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Adler in dünner Luft

Bis in die Neuzeit setzten antike Vorstellungen ästhetische Maßstäbe. Wer einen Goldenen Schnitt in den Proportionen eines Gemäldes oder Fotos findet, darf sich für einen ästhetischen Experten halten. Die Mathematik dahinter erschöpft sich in simplen Zahlenverhältnissen, "harmonischen" Proportionen, und elementarer Geometrie. Zwar versucht die Mathematik weiterhin mit einfachen Formeln, mit schönen Figuren und Spielereien sich ihrem Laienpublikum verständlich zu machen; und wo das nicht gelingt, verweist sie auf die erfolgreichen Anwendungen ihrer Methoden im praktischen Alltag. Doch Mathematiker, die sich wie Adler in dünner Luft auf dem Gipfel ihrer Zunft bewegen, stoßen auf eine ganz andere Schönheit; sie liegt in der Reichhaltigkeit der Strukturen ihrer Geisteswelt, in der als überirdisch empfundenen Eleganz eines Gedankengangs oder im Aufspüren unerwarteter Zusammenhänge.

Von Bernd Schuh |
    "Mathematik ist, in ihren entscheidenden Momenten, eine Einsamkeitswissenschaft."

    "Es ist eine Disziplin, sie hat es zu tun mit den unveränderlichen Strukturen, die hinter den Dingen stehen, das Eigentliche, das ist die eigentliche Welt."

    "Es ist wie in der Musik oder anderen Berufen dieser Sorte, man wählt sie nur, wenn man absolut davon begeistert ist und nichts anderes mit seinem Leben tun möchte."


    Adler in dünner Luft
    Weshalb die Mathematik schön - und vielleicht sogar wahr ist
    Von Bernd Schuh."

    Wir befinden uns am Fuß eines hohen Gebirges. In den Tälern ringsum herrscht Betriebsamkeit. Häuser werden errichtet, Straßen und Brücken gebaut. In den Computerzentren flippen die Bits, und in den Windkanälen werden neue Wagentypen getestet. In den Schulen lernen die Kids, dass Mathe die Grundlage all dessen ist.

    Für die meisten Flachländer ist Mathematik gleichbedeutend mit Plus und Minus, Bruchstrichen, Hochzahlen, Indizes und Integralen,%en und Potenzen, und spätestens danach kommt die "höhere Mathematik" - und die ist völlig undiskutabel. Verzweifelt mühen sich die Lenker von Staat und Wirtschaft, dem Image der Disziplin einen freundlichen Anstrich zu verpassen. Schließlich sind sie überzeugt: sie brauchen Mathematiker, jetzt und in Zukunft, mehr und mehr, um den Laden am Laufen zu halten. Es gibt Orte im Flachland, wenn auch wenige, wo man das auch anders sieht.

    ""Mein Name ist Albrecht Beutelspacher. Ich bin Mathematikprofessor an der Universität Gießen und gleichzeitig Direktor des Mathematikums."

    Das Mathematikum – eine scheinbar wenig attraktive Kombination von Museum und Mathematik. Scheinbar. Beutelspacher:

    "Sämtliche Prognosen, was Besucherzahlen betrifft, wurden über den Haufen geworfen. Meine Zahl war 60.000 Besucher pro Jahr, hat mir auch niemand geglaubt damals, weil der Dreiklang aus 60.000 Besuchern zur Mathematik nach Gießen, das klang irgendwie völlig unglaublich. Mittlerweile sind es 150.000 Besucher pro Jahr stabil, alle Bildungsschichten, und alle haben unglaublich viel Freude."

    Mathematik und Freude? Beutelspacher:

    "Die Mathematik wird hier nicht präsentiert über Formeln, Gleichungen, über die mathematische Sprache, sondern sie wird geöffnet von der anderen Seite, durch eigene Erfahrungen."

    Vielleicht liegt die Attraktion solcher Orte wie das Mathematikum am Ausblick auf die lockenden Gipfel der Berge ringsum. Dort weht ein anderer Wind.

    Zitat:

    "Die mathematischen Wissenschaften drücken Ordnung, Symmetrie und Beschränkung aus – und dies sind die höchsten Formen der Schönheit.""
    [Aristoteles]

    Klaus Mainzer:

    ""Und das Mathematische war schön und es war sogar gut."


