Christoph Heinemann: Am Telefon ist Andreas Gross, Nationalrat, also Abgeordneter des schweizerischen Parlaments, von der sozialdemokratischen Fraktion. Guten Morgen!
Andreas Gross: Guten Morgen, Herr Heinemann.
Heinemann: Herr Gross, leben zu viele Ausländer in der Schweiz?
Gross: Nein. Es ist keine Frage der Quantität, obwohl es ist tatsächlich so, dass die Schweiz mit Luxemburg zusammen mit Werten von über 25 Prozent in Europa an der Spitze liegt, sondern der entscheidende Punkt ist deren Status. Die Initiative würde für jene Ausländer, die einen sicheren Status haben, diesen in Frage stellen und sie diskriminieren. Und das ist menschenrechtlich höchst problematisch.
Heinemann: Was heißt genau "sicherer Status"?
Gross: Die Initiative möchte, dass alle Schweizer, oder alle Bewohner in der Schweiz, die keinen Schweizer Pass haben, nicht mehr einen sicheren Aufenthalt haben dürfen. Dass man sie jederzeit willkürlich rauswerfen kann. Selbst jene, die in der Schweiz geboren sind, die erste, zweite Generation, weil Sie wissen ja, auch das Einbürgern ist in der Schweiz eine sehr schwierige Sache. Viel mehr noch als der ökonomische Diskurs, der auch in Ihrem Beitrag dominiert hatte, geht es eigentlich letztlich um die Zwei-Klassen-Gesellschaft. Die nationalkonservative SVP möchte Menschen zweiter Kategorie, nämlich jene, die keinen Schweizer Pass haben, schaffen. Und das ist unglaublich. Das ist ein menschenrechtlicher Rückschritt für 30, 40 Jahre. Und was in Europa selbstverständlich ist, die Freizügigkeit, die Personenfreizügigkeit, wird infrage gestellt.
Heinemann: Aber die SVP schaut auch auf die Zahlen. Und das wollen wir auch mal eben machen. Österreich verfügt etwa über die gleiche Einwohnerzahl wie die Schweiz mit einem Ausländeranteil von 11,6 Prozent, in der Schweiz sind es 23,3. Ist eine Überprüfung der Einwanderungspraxis vor diesem Hintergrund nicht dringend notwendig?
Gross: Nicht notwendig, aber es gibt eine Tendenz, es gibt einen Diskurs, der das behauptet. Das gibt es auch in Bayern oder in Holland oder in Dänemark. Aber der Punkt ist: Wenn Sie den Text der Initiative genau anschauen, dann möchten die zurück zum Saisonier-Prinzip. Das heißt, jederzeit sollen je nach wirtschaftlichem Bedarf so viele Ausländer einwandern dürfen wie sie wollen, wie die Wirtschaft will, aber ihr Status darf nicht konsolidiert werden. Die Initiative behauptet etwas, was sie gar nicht liefert. Und das ist Teil der Demagogik und auch der rechtspopulistischen Art, die Menschen in ihren Ängsten zu mobilisieren, ihnen aber tatsächlich nicht nur keine, sondern sogar noch die konträren Antworten anzubieten.
Heinemann: Aber noch mal, Herr Gross, zu den Zahlen. Die Schweizerische Volkspartei rechnet, dass etwa 80.000 Menschen mehr ein- als auswandern pro Jahr. Das heißt jährlich eine Stadt in der Größe von Luzern oder St. Gallen. Wie viel Mal passt denn St. Gallen noch zwischen Bargen und Chiasso?
Gross: Uns geht es so gut wie selten. Es gibt auch wenige Völker, die so gut dran sind. Und das verdanken wir den Menschen, die hier arbeiten.
Heinemann: Wieso unterstützen dann so viele in den Umfragen zumindest die Initiative?
Gross: Und das ist das große Problem in der Schweiz, weil die Parteien zum Beispiel keine Ressourcen haben zur Aufklärungsarbeit. Einerseits bei der SVP ist es Blocher, der Millionen in den Abstimmungskampf reinbuttert. Und die andere Seite hat nur den Wirtschaftsverband. Und der Wirtschaftsverband dominiert mit einem ökonomischen Diskurs, der letztlich an den Menschen vorbeigeht und zu viele Menschen sind tendenziell in der Schweiz Rassisten. Sie haben keine Sensibilität für die Notwendigkeit der Menschenrechte, auch für jene, die keinen Schweizer Pass haben.
