermauern, gottgegebene Attribute beigemengt werden. In dem Buch hinterfragt Derrida scharfsinnig die traditionell fest gefügten Gegensätze von Souveränität und Ohnmacht. Schließlich die von Mensch und Tier. Die Seminaraufzeichnungen verdeutlichen den Zusammenhang:

    "Dem Souverän kommt das Recht zu, den Ausnahmezustand auszurufen. Durch diese Willkürhandlung riskiert der Souverän allerdings, dass er sich der brutalsten Bestie angleicht, das Gesetz verletzt und sich über jegliches Gesetz stellt. Man kann also sagen, dass beide, Souverän und Bestie, außerhalb des Gesetzes zu stehen scheinen. Außerhalb-des-Gesetzes-Sein kann also bedeuten, über dem Gesetz zu stehen und dabei Gestalt und Ursprung der Gesetze einzunehmen. Es bleibt anzufügen, dass sich drei Figuren dieses Außerhalb-des-Gesetzes-Sein untereinander aufteilen und sich dadurch auf verwirrende Weise angleichen: die Bestie, der Verbrecher und der Souverän. Zwischen Souverän, Verbrecher und Bestie gibt es eine obskure und faszinierende Komplizenschaft, ja sogar eine beunruhigende gegenseitige Anziehung, eine unheimliche Verwandtschaft. Verbrecher, Bestie und Souverän nähern sich einander an, obgleich sie die jeweiligen Antipoden zu besetzen scheinen."

    Man merkt, worauf Derrida abzielt: Es gibt keine ungeteilte Souveränität. Kein Übel, keinen Machtmissbrauch, die die Souveränität lediglich von außen befallen würden. Deswegen kommt Derrida zu dem Schluss: Alle Staaten sind Schurkenstaaten, zumindest prinzipiell. Das verleitet den Pariser Philosophen zu der Einsicht: Die geteilte Souveränität ist unhintergehbar, die absolute Souveränität lediglich ein Phantasma. Wenngleich das keineswegs im Sinne eines George W. Bush ist. Jacques Derrida träumte von einem utopischen, aber machbaren Gegenmodell – einem "anderen Europa, einem Europa der sozialen Gerechtigkeit und Globalisierungsgegner". Im Mai 2004, wenige Monate vor seinem Tod, verkündete Derrida während der 50-Jahr-Feier der Zeitschrift Le monde diplomatique:

    "Ich plädiere für eine neue Internationale. Das ist ein Bund der Gegenseitigkeit, des Leidens und der Hoffnung, ein noch zurückhaltender, fast geheimer, aber ein zusehends sichtbarer Bund. Ein unzeitgemäßer Bund ohne Satzung, ohne Titel und Namen. Dieser Bund ist kaum öffentlich, wenngleich er genauso wenig geheim ist. Er ist ohne Vertrag und Koordinierung, er ist ohne Partei, Vaterland und nationale Gemeinschaft, ohne Staats- und Klassenzugehörigkeit. Die neue Vereinigung der Globalisierungsgegner ist in meinen Augen die einzige Kraft, die wirklich für die Zukunft steht. Ich glaube nicht an die große Revolution, die in naher Zukunft die Supermächte zu Boden zwingen wird. Doch ich glaube, dass die Bewegungen und Überzeugungen der Globalisierungsgegner bereits heute dazu beitragen, dass sich die Supermächte reformieren."

    Literatur:
    1. Klaus Englert: Jacques Derrida, Fink/UTB-Profile 2009, 115 S., 9,90 Euro.
    2. Mustapha Chérif: Begegnung mit Jacques Derrida. Der Islam und der Westen, Fink, 133 S., 19,90 Euro.
    3. Jacques Derrida: Séminaire. La bête et le souverain. Volume I (2001-2002), herausgegeben von Michel Lisse, Marie-Louise Mallet und Ginette Michaud, Galilée 2008, 469 S, 33,00Euro.