    Zitat:

    "Das entscheidende Kriterium ist Schönheit; für hässliche Mathematik ist auf dieser Welt kein beständiger Platz."
    [G.H.Hardy.]

    Don Zagier:

    "Schönheit kann nicht bestehen, wenn sie nicht wahr ist."


    Wer ergründen will, was diese Männer meinen, muss den Berg hinauf, zumindest ein Stück. Muss auch zurück in der Zeit, dorthin, wo die Wiege der europäischen Kultur stand, im antiken Griechenland.

    "Wenn Sie zurückgehen zu den Pythagoräern, da war es ja so, dass die vier Disziplinen Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Harmonielehre, heute würde man sagen Musik, waren."

    Klaus Mainzer, Physiker, Mathematiker und Philosoph macht den Bergführer, zumindest ein Stück Wegs. Mainzer:

    "Die Pythagoräer betrachteten diese vier Disziplinen als die Kehrseite derselben Medaille."

    Pythagoras. Sein Name ist jedem Schüler geläufig, mit der Geometrie rechtwinkliger Dreiecke verbunden. a Quadrat plus b Quadrat gleich c Quadrat. Seine Schüler, die Pythagoräer, gelten als Begründer einer Weltsicht, die den Sinn in der Zahl sucht. Mainzer:

    "Es ging immer um Proportionen. Um Proportionen, die einmal als geometrische Verhältnisse dargestellt wurden, Strecken, und Flächen, und Körper, oder die als Zahlenverhältnisse dargestellt wurden, wobei die Griechen überhaupt nur die natürlichen Zahlen kannten, 1, 2, 3, 4, 5. Und dann die astronomischen Verhältnisse, hier wurden dann Geschwindigkeiten ins Verhältnis gesetzt und schließlich musikalische Proportionen."

    Die Zahlen 3,4,5 etwa und ihre Verhältnisse beschreiben die Proportionen eines harmonischen Dreiklangs. Zugleich erfüllen diese Zahlen die Gleichung des Pythagoras: a Quadrat plus b Quadrat gleich c Quadrat, denn 3mal3 ist 9 plus 4 mal 4, also 16, ist 25, also 5 zum Quadrat. Solche pythagoräischen Tripel halfen in der Architektur beim Abmessen und Bauen, und zugleich galten sie als Ausdruck einer göttlichen Ordnung, die die Griechen auch im Himmel wiederfanden. Mainzer:

    "Wenn man mal an so einem sternenklaren Abend hinauf blickt, dann ist man immer wieder beeindruckt von dieser ewigen, scheinbar unveränderlichen Welt, und so war das natürlich damals auch, und deshalb wurden die Götter und das Ewige und Unveränderliche da oben vermutet, und nicht bei uns unten, das war Physis. Das griechische Wort Kosmos heißt übersetzt eigentlich so viel wie das geschmückte Haus, da kommt der ästhetische Aspekt zum Ausdruck, um diese Strukturen, diese Proportionen ging es eigentlich."

    Die antiken Denker versuchten, die himmlische Ordnung in Zahl und Geometrie zu fassen. Die Sterne schienen ihnen auf ineinander geschachtelte Kugelschalen geheftet, die Himmelssphären. Deren Radien hatten feste einfache Zahlenverhältnisse, die sich auch in der Musik als besonders harmonische, schöne Proportionen wiederfanden. Mainzer:

    "So dass die pythagoräische Tradition davon überzeugt war, wenn man die Ohren hätte, die geistigen Ohren, dann würde man auch die Sphärenharmonien hören, die da oben dargestellt sind, denn dann würde man feststellen, dass Quinten, Quarten also diese Art von Proportionen da oben etwa in den Radien der Sphären realisiert wären. Also das ist offenbar ein invarianter Gedanke bei uns Menschen überhaupt, dass man durch den Anblick des Himmels - und ich vermute, dass in den Kulturen wo man einen guten Blick auf den Himmel hatte - dass man dort also diese göttliche und mathematische Welt vermutet hat. Und dass die Theologie dieser Völker immer eng verbunden war mit der Mathematik."

