Ich hoffte aus eigenem Antrieb zu sterben. Stattdessen schlief ich ein, irgendwann. Als ich wieder aufwachte, irgendwann, tastete ich mich in die Küche zum Kühlschrank und entnahm dem Gefrierfach ein Siegel Koks, und weil meine Nase mit sich selbst verwachsen war zu einem festen Klumpen, ohne jede Öffnung, riß ich den Mund auf und warf das Koks hinein und schluckte schnell, bevor mir der Hals so taub wurde, dass das Schlucken nicht mehr ging.
Juli Zehs Roman Adler und Engel ist ein vielversprechendes, starkes Debüt. Für die meisten seiner Hauptfiguren hingegen ist alles zu Ende: die Liebe, das Leben und die Hoffnung, dass nicht alles völlig gemein und verdorben sein möge. Juli Zehs erster Roman ist ein schwarzes Buch über eine häßliche Welt. Und die Autorin läßt keinen Zweifel daran, dass sie damit unsere schöne neue Erste Welt meint: mit ihrem Kapitalismus, der alles zur Ware macht, ihren schillernden Medien, die dabei mithelfen und mit all den Gewinnertypen, die an den großen Rädern drehen.
Adler und Engel ist auch ein sehr ungewöhnliches Debüt. So viel Illusionslosigkeit, Weltverzweiflung und Selbstzerstörungswille war in der jüngeren deutschen Literatur lange kein Thema. Ganz zu schweigen von dem unbedingten Mißtrauen, mit dem hier nicht nur politische sondern sogar die scheinbar ehrwürdigsten rechtlichen Institutionen betrachtet werden. Und nimmt man schließlich noch die eingebauten Elemente des Polit-Thrillers hinzu, dann ist eine wahrhaft erstaunliche Romankonstruktion komplett.
Es ist Clara, die Max mit dem Gedanken konfrontiert, dass seine geliebte Jessie auch einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Clara klingelt an Maxens Tür und macht ihn zu ihrem Forschungsobjekt. So beginnt der Roman. Ihre Studienfächer sind Soziologie und Psychologie, ihr Professor erforscht die "Pathologie des organisierten Verbrechens". Das ist gut erfunden, und nach dieser Methode verfährt Juli Zeh hier allenthalben: Sie überzeichnet triftig und einfallsreich wiedererkennbare Realphänomene. Auch Claras Porträt als Talkmasterin im Radio gibt diesem Job, mit dem sie ihr Geld verdient, eine interessante Interpretation: als Interferenz von leerem Geschwätz und Endspielsarkasmus.
Okay, sagt Clara, es ist wieder soweit, ihr wißt Bescheid, schaut einfach auf eure Uhr... [...] Es ist vierundzwanzig Uhr, ich bin ganz für euch da, wer einen Tipp braucht, kann mich anrufen. Die Sendung für Verzweifelte, für Nihilisten, Zurückgebliebene und Einsame, für Atomforscher, Diktatoren und das einfache Arschloch von der Straße. Hier reden wir gemeinsam Über eine karge Welt. Wer ich bin, wißt ihr.
Eines nachts hat Max angerufen und in der Sendung erzählt, was bei seinem letzten Telefonat mit Jessie geschehen ist. Plötzlich hörte er durch die Hörmuschel einen Schuß und danach nur noch ein dumpfes Aufschlagen. Über diesen Fall und seine Vorgeschichte will Clara nun ihre Diplomarbeit schreiben. Max sträubt sich zunächst, doch dann wird der DAT-Recorder, auf den er für Clara seine Erinnerungen sprechen soll, zum therapeutischen Gerät.
So wird er, der schon am Ende war, noch einmal ins Leben zurückgeholt, um seine und Jessies Geschichte zu rekonstruieren. Erinnerung und Ermittlung überschneiden sich dabei. Für Max ist das ein äußerst qualvoller Prozeß. Er muß entdecken, dass Jessie und er für eine mafiose, verbrecherische Organisation gearbeitet haben.
Max hat viele Kämpfe auszufechten, nicht nur mit sich selbst. Auch mit Clara befindet er sich permanent im Clinch. Was sie mit ihm vor hat, ist ein eiskalter Handel. Sie will seine Geschichte für ihre Zwecke aus ihm herausholen. Der Gedanke ihm dadurch zu helfen, liegt ihr völlig fern. Und solche Absichten passen auch nicht in das System der Welt, in der Juli Zehs Figuren sich bewegen.
Nur eins macht mir Sorgen, verrät Clara ihrem Forschungsobjekt.
Und das wäre?
Naja, sagt sie, möglicherweise hat es einen therapeutischen Effekt auf dich, dass du meine Bänder vollquatschst, und dann wirst du normal, bevor ich fertig bin.
