Ostdeutschland
Wenn nur Männer und Alte übrig bleiben

Junge, Frauen und Ausländer gehen: Die Abwanderung aus Ostdeutschland in den Westen ist wieder da. Angesichts der Wahlerfolge der AfD könnte sie noch stärker werden, sagen Forscher. Dabei verlange die Demografie eigentlich mehr Migration.

    Zwei Jugendliche fahren auf einem Moped an alten Häusern vorbei
    Viele haben politische Gründe zu gehen: Die Bevölkerung in Ostdeutschland könnte deutlich schrumpfen, bis auf Großstädte wie Leipzig. (picture alliance / photothek.de / Thomas Trutschel)
    Was bisher meist anekdotisch bekannt war, bestätigt eine Studie, die Anfang September 2024 vorgestellt wurde: Angesichts des Erstarkens der in Teilen rechtsextremen AfD erwägen viele Menschen aus Deutschland auszuwandern oder das Bundesland zu wechseln. Es sind vor allem Menschen mit Migrationshintergrund – aber nicht nur die. Treffen würde das gerade Ostdeutschland mit seiner starken Überalterung und den niedrigen Geburtenraten. Forschende warnen vor spürbaren Folgen für die Wirtschaft und die Demokratie. Prognosen zur erwerbstätigen Bevölkerung in den ostdeutschen Bundesländern sehen düster aus.
    Und Zahlen für 2023 zeigen: Erstmals seit 2016 sind wieder mehr Menschen aus dem Osten in den Westen gezogen als umgekehrt. Es sind überwiegend Junge, Frauen und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die gehen.
    Nach den Abwanderungen seit 1989, die vor allem wirtschaftlich begründet waren, scheint es nun auch politische Gründe zu geben, dem Osten den Rücken zu kehren. Bei den Landtagswahlen in Thüringen wurde die AfD stärkste, in Sachsen zweitstärkste Kraft knapp hinter der CDU.

    Übersicht

    Was besagt die Studie zu Abwanderungsplänen wegen des AfD-Aufstiegs?

    „Ablehnung, Angst und Abwanderungspläne“ heißt die Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Es befragte dafür rund 3100 Personen im März 2024, also noch vor den Europa- sowie den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Demnach denkt rund jede vierte Person mit Migrationshintergrund grundsätzlich darüber nach, aus Deutschland wegzugehen. Bei den anderen Befragten ist es mehr als jeder Zehnte (11,7 Prozent).
    Geht es um den Wegzug aus einem Bundesland – unter der Voraussetzung, dass die AfD an der Regierung beteiligt würde – sehen die Zahlen noch anders aus: Laut der Studie erwägen je nach Herkunftsregion zwischen 18 und 34 Prozent der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte einen Wechsel. Konkrete Pläne haben demnach 12,5 Prozent. Bei Menschen ohne Migrationshintergrund gebe es bei 14,6 Prozent derartige Überlegungen; konkrete Pläne bei 3,4 Prozent.

    Welche möglichen Folgen sehen Forschende insbesondere für Ostdeutschland?

    "Wenn fast jeder Fünfte bei einem Sieg der AfD darüber nachdenkt, sein Bundesland zu verlassen, bedeutet dies gerade für Ostdeutschland einen kaum verkraftbaren Verlust an Wissen, Know-how und Wirtschaftskapazität", warnt der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel. "Zudem dürfte eine Gewinnung von Fachkräften bei einem solchen Image faktisch unmöglich werden.“
    Es seien vor allem die AfD-Pläne zur so genannten „Remigration“ – also der massenhaften Ausweisung von Migranten – die laut der Befragung „in breiten Teilen der Bevölkerung Angst wecken“, so das DeZIM.

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    Studienleiterin Sabrina Zajak geht davon aus, dass sich angesichts der „aktuellen Wahllage“ die Abwanderungspläne „eher zugespitzt“ haben. Eine weitere Studie zu den Wahleffekten laufe bereits, sagte sie im Deutschlandfunk. Neben den befürchteten negativen Folgen für die Wirtschaft sieht Zajak auch staatliche Institutionen, den Bildungs- und Gesundheitsbereich unter Druck: „Für diese ganzen Sektoren wäre es natürlich verheerend, wenn Leute einerseits abwandern oder aber auch Angst haben, aufgrund der Annahme bedroht zu werden, rassistisch angefeindet zu werden, erst überhaupt nach Deutschland zu kommen.“
    Sie befürchtet insgesamt eine Gefährdung der offenen und liberalen Demokratie infolge von Abwanderung. Wenn Gruppen „immer homogener“ werden, sei das auch eine „soziale, kulturelle und politische Verarmung eines Landes“, so die Forscherin.

    Welche Wellen von Abwanderung gab es aus Ostdeutschland?