    Diese Verbindung zeigt, dass Mathematik sich nicht mit der ungenauen, schattenhaften Natur abgibt, sondern mit den idealen Verhältnissen in einer eigenen unirdischen Ideenwelt. Mainzer:

    "Also ganz klar, Mathematik ist eine Geisteswissenschaft. Eindeutig, hundertprozentig. Dass die Mathematik zu den Naturwissenschaften gezählt wird, ist eine typisch neuzeitliche Tradition, die damit zusammenhängt, dass die Physik als erste der Disziplinen weitgehend durchmathematisiert wurde. Die Griechen waren vollkommen davon überzeugt, dass sie durch Nachdenken und Reflexionen über die Zusammenhänge und das Zusammendenken ihrer Beobachtungen die wahre Struktur, die wahren Proportionen erkennen. Und das ist ja auch eine Vorstellung, die wir auch in der frühen Neuzeit erkennen. Galilei oder Newton, die fest davon überzeugt waren, dass ihre physikalischen Gesetze in der Sprache der Mathematik gewissermaßen die göttliche Ordnung, wie man damals sagte, zum Ausdruck brachten. Und das ist der alte Ordo-Gedanke des Mittelalters, oder diese Logos-Tradition der Griechen. Und was wenig bekannt ist, um auch die philosophischen Dimensionen deutlich zu machen, das griechische Fachwort in der Mathematik für Verhältnis, für Proportionen, ist Logos."

    Der Logos, das wahre Verhältnis, Ausdruck der göttlichen Vernunft, der unveränderlichen Idee, wurde in der Philosophie zum Leitgedanken auch für die Ethik und die Ästhetik. Mainzer:

    "Das Interessante ist, in der Ethik genau dieselbe Überlegung, Gerechtigkeit, das Gute, das war Proportionalität der Güterverteilung, verteilende Gerechtigkeit, sinnbildlich dargestellt an der Waage, mit den unterschiedlichen Längen der Arme und den unterschiedlichen Proportionen der Gewichte, die Waage im Gleichgewicht. Und das ist wirklich eine Einheit, insofern war die Schönheit mathematisch und das Mathematische war schön und es war sogar gut. Und das ist ein Gedankengang, der bis ins Mittelalter, bis in die Renaissance sich eigentlich durchgehalten hat."

    Doch die Sprache, in der noch Galileo Galilei die Natur verstehen wollte, wurde immer komplizierter. Die Strukturenwelt der Mathematik immer reichhaltiger. Längst hatte man sich von den einfachen Zahlen und Zahlenverhältnissen der Griechen entfernt. Schon die waren auf irrationale Zahlen gestoßen, Längenverhältnisse, die man nicht mehr durch Brüche darstellen konnte. Nach den Wurzeln kamen die transzendenten Zahlen wie Pi, und sogar komplexe und imaginäre Zahlen, mit denen man prächtig rechnen konnte, die aber in der Natur keine Entsprechung zu haben schienen. Auch die Zweifel an der Alleingültigkeit der Euklidischen Geometrie – bis weit ins 18. Jahrhundert geglaubt – mehrten sich. Galten die vertrauten Winkelbeziehungen und Strahlensätze noch in gekrümmten Räumen? Konnten sich parallele Geraden vielleicht doch im Unendlichen schneiden? Ist der physikalische Raum kein euklidischer Raum? Mainzer:

    "Da klaffte zum ersten Mal die Physik mit der Mathematik auseinander. Und es ging dann im 19. und 20. Jahrhundert dramatisch weiter, so dass die Mathematik sich im Grunde emanzipiert hat, und heute sieht man das ja daran, dass sehr viele Mathematiker im Grunde keine Physiker sind."

    Verweilen wir ein wenig auf der Bergwanderung und genießen die Aussicht. Sie ist zweifellos schön, geprägt von Figuren und Formen, die wir mit einfachster Mathematik und Geometrie beschreiben können. Der Goldene Schnitt bestimmt die Ästhetik unseres Empfindens, eine simple Verhältnisrechnung, die auf nichts Komplizierteres hinaus läuft als die Wurzel aus der Zahl 5. Schneckengehäuse zu unseren Füßen winden sich in Spiralen, die ebenfalls einer mathematischen Logik folgen, die dem Goldenen Schnitt verwandt ist. Die Kaninchen ringsum vermehren sich im Rhythmus einer Wachstumsfolge, die Anfang des 13. Jahrhunderts ein gewisser Leonardo Fibonacci entdeckte. Auch die Fibonaccifolge lässt sich aus dem Goldenen Schnitt konstruieren und umgekehrt.