Ein Wettlauf gegen die Zeit, sage ich.
Im Ernst, sagt sie. Ich weiß inzwischen, wer du bist. In deiner Kanzlei haben sie mir erzählt, dass du drauf und dran warst, einer der wichtigsten internationalen Juristen in Europa zu werden. [...]
Süße, sage ich, das ist alles vorbei. Das Einzige, was passieren kann, ist, dass ich dir zwischendrin wegsterbe.
Das wäre nicht schlimm, sagt sie, darüber könnte ich schreiben. Aber glaub mir, so kommt es nicht. [...] Eher wirst du durchs Erzählen den Schuldkomplex wegen deiner toten Tussi los und dann bist du plötzlich wieder flügge."
Max rächt sich umgehend, indem er den Wagen, mit dem sie auf der Autobahn fahren, zum Schleudern bringt und Clara in Todesangst versetzt. Fast alle affektiven Äußerungen in diesem Roman haben eine ausgesprochen physische Komponente. Der Erzähltext registriert alle Arten von körperlichen Aktivitäten, Reaktionen und Symptomen mit genauester Ausführlichkeit.
Denn Max verkörpert eine subjektive Verfassung, wie sie schon häufig seit den achtziger Jahren thematisiert wurde: Er ist mehr als Körper präsent denn als Geist und Psyche. Die Geschwindigkeit und Divergenz seiner Erfahrungen haben einer kohärenten Ausbildung von Identität und Bewusstsein den Boden entzogen. Damit steht er in einer ehrwürdigen Reihe angeschlagener literarischer Helden der Moderne, die sich seit über hundert Jahren beständig verlängert. Juli Zeh hat nun die Verkörperlichung aller Persönlichkeitskrisen mit besonderer Konsequenz ausgeführt. Akribisch verfolgt sie die physiologischen Befindlichkeiten ihres Helden von allen Graden der Erschöpfung und Selbstaufgabe über zahllose Varianten von Kontrollverlust durch Übelkeit und Darmprobleme bis hin zu etlichen panischen, aggressiven oder auch regressiven Ausbrüchen. Alles ist da körperliche Qual, Unbehagen, Beklemmung. Umso erstaunlicher, mit wieviel dramaturgischem Geschick die Autorin beim Ausmalen dieser hermetischen Zustände dennoch jede Monotonie vermeidet, indem sie durch Szenenwechsel und Motivvariationen die Dynamik des Textes aufrecht erhält. Die Klage "Mir ist schlecht" [229] begegnet daher nicht nur als gelegentlicher Stoßseufzer, sondern als ein vielfach abgewandeltes Leitmotiv des ganzen Romans.
Dass Übelkeit zu den Nebenwirkungen der modernen Existenz gehören kann, ist seit Sartres "Ekel" geläufig. Trotzdem steht Maxens Lebensekel in einem anderen Kontext. Er ist empirisch erlitten und nicht philosophisch erdacht. Wie ihr Kollege Georg Klein in seinen viel bestaunten Romanen "Libidissi" und "Barbar Rosa" macht auch Juli Zeh mafiose Kriminalität und weitverzweigte Konspiration zu einem strukturellen Merkmal ihrer Erzählwelt. Womit übrigens ein Zentralmotiv postmoderner amerikanischer Romanciers wohl endgültig in Deutschland angekommen wäre. "Verschwörungstheorie" notiert Clara mit Fragezeichen in ihren Aufzeichnungen über Max.
Ganz so unerfindlich wollte Juli Zeh die Dinge aber trotzdem nicht im konspirativen Nebel belassen. Selbst juristisch ausgebildet in Internationalem Recht mit Schwerpunkt Osteuropa - genauso wie ihr Held - hat sie unter anderem bei der UNO in New York Einblicke gewonnen, die nicht geeignet sind, das Vertrauen in die gerechte Einrichtung der Welt zu fördern.
Max jedenfalls erhält ebenfalls manche Lektion, von der er sich vorher nichts hätte träumen lassen. Zum Beispiel durch Rufus, seinen ehemaligen Chef in der Kanzlei. Der klärt ihn über das Zusammenspiel von Recht und Unrecht auf und über die Rolle von Jessies Vater Herbert bei alledem.
Mäx, sagte er, Sie müssen mich richtig verstehen. Wir unterbinden hier den Dritten Weltkrieg. Sie glauben doch nicht, dass die Menschheit ohne das Völkerrecht, ohne die Vereinten Nationen, ohne Abrüstungsabkommen und Atomverträge die letzten fünfzig Jahre überlebt hätte? Diese Leistung erlaubt uns eine gewisse moralische Emanzipation. [...] Herbert ist ein moralisch autarker Mann. Er könnte seine Position auch gegen die Menschen verwenden, aber er nutzt sie für den Frieden. [...] Ich nickte. Ich wollte aufstehen, mir wurde übel...