    Abwanderung ist für Ostdeutschland kein neues Phänomen. Seit Gründung der DDR 1949 bis zu ihrem Ende 1990 gingen rund vier Millionen Ostdeutsche in den Westen. Es waren die Hochqualifizierten, und – vor allem nach dem Mauerbau 1961 – jene, die die SED-Diktatur nicht mehr aushielten. Eine große Ausreisewelle gab es 1989: Nach westlichen Angaben siedelten rund 344.000 DDR-Bürger in die Bundesrepublik über oder flüchteten.
    „Kommt die DM, bleiben wir, kommt sie nicht, dann gehen wir“: So lautete damals eine Parole auf den Montagsdemos. Doch als die D-Mark kam, gingen viele. Allein 1989 und 1990 verließen rund 800.000 Menschen den Osten. Denn dort brach die Industrie zusammen, Millionen Arbeitsplätze fielen weg.
    Danach ebbte die Abwanderung bis Mitte der 1990er-Jahre ab, bis 2001 ein neuer Negativrekord registriert wurde: Über 190.000 Menschen gingen in den Westen, weil der erhoffte Aufschwung Ost ausblieb. Nur gut 94.000 gingen den umgekehrten Weg. Ostdeutschland verlor Junge, gut Ausgebildete, zuvorderst Frauen. Zurück blieben vor allem in strukturschwachen Regionen die Alten und viele Männer. In der Studie "Not am Mann" von 2007 heißt es, dass teils bis zu 25 Prozent der jungen Frauen fehlten: „Die Frauendefizite der neuen Bundesländer sind heute europaweit ohne Beispiel.“

    Wie sieht die Entwicklung in den letzten Jahren aus?

    Über viele Jahre gingen mehr Menschen aus dem Osten in den Westen als umgekehrt. 2017 dann die Trendwende: ein Plus von knapp 4000 Zuwanderern für den Osten. Ein leichtes Plus für den Osten gibt es dann weiter bis 2022. 2023 dreht sich das Verhältnis aber wieder: gut 88.000 zieht es nach West-, gut 85.000 nach Ostdeutschland.
    Die Grafik zeigt die Wanderungen zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland zwischen 1991 und 2023
    2017 wanderten zum ersten Mal mehr Menschen aus Westdeutschland nach Ostdeutschland als umgekehrt.* (statista)
    Dazu stellt eine Bertelsmann-Studie fest: „Es sind vor allem Ausländer:innen und die 18- bis unter 25-Jährigen, die in den Westen ziehen.“ Die Schlussfolgerung der Autoren: „Durch den demografischen Wandel wird Ostdeutschland in Zukunft noch stärker unter dem Fachkräftemangel leiden. Daher muss Deutschland insgesamt, aber insbesondere Ostdeutschland auch attraktiver für Einwanderung werden.“
    Diese Entwicklung treibt Forscher wie den Politologen Tim Leibert um. In einem Interview mit t-online nennt er die Situation „besorgniserregend“. Den Wegzug junger Menschen führt er unter anderem darauf zurück, dass viele die insgesamt bessere wirtschaftliche Lage nicht wahrnehmen. Eltern und Großeltern geben an die jüngere Generation weiter, „dass sie wegziehen müssen, damit aus ihnen etwas wird“.
    Daneben spricht Leibert von einer auffälligen und „ausgeprägten Abwanderung von Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit“. Dafür gibt es aus seiner Sicht zwei Gründe: Viele Geflüchtete ziehe es in Richtung ihrer ethnischen Community – davon habe Westdeutschland mit seiner langen Zuwanderungsgeschichte „natürlich deutlich mehr“, so der Forscher. „Der andere Grund ist die politische und gesellschaftliche Großwetterlage in Ostdeutschland, die dazu führt, dass Ausländer sich dort häufig nicht willkommen fühlen.“
    Die Statsitik zeigt in drei Varianten mit mehr oder weniger Zuwanderung, wie sich die Bevölkerung im Erwerbsalter in Ostdeutschland 2022 bis 2070 entwickeln soll.
    Ob die Zuwanderung hoch, moderat oder niedrig ist: Die Prognose zeigt eine schrumpfende Bevölkerung im Erwerbsalter in Ostdeutschland. (statista)

    Wie sehen die Bevölkerungsprognosen für Ostdeutschland aus?

    Düstere Aussichten für die Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland gehen aus einer Prognose der Bertelsmann-Stiftung hervor: Während im Westen weitgehend Wachstum vorhergesagt wird, soll die Bevölkerung im Osten bis 2040 schrumpfen - abgesehen von Großstädten wie Leipzig. Demnach dürfte die Zahl der Einwohner verglichen mit 2020 etwa in Sachsen-Anhalt um 12,3 Prozent zurückgehen.
    Das Bundesland schrumpft stärker als alle anderen Bundesländer. Arbeitsmarktforscher Per Kropp sprach 2022 im Deutschlandfunk von einer „demografischen Klippe“: Die Babyboomer-Jahrgänge in Sachsen-Anhalt seien mehr als doppelt so geburtenstark wie die Generation, die gerade die Schule verlasse.
    Nach dem starken Abschneiden der AfD, aber auch des BSW in Sachsen und Thüringen warnten Ökonomen vor negativen wirtschaftlichen Folgen. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, sagte, vor allem die AfD stehe für eine Abschottung von Europa. Er halte es für sehr wahrscheinlich, dass die Wahlergebnisse zu einer Abwanderung von Unternehmen und auch Fachkräften führen würden.
    Wie sehr gerade ausländische Arbeitnehmer die ostdeutsche Wirtschaft am Laufen halten, zeigt eine Untersuchung des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Demnach arbeiteten 2023 rund 403.000 Menschen ohne deutschen Pass in den ostdeutschen Bundesländern. Das seien 173.000 mehr als noch 2017 gewesen. „Sie allein erwirtschafteten 24,6 Milliarden Euro – das entspricht 5,8 Prozent der ostdeutschen Bruttowertschöpfung.“ Das Fazit der Studie: „Ausländische Beschäftigte sind damit unverzichtbar für den Osten: Zwischen 2018 und 2023 schrumpfte die Zahl der deutschen Beschäftigten um 116.000.“
    bth
    *In einer früheren Textfassung wurden Ost- und Westdeutschland vertauscht. Das haben wir korrigiert.