Merkel müsse auf die Menschen, auf ihre politischen Weggefährten zugehen, so Spreng. Sie müsse ein Signal aussenden: "Ich habe verstanden!" Bisher habe die Kanzlerin ihren Stil nicht ändern können, nun sei sie aber dazu gezwungen. Ansonsten könnten die Landtagswahlen in Bayern, Hessen oder der CDU-Parteitag im Dezember zum Stolperstein für Merkel werden.
"Wenn sich nichts ändert, geht ihr Abstieg weiter"
Die Lage sei Ernst für Merkel, sagte Spreng. "Ihre Autorität ist massiv geschwächt, sie dringt mit ihren Personalvorschlägen in der eigenen Fraktion nicht mehr durch. Das hat es in dieser Form bei Frau Merkel noch gar nicht gegeben." Wenn sie nichts ändere, werde ihr Abstieg weitergehen, prognostiziert Spreng. "Und dann wird es nicht bis 2021 reichen." Die Fraktion habe sich von ihrer Chefin emanzipiert. Merkel könne sich in Zukunft nicht mehr auf die Gefolgschaft der Fraktion verlassen.
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Tobias Armbrüster: Ich habe kurz vor dieser Sendung über die aktuelle Entwicklung in Berlin mit Michael Spreng gesprochen. Er ist Publizist, Politikberater und er war Chefredakteur der "Bild am Sonntag". Ich wollte von ihm wissen, was er Angela Merkel jetzt raten würde.
Michael Spreng: Ich würde ihr raten, ihren Politikstil zu ändern, denn in der jetzigen Lage der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung, der Fraktion kommt sie mit Moderieren allein nicht weiter. Sie muss ihre Politik besser erklären. Sie muss auf die Menschen und auf ihre politischen Weggefährten, auf die Fraktion, auf den Koalitionspartner zugehen. Sie muss insgesamt ein Signal aussenden, ich habe verstanden. Das ist jetzt notwendig, damit dieser Effekt vielleicht sogar eine positive Wirkung hat.
Armbrüster: Kann sie das denn alles?
Spreng: Ja das ist die große Frage. Kann sich eine Frau, die jetzt schon 13 Jahre Kanzlerin ist, in ihrem Politikstil noch ändern. Bisher konnte sie es nicht, aber jetzt muss sie es, denn wenn sie es nicht tut – sie hat ja dieses Jahr noch drei schwere Hürden vor sich: die Bayern-Wahl, die Hessen-Wahl und den CDU-Parteitag im Dezember -, ansonsten könnten alle drei Hürden am Ende zum Stolperstein werden.
Armbrüster: Wie ernst würden Sie die Lage einschätzen für sie?
Spreng: Sie ist sehr ernst. Es wird jetzt keinen Kanzlersturz morgen oder übermorgen geben, aber ihre Autorität ist massiv geschwächt. Sie dringt in ihrer eigenen Fraktion mit ihren Personalvorschlägen nicht mehr durch. Das hat es in dieser Form selten gegeben und bei Frau Merkel schon gar nicht. Das heißt, diese Schwäche muss sie versuchen, in eine neue Gesprächs- und Führungskultur umzusetzen. Wenn sie es nicht tut, wird ihr Abstieg weitergehen, und dann wird es nicht bis 2021 reichen.
"Sie muss ein neues Kooperationsmodell mit der Fraktion entwickeln"
Armbrüster: Wenn man sich diese Wahl und das Ergebnis gestern noch einmal ansieht, kann man dann sagen, ein Ergebnis ist, oder ein Resultat, dass man sehen kann, dass sich die Fraktion hier von ihrer Kanzlerin emanzipiert hat?
Spreng: Genauso ist es, eine Emanzipation der Fraktion. Emanzipation heißt aber in einem solchen Fall, dass sie sich auf die Gefolgschaft der Fraktion nicht mehr verlassen kann. Volker Kauder hat ihr immer die Mehrheit gesichert, mit sanfter und harter Gewalt, wenn man so will, während Ralph Brinkhaus hat ja schon gesagt, die Fraktion will ihre eigenen Akzente setzen. Es wird auch Widerspruch zu politischen Vorhaben der Regierung oder der Kanzlerin geben. Es wird für sie eine völlig neue Situation. Sie muss ein neues Kooperationsmodell mit der Fraktion entwickeln.
Armbrüster: Wir hören das seit gestern sehr viel, dieses Wort Widerspruch, dass man da auch mal alternative Positionen aufbaut in der Fraktion. In welchen Bereichen können Sie sich vorstellen wird es künftig mehr knirschen?
