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Abstrakte Malerei in Tönen

20 Jahre, zehn LPs: Die Band Tocotronic feiert mit ihrem neuen Album "Wie wir leben wollen" Jubiläum. Auch nach zwei Jahrzehnten kann man sich noch den Kopf über das bisweilen erratische Schaffen dieser Rockband zerbrechen, und das durchaus mit Spaß.

Von Dirk Schneider |
    Mit dem Album "K.O.O.K." haben Tocotronic 1999 die Weichen neu gestellt, von Gitarren schrammelnden Schluffis in Trainingsjacken zur Rockband mit Kunstanspruch – und es war ein ganz großer Wurf. "K.O.O.K." war das fünfte Album der Band, nun sind sie bei Nummer zehn angelangt. "Wie wir leben wollen" lautet der manifesthafte Titel, ein Doppelalbum mit 17 Songs, über eine Stunde Musik, und man habe damit, so die Band, noch einmal neue Wege eingeschlagen.

    Technisch ist das Quartett einen großen Schritt zurückgegangen und hat auf einem historischen Vierspurgerät aufgenommen. Analoge Aufnahmen mit alten Equipment liegen voll im Trend, sind hier aber einer anderen Logik geschuldet: Man wollte damit keinen nostalgischen, warmen Sound erreichen, sondern sich von den tausend Möglichkeiten digitaler Aufnahmen freimachen, sich beschränken, um freier zu werden.

    Assoziierte Satzfetzen statt große Slogans
    Das Ergebnis klingt tatsächlich recht rau, viele Songs rumpeln rockig vor sich hin, ein bisschen einfallslos fast, dafür werden sie angereichert mit Bläsern, Chören oder exotischen Instrumenten wie dem Theremin, einem Vorgänger des Synthesizers. Oft beweisen Tocotronic aber auch wieder ihr einzigartiges Gespür für Dynamik und die Größe von Gitarren, die dann einsetzen, wenn Dirk von Lowtzow mal die Assoziationsmaschine abstellt. Wie ein Besessener leiert er diesmal nämlich seine Reime und Wortspiele herunter, die oft nicht mehr sind als gedrechselter Nonsens: Einst eine Band der großen Slogans, bleiben vor allem assoziierte Satzfetzen: "Eingewickelt in ein Tuch / Ornamentaler Fluch / Sozialer Wohnungsbau / Warm und Grau".

    Die Gitarren reißen es heraus und behaupten einmal mehr, dass Tocotronic eine echte Rockband sind, die sich mit von Lowtzow nur einen sehr eigenwilligen Texter leistet. Songtitel wie "Auf dem Pfad der Dämmerung", "Die Verbesserung der Erde" oder "Höllenfahrt am Nachmittag" klingen allerdings eher wie Titel von Gemälden, und vielleicht liegt darin ja die Neuerfindung von Tocotronic: Sie machen jetzt eine Art abstrakte Malerei in Tönen. Die Konzerte: Vernissagen, das Album: Ein Katalog. Denn man muss sich tatsächlich fragen, wie man diese Musik eigentlich hören soll: Als Hintergrundbeschallung wird sie doch schnell langweilig, und 70 Minuten den Textkaskaden zuzuhören ist schlicht eine Zumutung. Doch wer weiß: Es ist erstaunlich genug, dass diese Band mit ihrem vorangegangenen Album auf Platz eins der deutschen Charts war und bei Massenbesäufnissen wie Rock am Ring alljährlich zu den Headlinern gehört. Nicht viel überraschter wäre man, würden die Besucher dort diesen Sommer die stolzen 95 Zeilen des Songs "Vulgäre Verse" mitgrölen.

    "Erstaunlichste deutsche Band", diesen Titel möchte man Tocotronic zum Jubiläum verleihen. Dass man sich auch nach 20 Jahren noch den Kopf über sie zerbrechen kann, und das durchaus mit Spaß, dafür gebührt ihnen großer Dank und ein herzlicher Glückwunsch.


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