Natürlich: Maxens Übelkeit ist auch der Preis für seine Einblicke in den bösen Gang der Dinge. Schließlich wird allmählich offenkundig, was den moralisch emanzipierten Herbert an den Schnittstellen von Politik, Völkerrecht und Verbrechen umtreibt. Er hat ein riesiges Netz für Drogen- und Waffenhandel aufgezogen, dessen Knotenpunkte mit den übelsten Akteuren der Bürgerkriege auf dem Balkan zusammenfallen. Und er hat schon - unter anderen vom ahnungslosen Max - Pläne ausarbeiten lassen, wie er die EU-Osterweiterung für seine Geschäfte nutzen kann. Das sind wahrlich abgründige Szenarien. Dergleichen erwartet man von ausgekochten Profis der Spannungsliteratur, aber nicht gerade von einer 27-jährigen Nachwuchsautorin. Doch Juli Zeh webt auch diesen Handlungsfaden mit sicherer Hand in den Roman ein. Sie wirft knappe Schlaglichter auf die Unterwelt der brutalen Profitmaximierung und läßt sogar die Schrecken des Balkankrieges in einer bedrückenden Miniatur aufblitzen. Dass solche Elemente aus anderen Genres und aus dem aktuellen Zeitgeschehen leicht wie Versatzstücke wirken könnten - auf diese Idee kommt man bei ihr gar nicht. Das wirklich große Wagnis des Romans liegt allerdings woanders. Es hängt mit der ziemlich rätselhaften Figur der Jessie zusammen. Mit der jungen Frau also, deren grausiger Tod Max völlig aus der Bahn geworfen hat. Max kennt Jessie vom Internat, wo sie mit dem Draufgänger Shershah ein verschworenes Freundestrio bildeten. Sie verloren sich aus den Augen und hingen doch alle drei an den Fäden des Ganoven Herbert: Jessie und Shershah waren an der Organisation des Drogenschmuggels beteiligt, Max saß gleichsam in der juristischen Abteilung. Als er nach zwölf Jahren Jessie wiedertrifft, erkennt er, dass seine steile Juristenkarriere ihn in ein falsches Leben geführt hat.
Jessie war winzig in meinen Armen, ich hatte seit Ewigkeiten nichts so winziges angefaßt, und plötzlich wußte ich, dass ich sie vermißt hatte, dass das ganze Gigantenleben an Rufus' Seite nicht perfekt gewesen war, weil ich etwas Kleines brauchte. Große Dinge wie Rufus oder ganze Nationen konnte man bewundern, belauschen oder bekämpfen, aber lieben konnte man sie nicht.
Das klingt ein wenig verblasen und widerspenstig-verträumt. Aber überlegt man, woran dieser Sound erinnert, dann kann man leicht auf Salingers "Fänger im Roggen" kommen. Und tatsächlich könnte auch Salinger eine Figur wie diese Jessie erfunden haben, von der es heißt:
Sie hätte zwanzig sein können, sechzehn, eigentlich sogar zwölf, sie oszillierte in verschiedenen Altersstufen, je nach Lichteinfall, vielleicht auch je nachdem, was sie gerade dachte oder sagen wollte.
Jessie ist an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenwerden stehen geblieben. Beide Sphären vermischen sich unberechenbar in ihrem Handeln. Mit dem Seitenblick auf Salinger läßt sich umso leichter erkennen, dass Juli Zehs Buch in wesentlichen Teilen ein Initiationsroman ist, nur eben ein negativer. Mehr als alles andere steht darin das Scheitern des Erwachsenwerdens im Mittelpunkt - als Scheitern an einer schlechten Welt. Mit seinem Zusammenbruch nach Jessies Tod wird das Erwachsenendasein von Max wieder abgebrochen, ja rückgängig gemacht: seine Karriere, seine Selbstvergessenheit, seine ganze Anpassungsleistung. Und auch diese Anpassung hatte eine explizit körperliche Dimension.
Große Teile des Menschen, den sie gekannt hatte, existierten faktisch gar nicht mehr, waren vor Jahren eingeschmolzen worden durch Speed, ein paar Liegestütze und Gewaltmärsche; abgetrennt mit der Friseurschere; heruntergeschält von den Medikamenten des Dermatologen...
Max hatte sich gehäutet und auch innerlich umgekrempelt, indem er seine psychischen Widerstände mit Hilfe von Kokain ausschaltete. So erreichte er die nötige Bewußtseinsverengung, die ihn zum willfährigen Instrument machte. Sein Chef lobte ihn dafür mit den Worten:
Mäx, Sie wissen doch, dass dreißig Prozent aller bewunderungswürdigen Juristen drogenabhängig sind. Und von denen arbeiten hundert Prozent bei uns wäre.
