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Abzug aus Afghanistan
Was vom Bundeswehreinsatz bleibt

Die letzten verbliebenen Bundeswehrsoldaten haben Afghanistan verlassen. Doch auch diejenigen, die im Weltbild der Taliban keinen Platz haben - zum Beispiel Akademiker oder Vertreterinnen der Zivilgesellschaft - wollen nicht bleiben. Was mit ihnen geschieht, ist ungewiss.

Von Marc Thörner |
Soldaten der Bundeswehr sind vor dem Transportflugzeug vom Typ Airbus A400M der Luftwaffe zum Abschlussappell angetreten. Die letzten Soldaten des deutschen Afghanistan-Einsatzes sind auf dem niedersächsischen Fliegerhorst ankommen. Am Vorabend war der Einsatz nach fast 20 Jahren beendet worden. Die Soldaten waren mit vier Militärmaschinen aus dem Feldlager in Masar-i-Scharif im Norden von Afghanistan ausgeflogen worden.
Die letzten Soldaten des deutschen Afghanistan-Einsatzes sind auf dem niedersächsischen Fliegerhorst angekommen. Der Einsatz war nach fast 20 Jahren beendet worden. (picture alliance/dpa/dpa-Pool | Hauke-Christian Dittrich)
"Situation Kundus selbst. Nach wie vor unverändert. Man kriegt regelmäßig Suicider-Warnungen. Ein Motorrad mit Aufkleber grau, vorbereitet zur Sprengung. Zum Beispiel weißer Toyota, grüner Toyota, es geht so die Reihe durch also immer wieder irgendwie aufs Neue."
Bedrohungen erkennen, Vorkehrungen treffen, Durchfahrten organisieren – bis noch vor wenigen Tagen Afghanistan-Alltag der Bundeswehr. Am Dienstagabend nun haben alle noch verbliebenen Soldatinnen und Soldaten das Feldlager in Masar-i-Sharif verlassen.
Soldaten der Bundeswehr sind vor dem Transportflugzeug vom Typ Airbus A400M der Luftwaffe mit den Truppenfahnen zum Abschlussappell angetreten. Die letzten Soldaten des deutschen Afghanistan-Einsatzes sind auf dem niedersächsischen Fliegerhorst ankommen. Am Vorabend war der Einsatz nach fast 20 Jahren beendet worden. Die Soldaten waren mit vier Militärmaschinen aus dem Feldlager in Masar-i-Scharif im Norden von Afghanistan ausgeflogen worden.
Kommentar: Der Afghanistan-Einsatz war besser als sein Ruf es ist
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Der Truppenabzug ist damit abgeschlossen, nach fast 20 Jahren Einsatz. Regelmäßig mit den Truppen unterwegs war der afghanische Dolmetscher Aliullah Nazary:
"Allgemein, wenn man vom Bundeswehrlager bis zu einem Einsatzort fährt, kann man jederzeit, jeden Moment Bedrohungen erwarten. Zum Beispiel diese Minen gegen diese Straßen, zum Beispiel Selbstmordanschläge und so weiter."

"Man muss hier mit allem rechnen"

"Richtung Imam Sahib gab‘s letzte Woche irgendwo auf der Strecke, Koordinaten sind nicht bekannt, einen Überfall auf einen ANP-Checkpoint, wobei ein ANP, soweit ich weiß, getötet wurde. Also auf der Strecke – die Lage im allgemeinen: Ja., man muss hier mit allem rechnen."
"Kundus ist eine kleine Stadt und man hat mit anderen Leuten enge Beziehungen und unsere Nachbarn, unsere Klassenkameraden, meine Nachbarn zum Beispiel und meine Klassenkameraden in der Uni und Freunde, Bekannte wussten alle, dass ich als Dolmetscher für die deutschen Truppen arbeite."
Nazary half der Bundeswehr bei ihrem Mentoring-Programm, der Ausbildung der afghanischen Armee. Er fuhr in Konvois mit, an Orte, wo sich Menschen auf die Soldaten zubewegten, von denen niemand sagen konnte, ob sie sich aus bloßer Neugier annäherten, einfach vorbeigehen wollten oder einen Anschlag planten.
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Auch für den afghanischen Begleiter sind die Risiken bei derartigen Einsätzen beträchtlich:
"Es gab ein paar Kontakte und die wollten, dass ich irgendwelche Informationen austausche oder Informationen verrate, aber ich habe das niemals akzeptiert, weil ich ein Mitarbeiter war und auch moralisch habe ich das niemals gut gefunden und deswegen habe ich niemals verraten."
Nach dem ersten Abzug der Bundeswehr von ihrem Außenposten Kundus im Oktober 2013 dauerte es nur einige Monate, bis die Taliban ihre Handyvideos ins Netz stellten. Darauf zu sehen war, wie sie die afghanische Armee und Polizei in Kundus vor sich hertrieben und in ehemalige deutsche Militärposten eindrangen.
"Wir haben unsere Arbeit verloren. Wir hatten Ängste, dass wir im Stich gelassen werden oder dass wir nicht nach Deutschland mitgeholt werden. Das war unsere Angst. Und dass wir getötet werden vom Gegner. Ich habe einen Kollegen verloren, der hieß Dschawad Wafar. Er wurde getötet, weil er für die deutsche Bundeswehr gearbeitet hat."