Heinemann: Aber die Menschen haben auch Sorgen: verstopfte Züge, verstopfte Straßen, Umweltschäden, überforderte Sozialsysteme, Lohndumping. Wie gehen Sie denn mit diesen Sorgen um?
Gross: Die Schweizer haben Sorgen, viele Schweizer haben Sorgen und je besser es ihnen geht, umso mehr Sorgen haben sie, man sagt auch Sorgen auf einem hohen Niveau. Und diese Probleme, die Sie genannt haben, die muss man angehen. Und da hat die Schweiz in gewissen Orten, nicht überall, in Zürich, in den Städten zum Beispiel Wohnungsnot, haben sie politisch die Interessen derjenigen, die nicht privilegiert sind, vernachlässigt. Da gibt es Probleme, aber die sind mit der Zahl der Ausländer nicht zu lösen, vor allem, wenn man die Zahl noch erhöht, aber ihren Status verschlechtert. Das führt auch dazu, dass die gut qualifizierten Menschen gar nicht kommen möchten, weil sie sich das nicht gefallen lassen können. Und genau das sind aber jene, die die Schweiz so nötig hat, auch die Deutschen.
Heinemann: Kommen Ihnen eigentlich bei dieser Abstimmung oder bei Abstimmungen wie der Minarett-Initiative 2009 Zweifel an der direkten Demokratie?
Gross: Nein, das ist mein Spezialgebiet. Ich zweifele nicht an der Notwendigkeit, dass Demokratie mehr sein muss als alle vier Jahre zwischen Pepsi-Cola und Coca-Cola auswählen. Ich bin ein großer Anhänger der republikanischen Freiheit, dass die Menschen wirklich auch mitbestimmen dürfen und können und mitreden dürfen, wie ihr Lebensumfeld gestaltet wird. Aber der entscheidende Punkt ist: Die Schweiz investiert zu wenig in die Infrastruktur, welche die direkte Demokratie nötig hat, dass auch jene Zeit haben, sich darüber Gedanken zu machen, um was es eigentlich geht, dass sie informiert werden, dass sie die Hintergründe kennen, dass sie gebildet werden. Die Deutschen haben weniger zu sagen, sind aber auf das wenige besser vorbereitet als die Schweizer, die sehr viel zu sagen haben. Dieses Manko, das zeigt sich bei dieser Abstimmung elementar.
Heinemann: Es gibt in der Schweiz eine Bewegung Ecopop. Die heißt Ökologie und Bevölkerung, die etwas Ähnliches fordert, nämlich eine Einwanderungsbegrenzung auf 16.000, eine Rückführung der Bevölkerungszahl. Das ist eine Bewegung, die von Umweltschutzextremisten und Mitgliedern auch der Grünen unterstützt wird. Die "FAZ" schrieb, es gäbe in der Schweiz eine Allianz der Extreme, eine grün-braune Allianz.
Gross: Braun und extrem ist ein bisschen hart. Sie müssen wissen – und das ist interessant -, wir haben jetzt etwa seit 50 Jahren, seit 1964 gibt es permanent Abstimmungen in der Schweiz und Vorschläge, welche die Ausländerfrage sozusagen über die Quantität, über die Zahlen, über eine Verschlechterung ihres Rechtsstatus lösen möchten. Das ist eine Dauerkomponente Schweizer Politik und da wird mit Ängsten gearbeitet, werden Ängste bewirtschaftet. Es gibt immer wieder diese auch ökologische Argumentation. Der berühmte Sohn des Schweizerischen Anti-Ausländer-Bewegungsführers Schwarzenbach, Oehen. Der hat in dieser rechten Szene immer einen ökologischen Diskurs auch gepflegt. Aber das reicht nicht. Die Ökologie geht nicht über Quantität, sondern über Qualitätsprobleme. Und wenn man findet, wenn die Menschen finden, ihre Interessen werden nicht berücksichtigt, dann müssen sie dafür kämpfen und nicht Sündenböcke suchen, die die Probleme verdecken und nicht die Ursachen der Probleme sind.
Heinemann: Andreas Gross, Nationalrat der sozialdemokratischen Fraktion. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Gross: Danke auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.