    Wir sehen Küstenlinien, zerfaserte Gebilde, Fraktale, die sich selbst ähneln, wenn wir sie durchs Fernglas betrachten und die Vergrößerung ändern; auch im dichten Zweigwerk der Wälder ringsum erkennen wir die fraktale Schönheit. Ebenso wie in den Schneekristallen auf fernen Berggipfeln. Wir könnten uns zufrieden geben. Auf halbem Weg umkehren und zurück in die Täler gehen, wo unverfroren die Ahnungslosen das Hohelied der von ihnen unverstandenen Wissenschaft singen, weil es opportun ist und die Wirtschaft fördert. Wir können auch weiter gehen. Und versuchen, die Schönheit zu erahnen, die die Gipfelstürmer erleben. Wenn sie oben sind und alles aus der hohen Warte betrachten. Doch Vorsicht, die Luft wird dünn. Und der Aufstieg beschwerlich. Mainzer:

    "Dann gibt es so einige Pioniere, die dort mit der Sauerstoffflasche unterwegs sind, aber wir alle sind ja Nichtbergsteiger, aber warum sollen das nicht einige tun, und das kann Konsequenzen haben für unsere eigene Erkenntnis, biologische Erkenntnisse, in Anführungszeichen, auch Konsequenzen für unsere Alltagswelt. Meine mathematische Erfahrung ist einfach die, dass man in der Alltagswelt heute auf Instrumente zurückgreifen muss, die hoch abstrakt sind und von daher es lohnenswert ist, auch sich mit der Zahlentheorie zum Beispiel sich zu beschäftigen. Das ist eigentlich die Königsdisziplin der Mathematik."

    Schnallen wir also die Sauerstoffflaschen um und lassen uns führen von jemandem, der sich auskennt in dieser Königsdisziplin, der Zahlentheorie. Dem nicht bange ist, vorzustoßen zu den Adlern hoch oben, die noch über dem ganzen schweben. Don Zagier:

    "Da ist ein interessantes Problem, über das ich viel gearbeitet habe, von Silvester, im 19. Jahrhundert, ob eine gegebene Zahl, zum Beispiel eine Primzahl, die Summe zweier Kubikzahlen ist. Also dritte Potenzen, a hoch drei plus b hoch drei. Also zum Beispiel ist 13 eine solche Zahl, und die Antwort ist ja, denn die lässt sich zerlegen, sieben drittel hoch drei plus zwei Drittel hoch drei, das kann man noch sagen, aber es ist nicht so leicht zu finden, aber es kann beliebig kompliziert sein, und das sieht man der Zahl nicht an, das heißt, man sieht nicht, warum es bei 13 relativ einfach ist."

    Don Zagier war ein Wunderkind, vielsprachig, mit 16 Jahren Diplom in Mathematik, mit 24 Professor. Dennoch rechnet er sich – vielleicht in falscher Bescheidenheit – nicht zu den ganz Großen. Nur eine Handvoll von denen gibt es in jeder Generation. Mathematiker, die uralte Probleme gelöst haben - so wie Grigori Perelman die Poincaré Vermutung. Oder die mit völlig neuen Ideen unbekannte mathematische Landschaften auftaten, so wie Leibniz und Newton die Differenzialrechnung; so wie Nicolai Lobatschewski, der als erster eine nicht-euklidische Geometrie entwarf. Oder solche, die Brücken bauen zwischen Gebieten, auch zwischen Physik und Mathematik – so wie Yuri Manin, der mit Don Zagier am selben Institut gearbeitet hat. Zagier:

    "Es gibt sehr gute Mathematiker, dazu gehöre ich wohl, und es gibt große Mathematiker. Und die erkennt man relativ leicht. Es gibt die Frösche in der Mathematik und Manin ist ein Adler der oben schwebt und alles sieht und ich bin ein Frosch der sich mit den Problemen seiner Umgebung befasst, aber ein sehr erfolgreicher."

