IVG ist die französische Abkürzung für Schwangerschaftsabbruch, IVG.net eine Internetadresse, die – so scheint es auf den ersten Blick – Frauen über das Thema Abtreibung informiert.
Empfangen werden die Frauen auf der professionell gemachten Homepage katholischer Pro-Life-Aktivisten mit einem direkten "Sie sind schwanger, erwägen eine Abtreibung?". Im Stil offizieller Aufklärungsbroschüren werden sie dann zwar über die unterschiedlichen Abtreibungsmethoden und Fristen informiert, aber gleichzeitig dringend gewarnt: "Ein Schwangerschaftsabbruch", heißt es immer wieder, berge "gravierende gesundheitliche und psychologische Risiken".
Was Frauen passiert, die trotzdem abtreiben, erfahren Seitenbesucherinnen in einem guten Dutzend Videos, die wie spontan gepostet präsentiert werden, in denen ausnahmslos geläuterte Frauen von ihrer Abtreibung erzählen. Mit 16 habe sie abgetrieben, erzählt eine junge Frau. Dass sie es zutiefst bereue, von skrupellosen Ärzten überrumpelt worden sei:
"Ich wusste nicht, welche Folgen die Abtreibung hat. Niemand hat mich davor gewarnt. Ich nehme jetzt schon seit drei Jahren keine Verhütungsmittel mehr, weil mein Freund und ich ein Kind haben wollen. Aber es klappt nicht mehr. Ich sage Euch, passt bloß auf Eure Fruchtbarkeit auf. Lasst nicht abtreiben, behaltet das Kind. Egal was passiert!"
"Man lässt die Abtreibungsgegner davonkommen"
Sterilität, früher oder später auftretende Depressionen, posttraumatisches Syndrom oder auch Brustkrebs als Folge eines Schwangerschaftsabbruchs – die Internetseite transportiert die klassischen Behauptungen militanter Abtreibungsgegner, auch wenn sie wissenschaftlich widerlegt sind. Immer wieder leuchtet eine grüne Telefonnummer auf: anonyme Beratungsgespräche und professionelle Unterstützung bei ungewollter Schwangerschaft werden versprochen. Ein ebenso trügerisches Angebot: Testings französischer Frauenvereine haben gezeigt, dass Anruferinnen systematisch bearbeitet werden, um sie von einer Abtreibung abzuhalten. Auch wiederholte insistierende Rückrufe - bis ins Wartezimmer der Abtreibungsklinik - sollen zu den Methoden der militanten Abtreibungsgegner im Internet gehören.
Eigentlich dürfte es diese Seiten gar nicht mehr geben, sagt Pauline Spinazze von der Pariser Fraueninitiative "Osez le féminisme!". IVG.net und ein gutes Dutzend anderer französischer Internetadressen erfüllten eindeutig den Straftatbestand des "délit d'entrave" - des Behinderns von Schwangerschaftsabbrüchen, der 2017 auf das Internet ausgedehnt wurde.
Spinazze: "Will man das Gesetz konsequent umsetzen, muss der Staat auch die nötigen Mittel aufbringen und Verstöße strafrechtlich verfolgen. Das ist bisher nicht der Fall. Man lässt die Abtreibungsgegner, die im Internet Desinformation betreiben, davon kommen. Das ist schlimm für ahnungslose junge Frauen, die auf ihren Seiten landen. Denn die Abtreibungsgegner nennen sich zwar 'Pro Life', aber das Leben der Frauen kümmert sie herzlich wenig."
Die Strafverfolgung ist schwierig
Bis zu zwei Jahre Haft und 30 000 Euro Geldstrafe drohen Abtreibungsgegnern, die im Internet und den sozialen Netzen ungewollt Schwangere gezielt desinformieren und unter Druck setzen. Dass bisher niemand verurteilt wurde, liegt auch an dem schwierigen Nachweis der Straftat: Die Grenzen zwischen legaler Meinungsäußerung und illegaler Desinformation und Behinderung einer Abtreibung sind fließend; außerdem müssen die zumeist jungen Frauen, die von den Abtreibungsgegnern über die Internetplattformen ausgemacht und traktiert werden, Anzeige erstatten.
Zu den vehementen Kritikern des Gesetzes gehört die "Fondation Jérôme Lejeune". Die umstrittene medizinisch-wissenschaftliche Stiftung gilt als Speerspitze der französischen Pro-Life-Bewegung. Das Gesetz diene einzig dazu, Schützer des ungeborenen Lebens mundtot zu machen, sagt Lucie Parcherie, Juristin der Stiftung:
"Ziel der Regierung war es, alle jene zu knebeln, die sich der Prävention von Abtreibungen widmen. Leute, die die Regierungspolitik in Frage stellen, weil sie den Frauen sagen: Achtung, der Schwangerschaftsabbruch ist keine harmlose Angelegenheit, die Abtreibung kann Konsequenzen für die Frau haben, sie kann sich damit alleingelassen fühlen. Frankreichs Regierungen fördern dagegen die Abtreibung und wollen die Leute glauben machen, der Schwangerschaftsabbruch sei ein Gut und ein Recht!"