"Die Ausländer nehmen wieder alles mit"

Nazary hat es inzwischen geschafft. Dank seiner Tätigkeit für die Bundeswehr konnte er schon vor Jahren nach Deutschland ausreisen und sich ein neues Leben aufbauen. Dafür ging es in seinem Heimatland weiter rapide bergab.
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Nach 20 Jahren Engagement stehen die internationalen Truppen vor einem Scherbenhaufen. Rund um das letzte deutsche Feldlager in Mazar-i-Sharif sammelten die Taliban zuletzt ihre Verbände. Baktash Siawash beobachtete den Abzug von einer anderen Position aus; aus dem Inneren des Regierungsapparates: Er ist Chefberater des afghanischen Parlamentspräsidenten:
"Vierzig ausländische Staaten haben sich in Afghanistan engagiert. Wenn die internationale Gemeinschaft nun alles abzieht und wenn sie diejenigen mitnimmt, die für sie tätig waren, dann beweist das, dass nach Auffassung der internationalen Gemeinschaft nichts von ihrem ganzen Engagement mehr übrig bleibt. Die Ausländer nehmen wieder alles mit. Was ist das anderes als das Eingeständnis der eigenen Fehler?"

"Aufgeteilt wie eine Torte"

Die Weichen, so der Berater des Parlamentspräsidenten, seien bereits am Anfang des Afghanistan-Engagements zu Beginn der 2000er Jahre falsch gestellt worden. Und was er heute beobachten könne, gehe logisch auf die Anfangsfehler zurück, sagt er:
"Nach dem Zusammenbruch der Taliban 2001 haben die Amerikaner Politik gemacht, indem sie sich auf einzelne Personen konzentrierten, anstatt mit Institutionen zusammenzuarbeiten. Und deshalb haben wir auch keine Institutionen aufgebaut. Stattdessen wurden einzelne Personen aus dem Ausland nach Afghanistan gebracht. Mit einigen, die schon vor Ort waren, schloss man Deals. Und am Ende nannte man das Ganze dann "Regierung". Afghanistan wurde aufgeteilt wie eine Torte. Ein Teil ging an Dr. Abdullah Abdullah, der andere an Ashraf Ghani."
Ashraf Ghani, der Präsident Afghanistans, und Abdullah Abdullah, der afghanische Regierungschef: sie repräsentieren die zwei Komponenten, mit deren Hilfe seit 2001 die Macht in Kabul funktionieren sollte. Einerseits der Präsident. Stets aus der einflussreichsten Bevölkerungsgruppe, den Paschtunen. Stets durch Lebenslauf, Ausbildung und Sprachkenntnisse eng an die USA gebunden. Als "Nebenpräsident" präsentiert sich von Anfang an Abdullah Abdullah. Er vertritt die Interessen der Ethnien im Norden, jener Mudschaheddin, die 2001 gemeinsam mit der US-Armee gegen die Taliban vorgingen. Egal, wie Wahlen ausgingen – Abdullah Abdullah blieb. Im Augenblick führt er als Vorsitzender der nationalen Versöhnungskommission für die Regierung die Friedensgespräche in Doha.
Der 60-Jährige leugnet nicht, dass es in der afghanischen Politik manchmal sehr manipulativ vorgeht. Andererseits bittet er auch um Verständnis. Man dürfe jetzt nicht resignieren und das Land einfach den Taliban überlassen:
"Am Anfang des Prozesses gingen alle davon aus, wir könnten eine Entwicklung von 200 Jahren in zwei Jahren bewältigen. Das waren zu hochgeschraubte Erwartungen. Jetzt erleben wir das andere Extrem. Man legt die niedrigste Messlatte an, die sich nur denken lässt, beide Haltungen sind falsch. Die Menschen dieses Landes waren bereit, sich auf den Weg der Demokratie zu begeben und hätten das vielleicht tun können. Wenn man nicht auf eine einzige Persönlichkeit gesetzt hätte. Und dadurch gab es für die Freunde Afghanistans keine Alternative mehr."
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"Alles in 2.000 Familien gesteckt"