Spreng: Ich glaube auf jeden Fall in der Europapolitik. Ich meine, Ralph Brinkhaus ist ja skeptisch, was die Pläne von Emmanuel Macron betrifft in Sachen Haushalts- und Finanzpolitik der EU. Da wird es Widerspruch geben. Aber da hat sich ja Frau Merkel bisher noch gar nicht oder nur schwach positioniert. Aber sie muss ja irgendwann zu Macron Stellung beziehen und da könnte es zum Konflikt mit der Fraktion kommen.
Armbrüster: Kann man sagen, war die Unions-Fraktion in den vergangenen Jahren feige?
Spreng: Feige ist das falsche Wort, glaube ich. Nein, sie waren in erster Linie Erfüllungsgehilfe und verlängerter Arm des Kanzleramts. Aber in guten Zeiten kann das eine Fraktion ja durchaus sein. Wenn gut regiert wird, ist es ja auch gut, das zu unterstützen durch die Fraktion. Aber es wird ja nicht gut regiert. Die Große Koalition ist in einer schweren Krise. Alle drei Parteien werden von ihr geschüttelt. Und das ist eine ganz andere Situation, als sie in den letzten Jahren war, und insofern war es gut, dass ein Mann wie Ralph Brinkhaus Courage gezeigt hat und kandidierte.
Man muss aber klar sehen: Er ist ja kein Merkel-Gegner in dem Sinne. Er gehört weder zur Widerstandsgruppe Seehofer, noch zur Widerstandsgruppe Spahn-Ziemiak, sondern es ist ein unabhängiger Kopf mit eigenen Ideen, aber kein illoyaler Mann.
Armbrüster: Ich wollte das gerade fragen. Könnte es sein, dass das hier alles viel zu leicht überinterpretiert wird, dass sich möglicherweise mit ihm jetzt gar nicht so besonders viel ändert? Er selbst sagt das ja, kein Revoluzzer will er sein.
Spreng: Nein, er ist kein Revoluzzer. Aber natürlich wird sich etwas ändern. Sonst würde er ja all diejenigen enttäuschen, die ihn gewählt haben. Die haben ihn ja gewählt - gerade deshalb, dass die Fraktion eine eigenständige Rolle spielt, dass sie eigene Positionen entwickelt, dass sie auch mal widerspricht. Wenn er das nicht einlöst, wird er sehr schnell den Rückhalt in der Fraktion verlieren.
Armbrüster: Was erwarten Sie jetzt als nächstes von Ralph Brinkhaus?
Spreng: Im Moment erst mal, dass er seine Fraktionsführung komplettiert, was die Parlamentarischen Geschäftsführer betrifft. Da ist ja auch noch ein Mann, Grosse-Brömer, der Erste Parlamentarische Geschäftsführer, ein Merkel-Vertrauter. Es wird interessant sein, ob er ihn wieder vorschlägt und wieder beruft. Er wird die Fraktionsführung komplettieren und dann wird er, glaube ich, sehr, sehr viele Gespräche führen, um dieser Unruhe und was ihn zum Erfolg getragen hat weiter auf den Grund zu gehen, gewissermaßen die Stimmung in allen Fasern spüren. Ich glaube, das wird seine erste Tätigkeit sein.
"Insider als auch die begleitende Journalisten haben das nicht kommen sehen"
Armbrüster: Wie groß ist die Gefahr, dass er die Fraktion enttäuscht?
Spreng: Ja gut, die Gefahr besteht immer. Er ist ja bisher kein Mann der ersten Reihe gewesen. Er ist ja auch nicht, wie soll man sagen, ein charismatischer Kopf. Aber er ist ein ordentlicher, solider, couragierter Abgeordneter. Er wird sie enttäuschen, wenn er dieselbe Rolle einnehmen würde wie Kauder, aber das erwarte ich nicht.
Armbrüster: Jetzt reiben sich seit gestern viele in Berlin die Augen. Viele Beobachter waren von dieser Entscheidung völlig überrascht. Kann man sagen, dass die Medien, die Hauptstadtreporter diesen Stimmungsumschwung in der Unions-Fraktion gar nicht auf dem Schirm hatten?
Spreng: Das stimmt. Aber die Fraktion hatte ihn ja selbst nicht auf dem Schirm. Viele in der Fraktion waren ja selbst überrascht, wie das Ergebnis ausgegangen ist. Es war eine Aufwallung. Niemand wusste genau, wie es ausgeht, und am Ende waren alle überrascht. Es ist ja kein überschaubarer Coup gewesen und nichts Kalkulierbares. Insofern haben sowohl die Insider als auch die begleitenden Journalisten das nicht kommen sehen.
Armbrüster: Hier bei uns im Deutschlandfunk war das Michael Spreng, Publizist, Politikberater und ehemaliger Chefredakteur der "Bild am Sonntag". Vielen Dank für Ihre Zeit heute Mittag.
Spreng: Ja! Danke, Herr Armbrüster.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.