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Abtreibung als Verhütungsmethode

Die Abtreibungsquote in Rumänien ist eine der höchsten in Europa. Warum das so ist? Diese Frage hat der rumänische Regisseur Cristian Mungiu in seinem Drama "Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage" versucht zu beantworten und ist dafür in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet worden. Unter dem rumänischen Diktator wurden Abtreibungen mit mehrjähriger Haft bestraft. Heute treibt wirtschaftliche Not viele Frauen zum Schwangerschaftsabbruch. Annett Müller mit einem Beitrag aus Bukarest:

21.11.2007
    In einer Plastiktüte hat Gina ihre Sachen verstaut, die sie an diesem Vormittag braucht: Bademantel, Hausschuhe, eine Schachtel Zigaretten und etwas Bakschisch. An der Tür ihres Krankenzimmers steht "Abtreibungssalon" geschrieben. Sechs Betten stehen im Raum, sie sind alle belegt. Überall liegen Broschüren über Verhütungsmittel aus. Die Frauen fächern sich damit Luft zu, weil es so heiß ist im Zimmer.

    Vor ihrer Abtreibung lässt Gina sich eine Beruhigungsspritze geben, die im Preis von umgerechnet 20 Euro inbegriffen ist. Ginas Ehemann weiß nicht, dass sie gerade im Bukarester Krankenhaus "Cantacuzino" ist. Vielleicht hätte er sie geschlagen, wenn sie ihm gesagt hätte, dass sie wieder schwanger ist, erzählt sie ihrer Bettnachbarin und auch, dass sie zwei Kinder hat und das Geld nicht für eine drittes reicht. Schon einmal hat sie deswegen stillschweigend abgetrieben. Nein, die Kalendermethode nutzt die 30-jährige Frau nicht. Die Pille?

    "Die nehme ich nicht, da wird man dicker oder auch dünner, und manche werden trotzdem schwanger. Und Kondome? Die mag mein Ehemann nicht."

    Abtreibung gilt in Rumänien immer noch als erste Verhütungsmethode. Gründe gibt es mehrere: So ist Pille teurer als eine Abtreibung. Aufklärungskampagnen über Verhütungsmittel gibt es selten, und lediglich von Privatstiftungen. Das Gesundheitsministerium kümmert sich wenig darum. So fehlen Informationen. Die könnten Familienärzte vermitteln. Doch reicht die Zeit oft nicht für ein Gespräch, weil sie zu viele Patienten betreuen müssen. Die Gynäkologin Ruxandra Dumitrescu vom Bukarester Krankenhaus "Cantacuzino" weiß das aus eigener Erfahrung. Oft sind ihre Patientinnen schon schwanger, wenn sie zu ihr kommen und meinen, Abtreibung sei die einzige Lösung. Gerade deshalb will Dumitrescu, dass auch in Rumänien eine Beratungspflicht eingeführt wird:

    "Bei uns gibt es kein Gesetz, wie in manchen EU-Staaten üblich, dass man vor der Abtreibung eine psychologische Beratung bekommt und noch einmal eine Woche überlegen kann. Ich habe mit vielen Patientinnen gesprochen und sie haben danach nicht mehr abgetrieben. Wenn die Frauen eine Bedenkzeit nehmen müssten, würde sich die Mehrheit für das Kind entscheiden, selbst wenn es das dritte ist."

    Dana und Raluca, die ihre Familiennamen nicht nennen wollen, sind beide über 50 Jahre alt, und haben noch die rigide Familienpolitik des einstigen Diktators Ceausescu erlebt. Er deklarierte Abtreibung als ein Verbrechen, für das es mehrjährige Haftstrafen gab. Er verbot Kondome, Pille und Verhütungskalender, um der Herrscher über eine große sozialistische Nation zu werden, der er in Wirklichkeit alles rationierte: Heizung, Strom, Lebensmittel. Das Volk reagierte anders, als der Diktator befahl. Zahlreiche Frauen setzten ungewollte Babys aus, die Zahl der Waisenkinder explodierte - noch heute werden viele von ihnen wie Aussätzige behandelt. Trotz Verbot wurde aber auch vor der Wende allerorten Abtreibung abgetrieben. Illegal. Beim Metzger, bei Wunderheilern oder im Selbstversuch. Als Raluca zum dritten Mal schwanger wurde, war sie verzweifelt:

    "Ich war ständig auf der Suche nach etwas zu Essen für meine beiden Kinder, was man eben so finden konnte. Und wir waren gerade aus dem Gröbsten raus und da habe ich mich gefragt, was soll ich machen, soll ich wieder von vorn anfangen? Das war so eine Verzweiflung."

    Raluca hat Glück im Unglück gehabt, als Komplikationen auftraten, mussten ihr die Ärzte helfen. Gegen den hippokratischen Eid kam auch Ceausescu nicht an. Für viele andere kam jede Hilfe zu spät. Rund zehntausend Frauen verloren vor der Wende beim illegalen Abtreibungsversuch ihr Leben.

    18 Jahre nach der Wende hat der rumänische Regisseur Cristian Mungiu die Vergangenheit auf die Leinwand gebracht. Nicht nur deshalb ist sie Gegenwart. Dana hat den Film von Mungiu gesehen. Sie hat vor der Wende viele verzweifelte Frauen an Gynäkologen vermittelt, von denen sie wusste, sie würden helfen, egal welche Folgen das haben würde. Diese Nächstenliebe existiert heute nicht mehr, sagt sie.

    "Ich glaube, da hat mich der Film von Mungiu am meisten getroffen, dass mir klar geworden ist, dass es das nicht mehr gibt. Und dabei hätten wir die Nächstenliebe auch jetzt so bitter nötig."