Im Roman „Eine Nebensache“ findet ein interessantes erzählerisches Verfahren Anwendung: Es gibt keine Erzählinstanz, aus deren Perspektive die Ereignisse im August 1949 geschildert werden.
Im ersten Teil des Romans gibt es eine Hauptfigur, den Kommandanten eines israelischen Militärcamps. Mitgeteilt aber werden uns ausschließlich seine Sinneseindrücke. Wir erfahren von schwarzen Punkten, die ihm vor Augen tanzen, Folge eines unbehandelten Skorpion-Bisses. Wir erfahren vom beißenden Geruch, der dem Haar des verschleppten beduinischen Mädchens entströmt, nachdem es die Soldaten mit Benzin desinfiziert haben.
Erzählweise wird Shibli zum Vorwurf gemacht
Was der israelische Kommandant fühlt, was er denkt, als er dem Mädchen seine Hand auf den Mund presst, das Hemd hochschiebt, sie schließlich bewusstlos in seiner Hütte zurücklässt, erfahren wir nicht.
Der zweite Teil des Romans liefert eine Erklärung, weshalb Adania Shibli diese unbeteiligte filmische Erzählweise, die ihr nun zum Vorwurf gemacht wird, wählt: Jahrzehnte später versucht eine Frau aus Ramallah, in israelischen Archiven mehr über die Massenvergewaltigung und Tötung der jungen Beduinin herauszufinden. Und scheitert.
Geschichte der Frauen ist nicht dokumentiert
Sie realisiert: Die offizielle Geschichtsschreibung liefert in Bezug auf die Perspektive des Mädchens keine Erkenntnisse. Die Geschichte der Männer im Krieg ist bestens dokumentiert, die der Frauen existiert nicht. Eine Tatsache, über die schon die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch ein Buch geschrieben hat: „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“.
Nun wird auch klar, weshalb es im ersten Teil keine Innensicht gibt, geben kann. Die Perspektive des Mädchens lässt sich nicht rekonstruieren, und es ist nur konsequent und literarisch legitim, dass auch die der israelischen Soldaten ausgespart bleibt.
Infamer Propagandavorwurf
Namenlos sind alle Figuren. Adania Shibli – wie etwa Maxim Biller es getan hat – der Propaganda zu bezichtigen, ist infam und am Text nicht zu belegen. Im Gegenteil: Adania Shibli tut gut daran, die Ereignisse sachlich zu schildern.
„Eine Nebensache“ ist ein Roman darüber, dass im Krieg und bei militärischen Missionen der Körper der Frau zum Schlachtfeld wird, zum Kriegsschauplatz. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist integraler Bestandteil kriegerischer Auseinandersetzungen. Sei es in der Ukraine, im Bosnienkrieg der 1990er-Jahre, im Kontext der Kriegsverbrechen der Terrormiliz Boko Haram. Oder eben in Israel, von wo uns die jüngsten Bilder vergewaltigter Frauen erreichen.
Wichtiger literarischer Text über den Krieg
Nach den Massenmorden der Hamas-Terroristen wäre die Preisvergabe kaum auszuhalten, war bereits Anfang der Woche in der taz zu lesen. Tatsächlich ist es andersherum. Es ist nicht auszuhalten, dass dieser wichtige literarische Text nun nicht auf der Buchmesse ausgezeichnet wird.
Wenn er jetzt nicht gekommen ist, der richtige Zeitpunkt, um über sexualisierte Gewalt gegen Frauen im Krieg zu sprechen, über Vergewaltigung als Kriegswaffe, wann dann?
Die Grenzen verlaufen, das müssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis rufen, auch in diesem neuen Krieg nicht entlang von Nationalitäten. Sondern zwischen denen, die zu Gewalt aufrufen, sie begehen, sie feiern, und denen, die es nicht tun. Adania Shibli gehört zu Letzteren.