Mit dem vermeintlich einzigen Ansprechpartner meint Abdullah seinen Vorgesetzten, den jeweiligen Präsidenten: früher Hamid Karsai und heute Ashraf Ghani. Aus Sicht von Baktash Siawash, dem Chefberater des afghanischen Parlamentspräsidenten, ist Abdullahs Engagement für Demokratie nur vorgeschoben. Er sieht in dem ewigen zweiten Mann nichts anderes als einen ehemaligen Mudschaheddin-Anführer. Einen, der sich mit dem Westen gegen die Taliban verbündet hat:
"Warum hat die internationale Gemeinschaft diese Warlords reaktiviert? Weil das ihre alten Freunde waren. Als die Sowjets in Afghanistan waren, hat der Westen diese Warlords aufgebaut und mit Geld vollgepumpt. Keiner kannte diese Leute vorher. Die Amerikaner haben ihnen ihre Mudschaheddin-Gruppen aufgebaut, zusammen mit den Arabern und den Pakistanis. Und nach Nine Eleven, als die westlichen Staaten sich von Neuem in Afghanistan engagierten, waren diese Kommandeure wieder ihre Ansprechpartner. Am Ende hat die internationale Gemeinschaft alles in 2.000 Familien gesteckt. Und wenn jetzt die internationale Gemeinschaft abzieht, dann kann sie nicht darauf verweisen, der afghanischen Bevölkerung irgendetwas zurückgelassen zu haben."
Tatsächlich sieht es so aus, als wäre das demokratische Experiment Afghanistan gescheitert - spätestens seit der ehemalige US-Präsident Trump 2019 direkte Verhandlungen mit den Taliban einleitete und sich später auf den baldigen Abzug der US-Truppen festlegte. Was auch automatisch den Abzug aller anderen Kontingente, inklusive der Deutschen nach sich zog.

Was ist eine Ortskraft?

In Deutschland entwickelte sich die Debatte vom Nation Building, über die Aufstandsbekämpfung bis hin zur Frage, wie man das eigene Militär herausbringt. Und wie viel der so genannten Ortskräfte man dabei mitnimmt. Aber: Was ist das eigentlich, eine Ortskraft? Aliullah Nazary, ehemaliger Dolmetscher der Bundeswehr:
"Wenn wir ‘afghanische Ortskräfte’ sagen – das sind nicht nur Dolmetscher, das sind auch Küchenhelfer oder Fahrer oder Sicherheitspersonen, usw. Das sind alles afghanische Ortskräfte, die für die Bundeswehr gearbeitet haben und momentan in einer gefährlichen Situation leben und ihre Leben sind auch bedroht. Und alle wollen eine Chance bekommen, dass sie in Sicherheit, in einem besseren Leben leben.
Themenbild Wehrpflicht,Soldaten,Dienstgrad.Rang,Rangabzeichen,Dienstgradabzeichen. Soldaten der Bundeswehr helfen bei der Testung von Einreisenden,sie tragen ffp2 Mundschutz,Maske. Grenzkontrollen an der oesterreichisch deutschen Grenze ,Grenzuebergang Kiefersfelden Grenzpolizisten kontrollieren Autofahrer bei der Einreise von Tirol / Oesterreich nach Bayern / Deutschland.
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"Die Deutschen sollten mir sagen, was ich tun soll"