    Der Erfolg zeigt sich in zahlreichen Preisen, die er erhalten hat, wenn auch nicht den ganz großen, der Fields Medaille, dem Nobelpreis in den anderen Naturwissenschaften vergleichbar. Nicht selten wird dieser Preis an Mathematiker vergeben, die ein uraltes Problem der Disziplin gelöst haben, einen Satz, den jeder glaubt, aber noch niemand beweisen konnte, eine so genannte Vermutung. Zwei berühmte "Vermutungen" wurden in den letzten zehn Jahren bewiesen. Die Poincaré Vermutung von Grigori Perelman. Zagier:

    "Das wird noch überprüft, aber ich bin kein Fachmann, ich wäre nicht imstande zu wissen, ob die Lösung richtig ist oder falsch, aber viele, viele Leute haben die Sache studiert, die Community ist sich einig, dass Perelman derjenige ist, der wirklich die -, allerdings hatte er einen Vorgänger, Hamilton, der die Strategie entwickelt hat, aber niemand konnte sie ausführen, das hat Perelman gemacht."

    Die andere erst kürzlich bewiesene Vermutung war über dreihundertfünfzig Jahre alt, und ein Problem aus der Zahlentheorie. Wir hätten sie schon unten im Tal im Mathematikum kennenlernen können. Beutelspacher:

    "Es gibt den berühmten Satz von Fermat. Fermats letzter Satz, da geht es um die Frage: Gibt es Zahlen a, b, c, so dass a hoch n plus b hoch n gleich c hoch n ist. Der Satz des Pythagoras war: a Quadrat plus b Quadrat gleich c Quadrat, also n = 2. Und die Frage ist: Gibt es Zahlen für ein größeres n, a hoch 3 plus b hoch 3 gleich c hoch 3. Das ist eine Frage, die die Mathematik über 300 Jahre beschäftigt hat."

    Zagier:

    "Die Vermutung von Fermat ist natürlich ein berühmter Fall, er hat sie nicht als Vermutung formuliert sondern als Satz, er hat behauptet, er hätte einen Beweis, was kein Mensch mehr glaubt, und das dauerte von 1640 ungefähr ist der 1999, bis man die Lösung hatte."

    1999 veröffentlichte der Brite Andrew Wiles einen komplizierten Beweis, der viele hundert Seiten füllte und die Mathematikergemeinde völlig überraschte. Viele Jahre hatte er daran gearbeitet. Beutelspacher:

    "Sieben Jahre lang, hat sich zurückgezogen, niemand etwas davon erzählt, so Pseudoarbeiten veröffentlicht, damit ja niemand auf die Idee kommt, er würde sich mit diesem Problem beschäftigen. Das finde ich eine tolle Leistung, was auch zeigt, Mathematik ist in ihren entscheidenden Momenten nach wie vor eine Einsamkeitswissenschaft."

    Zagier:

    "Wiles war ein Extremfall, er hat jahrelang über ein Problem nachgedacht, aber insgeheim, das durfte er niemand verraten, weil das so geladen war, schon das Wort ‚der letzte Satz von Fermat’, er hätte das gar nicht zu sagen gewagt, woran er dachte, und so konzentriert an einer Sache zu denken, das ist ganz, ganz wenigen gegeben."

    Der Fermatschen Vermutung war Wiles schon als Zehnjähriger begegnet. Und da die Fragestellung so leicht zu verstehen war, hatte er geglaubt, auch die Lösung würde sich schnell einstellen. Es sollte ein Gutteil seines Mathematikerlebens dauern. Was bewegt einen Menschen, sich so hartnäckig einem Problem zu widmen? Zagier:

    "Das ist immer das Problem, wenn man versucht Nichtmathematikern Mathematik zu erklären, man kann die Probleme erklären, so schwer sind sie nicht, aber es ist sehr schwer zu erklären, warum sie interessant sind. Wenn ich sage, ich würde alles dafür geben, zu wissen wann eine gewisse Primzahl die Summe von zwei Kubikzahlen ist, dann klingt das wahnsinnig, also warum soll das wichtig sein? Diese eine ganz konkrete Vermutung, die eigentlich gar nicht wichtig ist, ist ein Test, wie viel wir verstanden haben von dem Zusammenhang dieser verschiedenen Gebiete. Also es gibt sehr verschiedene Arten von Mathematikern, aber alle suchen nach Zusammenhängen zwischen verschiedenen Sachen die man nicht vermuten würde. Das Aufregende ist, dass man sozusagen in die Sachen hinein gucken kann wie in einem Mikroskop und ihr inneres Wirken verstehen, das ist eigentlich das Aufregende."