"Eine befruchtete Eizelle ist ein individueller Mensch"
In Frankreich ist der Schwangerschaftsabbruch ausdrücklich Frauenrecht. Bei ungewollter Schwangerschaft können Frauen ohne Angabe von Gründen bis zum Ende der 12. Woche abtreiben. Die Kondition der "Notlage" wurde 2014 ersatzlos gestrichen, ebenso die vorher obligatorischen sieben Tage Bedenkzeit zwischen dem ersten Arzttermin und dem Schwangerschaftsabbruch.
Anders als in Deutschland, wo der Besuch einer Beratungsstelle die Voraussetzung für eine straffreie Abtreibung ist, gibt es in Frankreich nur für minderjährige Mädchen Auflagen: ein psychosoziales Gespräch; außerdem müssen sie von einem Erwachsenen begleitet sein. Die deutliche Liberalisierung der vergangenen Jahre wurde von der katholischen Bischofskonferenz in Frankreich als ein "Drama" scharf kritisiert, die Pro-Life-Bewegung nennt sie gesetzeswidrig. Lucie Parcherie von der "Opus Dei" nahestehenden Stiftung "Jérôme Lejeune":
"Allen Texten zum Schwangerschaftsabbruch ist ein fundamentales Prinzip vorangestellt. Das erinnert daran, dass das Gesetz den Respekt jedes Menschenlebens garantiert, und zwar von Anfang an. Wir sind eine medizinisch-wissenschaftliche Stiftung und uns liegt sehr an wissenschaftlichen Fakten. Kein Wissenschaftler kann heute noch verneinen, dass der Embryo ein Mensch ist, dass auch die befruchtete Eizelle schon ein eigener individueller Mensch ist."
Mit Verschwörungstheorien an die Schulen
Während des Interviews argumentiert die Stiftungs-Juristin auch mit Komplott-Theorien, die in der Pro-Life-Szene kursieren. Wie der von der "staatlichen Zwangsquote" für Abtreibungen.
"2016 hat die Regierung gesagt, dass der Zugang der Frauen zur Abtreibung überall in Frankreich gewährleistet sein muss. Seitdem müssen alle französischen Krankenhäuser mit Geburtshilfeabteilung staatliche Quoten erfüllen: Abtreibungen müssen mindestens mindestens 20 Prozent ihrer Aktivitäten ausmachen."
Um solche Falsch-Informationen weiträumig zu streuen, nutzt die französische Pro-Life-Bewegung nicht nur erfolgreich die neuen Medien. Für Schlagzeilen gesorgt haben vergangenes Jahr auch eine großangelegte und illegale Werbeplakat-Kampagne gegen Abtreibung in der Pariser Metro und an den Bushaltestellen - und das Verteilen von Anti-Abtreibungsbroschüren an Pariser Schulen.
Kritik am deutschen Paragraf 219a
Auch in der politischen Sphäre Frankreichs sei seit den Großdemonstrationen gegen die "Ehe für alle" ein Comeback christlicher Pro-Life-Lobbyisten zu verzeichnen, warnen französische Frauenrechtlerinnen. Ihr ungebrochener Wille, das Recht auf Abtreibung zurückzudrehen, sei keinesfalls auf die leichte Schulter zu nehmen. Pauline Spinazze sagt:
"Es sind verschiedene, meistens stark religiös ausgerichtete Vereine, katholische Fundamentalisten. Sie besitzen enorme finanzielle Mittel und sind sehr präsent und aktiv. Immer unter dem Vorwand, dass sie das Leben verteidigen. Es ist eine Gefahr zu glauben, dass wir den Kampf für das Recht auf Abtreibung hinter uns haben. Nichts ist sicher. Man muss sich nur in Europa umschauen - oder in Deutschland: eine Gynäkologin, die strafrechtlich verfolgt wird, weil sie sagt, dass sie Abtreibungen vornimmt! Paradoxal: Abtreibung ist illegal, sie dürfen es aber trotzdem machen, nur nicht sagen, dass sie es machen."
"Niemand darf das Recht auf Abtreibung behindern"
In Frankreich weisen Gynäkologen und Klinken ganz selbstverständlich darauf hin. Sie sind sogar per Gesetz verpflichtet, Patientinnen Adressen kompetenter Kollegen zu geben, wenn sie selbst von der Gewissensklausel Gebrauch machen und keine Abtreibungen praktizieren.
So hat denn auch im September der Vorstoß des Vorsitzenden des französischen Gynäkologenverbands für einen Skandal gesorgt. In einem Fernsehinterview hatte der prominente Frauenarzt Abtreibungen als "Homicide" – als "Mord" bezeichnet. Dieser Begriff ist in der Pro-Life-Bewegung verbreitet. Der Mediziner wurde prompt von der Gesundheits- und von der Frauenministerin öffentlich zur Ordnung gerufen: "Nichts und niemand darf das Recht auf Abtreibung behindern", erinnerten die französischen Ministerinnen in einem gemeinsamen Kommuniqué.