Der Fall von Mohammed Anif scheint komplizierter. Der ältere Herr mit Turban und weißem Vollbart zeigt einen Mietvertrag vor, den er 2011 mit dem deutschen Bundesverteidigungsministerium geschlossen hat. Mietobjekt ist der Teil eines Flusses, auf dem die Bundeswehr für ihre Fahrzeuge eine Brücke gebaut hat.
"Die Deutschen verpflichten sich, pro Jahr 2.000 Dollar an mich zu entrichten. Zwei Jahre lang haben sie bezahlt, dann nicht mehr. Aber sie haben den Fluss aufgestaut, die Taliban sehen das und wissen, dass das mein Land ist. Und deshalb jagen sie mich jetzt."
Dort, wo Mohammed Anif einmal gewohnt hat, kann er nicht mehr hin. Mit seiner Familie zusammen ist er bei Freunden untergekommen, die ihn, selber unter vielen Risiken, verstecken. Laut Aliullah Nazary gibt es zwei Anlaufstellen für afghanische Mitarbeiter, bei denen sie sich um ein Visum für Deutschland bemühen können. Für Mohammed Anif keine wirklich hilfreiche Aussicht.
"Wie kann ich die Deutschen aufsuchen? Ich kann nicht mal diese Unterkunft hier verlassen. Und auf der anderen Seite kann ich auch nicht einfach die Botschaft anrufen und denen meine Geschichte erzählen. Ich habe mein Haus und mein Land wegen der Deutschen verloren, Deutschland hat mich in diese Lage gebracht. Und jetzt sollte man dort einen Weg finden, mir da raus zu helfen. Die Deutschen sollten mir sagen, was ich tun soll."

"Und dann bringt man Sie um"

Doch beileibe nicht nur die Taliban machen Jagd auf ihre Feinde, sagt Baktash Siawash, der Chefberater des afghanischen Parlamentspräsidenten. Auch auf Regierungsseite sehen viele in dem um sich greifenden Chaos die Chance, fällige Rechnungen zu begleichen.
"In Afghanistan zu leben, als jemand, der in der Öffentlichkeit steht, der sich für Meinungsfreiheit und Menschenrechte einsetzt, für die Zivilgesellschaft, als jemand, der ein Afghanistan für die Afghanen will, natürlich ist so jemand bedroht. Aber ich denke: Der, der Sie ermorden will, wird Sie nicht bedrohen. Und wer Sie bedroht, der wird Sie nicht ermorden. So lief es auch bei meinem Bruder. Man macht Ihnen Angebote; man lockt Sie mit einem interessanten Job, verschafft Ihnen eine hohe Position. Und dann bringt man Sie um."

"47 Tage später explodierte sein Auto"

Der Bruder des Parlamentsberaters, Yama Siawash, war ein prominenter Fernsehmoderator. Für die Regierung bestand das Problem mit ihm darin, dass er ihre Korruption mit viel zu viel Detailkenntnissen kritisierte. Tolo TV, der Arbeitgeber des Fernsehjournalisten, sah sich unter dem Druck von oben genötigt, den unbequemen Fragesteller zu entlassen. Doch dann bot die Regierung ihrem Kritiker überraschend eine hochdotierte Position an, bei der afghanischen Zentralbank. Und das, ohne von dem Journalisten irgendwelche finanztechnischen Qualifikationen oder Vorkenntnisse über den Bankensektor zu verlangen.
"Sie gaben ihm also diesen Job bei der Zentralbank. Dort fing er seine Arbeit an. Und 47 Tage später explodierte sein Auto."
Ein gepanzertes Fahrzeug mit aufgedruckter Deutschlandfahne fährt durch staubige Landschaft
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So schnell wie möglich weg