    Eine neue mathematische Wahrheit zu entdecken, einen bislang unbekannten Zusammenhang, eine elegante Beweisführung oder geschickte Argumentation spricht auch das ästhetische Empfinden an. Zagier:

    "Die Schönheit ist nicht die Schönheit der Objekte selber. Es gibt zum Beispiel die Fraktale, die wunderbare, schöne, ästhetische Bilder machen, und es gibt einige Sachen in der Mathematik, die visuell schön sind oder so, es gibt natürlich auch die mathematischen Strukturen der Musik, die schon Pythagoras entdeckt hat; aber die Schönheit, die ich meinte, ist nicht diese, die ist in dem Gedankengang selber, das ist in dem mathematischen Problem. Und dann jemand zu erklären was man meint, der das nicht kennt, das wäre wie zu versuchen zu erklären, warum ist Musik schön, an jemanden, der noch nie ein Musikstück gehört hat. Aber was erstaunlich ist, ist, dass es nicht nur dieses ziemlich einheitliche Gefühl für Schönheit gibt, sondern dass das wirklich eine ganz wesentliche Rolle spielt in der Einschätzung von Mathematikern auch in der Forschung."

    Wenn sich zur Lösung eines Problems mehrere Ansätze anbieten, werden die meisten Mathematiker den "schöneren" wählen, denjenigen, der einfach ist, ihnen elegant erscheint, der die komplizierte Rechnung umgeht, der mehr Erkenntnisgewinn auf lange Sicht verspricht. Zagier:

    "Wie der Schachmeister, der nicht wie ein Computer für den nächsten Zug alle 20 Möglichkeiten berücksichtigt, und dann alle 400 für den zweiten, alle 8000 für den dritten und so weiter, er würde nicht sehr weit kommen, er schmeißt sehr viel weg, er sagt: das ist nicht sehr interessant. Das ist kein gutes Schach, das kann's nicht sein, ich verfolge diesen Zug nicht weiter. Er kann nicht erklären, wieso er das weiß. Aber wenn er das nicht weiß, kann er kein Schach spielen."

    Nun wird die Luft wirklich dünn. Auf dieser Höhe können nicht mehr viele mithalten. Ist Mathematik am Ende mehr eine Kunst als eine Wissenschaft? Zagier:

    "Eigentlich glauben das alle Mathematiker. Die Mathematiker sehen sich selber als exakt zwischen Kunst und Wissenschaft. Die würden nie sich mit Schriftstellern oder Psychologen vergleichen, das ist eine ganz andere geistige Tätigkeit ,aber es ist andererseits total kreativ in dem Sinne, man darf die Probleme ganz erfinden, die Sachen sind da, die geometrischen Figuren, die Zahlen sind da, aber es gibt unendlich viele, man muss eine Auswahl treffen. Das ist fast dasselbe, als wenn man es ganz kreieren würde. Das ist wie beim Schach, in der Mathematik ist es auch so, das ist sehr, sehr persönlich auch. Man kann niemals einem Satz ansehen, das könnte nur Faltings bewiesen haben, aber man kann schon sehen, das würde vielleicht der eine gemacht haben und nie der andere. Es ist sehr, sehr persönlich und sehr, sehr individuell. Die Tätigkeit ist sehr, sehr kreativ, das kann auf sehr hohem Niveau sein oder sehr niedrigem Niveau. Es ist immer kreativ."

