"Man kann sich vorstellen, dass dieses Gebäude, ähnlich wie ein menschlicher Körper, Muskeln bekommt." Es klingt, als stünde hier auf dem Campus der Universität Stuttgart ein Transformer oder ein anderer gewaltiger Roboter. Stattdessen steht Lucio Blandini vom Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren vor einem schlichten Hochhaus, dem man seine Muskeln zumindest äußerlich nicht ansieht. Ein nur fünf Meter schmaler Turm aus elf Stockwerken, eine Fassade aus einer weißen Plastikfolie, die von Holzlatten gehalten wird. Daneben ein Turm mit einer Stahltreppe.
"Dann kommen wir jetzt mal in den Maschinenraum." Oliver Sawodny, einer der Leiter des Hochhaus-Projekts, führt ins Erdgeschoss. Hier wird die Besonderheit deutlich: Der Elfgeschosser steht auf schlankem Fuß. Nur vier Stahlträger in den Ecken halten sein gesamtes Gewicht, die Etagen werden von Holzdecken getrennt.
"Das darf nicht schaukeln, das darf sich nicht zu weit horizontal bewegen, sonst kommen dann gewisse Angsteffekte und so weiter."
Normalerweise werden Hochhäuser massiv gebaut: Das schiere Gewicht eines Kerns aus Stahlbeton allein verhindert in der Regel, dass die obersten Etagen spürbar schwanken, wenn der Wind einmal zu stark bläst. Hinzu kommt bei sehr hohen Gebäude eine Dämpfung, etwa in Form großer Wassertanks. Diese Masse schafft Sicherheit – aber sie frisst auch viele Ressourcen. Das Forschungshochhaus in Stuttgart geht einen anderen Weg: Es ist adaptiv.
"Wir haben hier jetzt vier aktive Stützen in den jeweiligen Ecken. Und wir haben an jeder Seite jeweils zwei aktivierbare Seitenverstrebungen, also insgesamt acht Hydraulikzylinder, die hier aktiviert werden können."
Die Zylinder ähneln den Stoßdämpfern in einem Auto. Dazu kommen unzählige Sensoren, eine Wetterstation auf dem Dach und mehrere Steuerrechner, die all die Daten verarbeiten. Wenn ein Orkan bläst, stemmt sich das Haus einfach gegen den Wind, quasi wie ein Riese auf vier Beinen – mit hydraulischen Muskeln.
"Dann gehen wir mal hoch, ein bisschen den Ausblick genießen." Über die Außentreppe geht es 37 Meter – oder ungefähr 180 Stufen – nach oben. Der Treppenturm ist wenige Zentimeter entfernt aufgestellt, damit die Forschenden ungestört beobachten können, wie das frei stehende Forschungshochhaus auf den Wind reagiert.
Bau wird komplexer als bisher
Bislang sind die 12 Etagen* unbewohnt und werden nur für die Messtechnik genutzt – die Forschenden wollen aber genug Erfahrungen sammeln, um die Technik zukünftig auch für bewohnte Gebäude einsetzen zu können. Sie wollen damit zwei Trends begegnen: Dass einerseits der Wohnraum immer teurer wird, weshalb Innenstädte zunehmend höher bebaut werden, und dass Häuser normalerweise umso mehr Baumaterial benötigt wird, je höher sie sind.
"Hier oben merkt man, dass selbst an einem windstillen Tag eine Brise zu spüren ist."
In Stuttgart scheint heute die Sonne – und das adaptive Hochhaus steht ruhig – ganz ohne dass es seine Stahlmuskeln spielen lässt. Die Architektin Hannah Schürmann untersucht die Organisation des Bauprojektes – und die war herausfordernd.
"Es ist so, dass sowieso schon sehr viele Fachingenieure bei Planungen von Gebäuden involviert sind. Und jetzt kommen noch mehr Disziplinen hinzu, wie zum Beispiel System Dynamics oder die Luft- und Raumfahrttechnik, die bisher oft nicht involviert waren."
Recycelbare Fassade mit Energiespeicher
Vier Jahre will das Team das Haus erproben. Die Plastikfolie soll noch durch Fassadenelemente ersetzt werden, die Energie speichern und die leicht zu recyceln sind. Bis Bauämter auch bewohnte adaptive Leichtbau-Hochhäuser zulassen, dürften noch Jahre vergehen, schätzt Oliver Sawodny. Vielleicht aber kommt den Ingenieuren und Architekten aus Stuttgart auch eine andere Entwicklung entgegen: Denn gegenüber einem normal gebauten Hochhaus kann in einem adaptiven Gebäude die Hälfte des Baumaterials eingespart werden.
"Wir haben ja aktuell einen starken Anstieg der Rohstoffpreise. Wenn sich das weiter fortsetzt, dann wird natürlich Materialeinsparung auch einen ganz anderen Stellenwert bekommen, auch aus einer wirtschaftlichen Perspektive. Und dann wird es auch einen Schub für solche Technologien geben. Und ich glaube, das bleibt einfach abzuwarten, in welcher Geschwindigkeit das passiert."
*An dieser Stelle haben wir nach einem Hinweis des Autors die Zahl der Stockwerke korrigiert: 12 anstelle 11.