Seit dem Mord an seinem Bruder Yama im November 2020, verlangen Baktash und die übrige Familie von der afghanischen Regierung Erklärungen. Der zuständige Vizepräsident verstrickte sich in Widersprüche. Zeugen verschwanden, Beweise wurden blockiert. Die Familie leitete daraufhin selbst rechtliche Schritte ein. Und befürchtet, einer von ihnen könnte jetzt mit der nächsten Bombe hochgehen. Sie wollen nur noch eins: So schnell wie möglich weg aus diesem Land. Andere fliehen nicht vor der Regierung, sondern vor den Taliban.
Vor allem die Vertreter der westlich orientierten Bildungselite sind es, die Afghanistan den Rücken kehren – genau diejenigen also, auf denen 20 Jahre lang die Hoffnungen der internationalen Gemeinschaft ruhten. Doch statt auf Demokratisierung, richten sich die Hoffnungen in Deutschland nun auf etwas anderes. Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen:
"Es ist tatsächlich die Gretchenfrage, was am Ende des Tages für `ne Denkschule innerhalb der Taliban sich durchsetzt. Es gibt weiterhin diejenigen, die zurück in die 90er wollen. Es gibt Leute, die weit schlimmer sind als die, die wir in den 90ern gesehen haben. Aber es gibt auch Leute, die sehr stark zumindest darauf achten, nicht internationale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen mit der zumindest sichtbaren Unterdrückung von Frauen, Zerstörung von Weltkulturerbe und all die Dinge, die wir von früher kennen: Verbot von Fernsehen oder Sport, Erschießung von Jugendlichen, weil sie Volleyball spielen und all diese Barbareien."
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Ein anderes Afghanistan

Hoffen auf eine neue, auf eine moderne Generation der Taliban? Nach der Ermordung seines Sohnes, dem Fernsehjournalisten Yama, will auch der Vater der Familie Siawash nicht länger im Land bleiben: Mohammed Dawood Siawash - selbst Journalist und Schriftsteller. Mohammed Dawood träumt von einem anderen Afghanistan. Dem Land, das er in seiner Jugend kannte. In dem es einen toleranten Islam gab, Poeten, Musik und Dutzende von Tageszeitungen. Sein Spezialgebiet ist der mittelalterliche Poet und Mystiker Dschall‘addin Rumi. Einer, der unter den Taliban heute als Gotteslästerer ausgepeitscht oder gar hingerichtet würde.
"Dieses Buch hier habe ich über Rumis Gesänge geschrieben. Die Leute im Westen denken, vor 2001 gab es in Afghanistan nichts, ein Land ohne Kultur, ein Land der Barbarei. Tatsächlich gab es zur Zeit des Königs Amanullah Khan in den 1920er Jahren in Afghanistan schon eine freie Presse. Aber stattdessen wird ein anderes Image von Afghanistan verbreitet: Das eines Landes, das keine Geschichte hat. Der US-Gesandte Khalilzad schreibt in seinem eigenen Buch: Wir haben in Afghanistan in zehn Personen investiert. Unter ihnen Karzai und Ashraf Ghani. Das hier ist die Zeitung, in der unsere Familie seit langem tätig ist.
"Und das sind die Mitglieder der Redaktion."
Wenn man ein unabhängiges Projekt realisieren wolle, sagt Mohammed Dawood Siawash, dann habe man das auch ohne Funding schaffen können, ohne vom Ausland finanziert zu werden.

"Sind die Gebildeten nicht mehr da, wird die Gesellschaft untergehen"

Zur Redaktion der Zeitung Armaghan-e-Milli gehören auch Dawoods zwei jüngere Töchter Nahid und Anahita, 15 und 17 Jahre alt. Sie gestalten im familieneigenen Blatt die Seite für die Jugendlichen. Nahids neuester Artikel trägt den Titel: ‘Warum Krieg keine Lösung ist’.
Der Krieg ist blind, schreibt sie. Er sieht seine Opfer nicht. Er sieht nicht das Kind, nicht die Frau und nicht die Frau mit einem Kind auf ihren Schultern.
Den Exodus der Gebildeten als unvermeidlich akzeptieren und sich mit dem Afghanistan der Taliban abfinden? Auch für ihre Schwester, die 17-jährige Anahita, ist das keine Option:
"Die Welt muss in Afghanistan die Intellektuellen, die Journalisten unterstützen. Wenn die Gebildeten nicht mehr da sind, wird die Gesellschaft untergehen."
Zwei Afghaninnen, 17 und 15, die eine Zeitungsseite gestalten, die in Afghanistan bleiben wollen, aber nicht mehr können. Nicht unter dieser Regierung und nicht unter den Taliban - "Ortskräfte" wie sie sind es, die dem Land besonders fehlen werden.