Sarkastische Töne und Bilder gehören zu den Stärken von Juli Zehs Prosa, gerade weil sie weiß, dass man damit sparsam umgehen muß, damit der Tenor nicht zur coolen, aber auch geistlosen Abgebrühtheit herunterkommt. Genauso zurückhaltend ist sie mit Pathos und Moral. Die hat sie geschickt in den Konstellationen von Handlung und Figuren verborgen. Doch wenn man sie freilegt, dann kommen eine messerscharfe Zeitkritik und eine massive Anklage zum Vorschein.
Man muss nur für einen Moment darauf verzichten, jede stumpfe Brutalität im menschlichen Umgang als zwangsläufig zeitgemäßen Code zu verklären. Dann erscheinen die Barbareien, mit denen sich die Figuren hier gegenseitig traktieren, in schönster Klarheit. Die Verwandlung von Kommunikation durch totale Mediatisierung in Nicht-Kommunikation gehört ja schon seit längerem zum Themenrepertoire der Literatur. Max liefert dafür weitere Beispiele. In seinen dramatischsten Lebensmomenten hängt er an Apparaten: Jessies Tod verfolgt er durchs Telefon; von seinem Trauma berichtet er fernmündlich im Radio; seine Erinnerungen flüstert er einem Tonband ins Mikrophon. Umgekehrt will ihn Clara praktisch nur als Info-Säule zur Erlangung von Forschungsmaterial benutzen. Beider Verhältnis beschränkt sich auf ein Tauschgeschäft, Betrug inklusive. Noch dazu ist Clara Nihilistin. Der einzige Wert, den sie anerkennt, ist Macht über andere Menschen. Die geschilderten Verhältnisse werden zwar nicht moralisierend aufs Korn genommen, aber dennoch bewertet. Dabei kann sich Juli Zeh ganz auf ihre erzählerischen Kunstmittel verlassen. Zur Charakterisierung der Misere reicht es völlig, dass sie ihren Helden in einen permanenten Krankheitszustand versetzt.
Da ist es, trotz des großen historischen Abstandes nicht weit bis zu dem Drama "Krankheit der Jugend", mit dem Ferdinand Bruckner 1929 Furore machte. Mit Ausnahme des damals noch akuten Problems der ungezähmten Erotik zeigen die Krankheitsbilder von einst und jetzt interessante Parallelen: Nihilismus, Desorientierung, Todessehnsucht, Drogen -und als vitalistischen Gegenpol: den Willen zur Macht über andere. So können sich die Krisen der Deregulierung gleichen, über Jahrzehnte und Epochen hinweg. Max, Jessie und ihr Freund Shershah sind Kinder des deregulierten Kapitalismus. Und dieser Moloch, dem Jessies Vater Herbert huldigt, behandelt nicht einmal seine eigenen Kinder gut. Entweder er kümmert sich nicht um sie oder er beutet sie für die eigenen Zwecke aus, verpaßt ihnen Leistungsdrogen, und wenn sie trotzdem nicht funktionieren, dann frißt er sie auf.
Man konnte von jungen Autoren bislang nicht allzu viele wirklich bittere Abrechnungen mit dieser schönen neuen Welt lesen. Michel Houellebecq hat da, nach Bret Easton Ellis, eine Bresche geschlagen. Juli Zeh steht ihm auf ihre Weise in nichts nach. Auch ihre kritische Emphase ist beträchtlich, und sie erweitert ihren Gesichtskreis auf schlüssige Weise vom Subjektiven auf das Allgemeine. Ihr Referenzsystem ist die Zeitdiagnose. Vielleicht lag diese große Form nicht einmal in ihrer Absicht. Auf jeden Fall aber hat sie ihren Roman mit Einfallskraft, Gegenwartsbewußtsein und großer Intelligenz auf diese Ebene hinauf geschrieben.
Mag sein, dass er deshalb mit seinen 450 Seiten ein wenig lang geraten ist. Da gibt es einige erzählerische Exkurse und Abschweifungen, die mehr einer Vorliebe für bestimmte Sujets und Nebenaspekte zu folgen scheinen als der Logik des Ganzen. Trotzdem bleibt auch dort das Tempo des stets treibenden und drängenden Stils erhalten. Juli Zeh schreibt eine der Zeitstimmung angemessene, geradezu schlagfertige Prosa. Doch vor allem hat sie mit ihrem Roman über die großen Dealer und ihre verwirrten Kinder - über die "Adler und Engel" eben - bewiesen, dass sie ein vielschichtiges an Themen und Motiven reiches Erzählwerk aufbauen kann. Das sind genügend Talente für eine schriftstellerische Zukunft, der man mit Spannung entgegen sieht.