    Etwas unterscheidet die Mathematik von der Kunst, von Musik oder Literatur, einem Bild oder einer Skulptur; es ist nicht der kreative Akt oder die Wahl der Mittel. Es ist die universelle Bewertbarkeit des Ergebnisses – es ist die Wahrheit. Zagier:

    "In den Geisteswissenschaften gibt es ja keine richtige Antwort. In der Mathematik ist es absolut. Man weiß, es ist ewig, was ich da gefunden habe, es stimmt und es wird auch noch in 1000 Jahren stimmen, ich habe eine kleine Sache wirklich zu Ende gelöst und verstanden. Ein Maler oder ein Musiker, der auf eine neue Art ein Problem gelöst hat, wie stelle ich eine bestimmte Emotion dar, oder wie mache ich etwas originelles Neues, er weiß, dass er etwas ganz Tolles gemacht hat. Er kann es nicht erklären, es gibt keinen Beweis, dass das besser war; die Leute, die ein Gefühl dafür haben, verstehen es. In der Mathematik gibt es mindestens einen Beweis, dass die Sache richtig war. Ob sie gut ist oder interessant, darüber ist natürlich auch wieder Geschmacksfrage. Die Schönheit kann nicht bestehen, wenn sie nicht wahr ist. Also eine falsche Lösung, und ist sie noch so schön, wird niemand sehr lange als schön empfinden. Natürlich ist diese Suche nach der Wahrheit der Schlüssel zur ganzen Mathematik und diesem Empfinden von Schönheit."

    Wir sind jetzt dem Gipfel ganz nahe. Über uns wölbt sich der Himmel, fliegen die Adler; wir kommen den Göttern immer näher. Zagier:

    "Ich glaube schon, dass die wirklich großen Mathematiker aller Zeiten wie Abel, Riemann, Gauss, das ist schon ein tolles Erlebnis, wenn man einfach guckt, was sie gemacht haben, und man hat das Gefühl, dass sie auf eine andere Weise oder auf eine tiefere Weise gedacht und verstanden haben als gewöhnliche sterbliche Mathematiker. Insofern ist schon etwas Göttliches oder halb Göttliches dabei. Es ist so unvorstellbar, wie gewisse Ideen überhaupt entstanden sind."

    Sphärenmusik scheint herüber zu klingen. Sphärenmusik aus dem Himmel platonischer Ideen, aus dem schon die antiken Mathematiker ihre Gegenstände schöpften. Dort wo unser Aufstieg begann. Klaus Mainzer:

    "Diese Sprache der Mathematik, die hat etwas an sich, was keine andere Sprache hat. Da ist schon etwas Besonderes angelegt in diesen Proportionen, die irgendwas in dieser Welt treffen, das die Welt im Innersten zusammenhält.
    So wie in jedem Physiker ein Stück naiver Realist steckt, dass man davon überzeugt ist, da draußen ist die Welt, ich kann es zwar nicht beweisen, aber es ist so. So ist der Mathematiker irgendwo ein naiver Platoniker. Das meine ich jetzt nicht abwertend, sondern im positiven Sinne, der Überzeugung nämlich, dass es da eine eigene Wirklichkeit gibt. Warum um alles in der Welt soll die Wirklichkeit zugeschnitten sein auf empirisch? Das ist die neuzeitliche Philosophie, die uns das predigt, das ist der Alltag, der uns das predigt, das ist unsere Sinnenwelt, die uns das predigt, und unser Körper ist so gebaut und alles das schreit danach, und die Mathematik ist etwas, das sich unser Gehirn ausdenkt. Aber ausschließen lässt sich dieser faszinierende Gedanke einfach nicht. Dass wir tatsächlich auf diese Art und Weise Zugang haben zu einer Wirklichkeit, die also jenseits dieser Sinnenwelt ist. Mathematiker verkaufen sich nicht immer geschickt, weil sie sich darauf beschränken, genau das zu verkünden, und der Alltagsmensch denkt dann: der Fermatsche Satz, das ist irgend so eine Turnübung, da gibt der Mann sein Leben hin, aber was soll der Quatsch; dass da letzthin unsere Kultur dran hängt, an dem ganzen Fermatschen Satz, dass da unsere Physik dran hängt, unsere Technologie, natürlich im vermittelten Sinne, das ist eigentlich Mathematik, denn all dieses Wissen hängt miteinander zusammen."