"Der weiße Freitag" – so bezeichnete Johann Wolfgang von Goethe den Tag, an dem er und sein Dienstherr, Herzog Carl August, auf dem Gotthard auf über 2200 Metern Höhe den Furka-Pass überschritten. Goethe war damals 30 Jahre alt, frischgebackener Geheimrat und seit vier Jahren im Dienste des Herzogs. Und Carl August war gerade mal 22 und erwartete als begeisterter Militarist von der Unternehmung wohl vor allem eine sportliche Herausforderung. Tatsächlich aber wurde es für die Beteiligten, zumal im Winter, "eine Sache auf Leben und Tod", wie Adolf Muschg erinnert. Der Schweizer Schriftsteller und Germanist deutet den 12. November 1779, Goethes "Weißen Freitag", als eine vom Dichter bewusst geplante "Prüfung des Lebens", eine – Zitat – "Probe nicht durchs Feuer, sondern im tiefen Schnee". Denn erst die hochriskante Tour mit seinem Weimarer Schutzherrn habe ihren "Männerbund" "auf Gedeih und Verderb" besiegelt, wie Muschg in seinem neuen Buch überzeugend ausführt. Für uns heutige Leser aber sei Goethes Gotthard-Expedition und sein späterer Reisebericht vor allem eines: ein zum Leben verführendes Memento mori.
"Der Ausgang dieser Reise ist aktenkundig. Aber keine papierene Gewißheit entbindet von der immer neuen Unkenntnis, mit der wir in jeden neuen Tag treten, denn jeder kann der letzte sein. Das unterscheidet das Datum, das wir gerade schreiben, nicht vom 12. November 1779, dem weißen Freitag dieser Geschichte. Er ist nicht nur gewesen. Er kommt immer wieder auf uns zu, darum sei dieser Tag, vom dem hier zu berichten ist, noch einmal der jüngste. Er kennt keine Vergangenheitsform. Die Kamera fährt noch einmal auf den Punkt zurück, wo wir auf dem Spiel stehen, jeden Augenblick."
"Der Ausgang dieser Reise ist aktenkundig. Aber keine papierene Gewißheit entbindet von der immer neuen Unkenntnis, mit der wir in jeden neuen Tag treten, denn jeder kann der letzte sein. Das unterscheidet das Datum, das wir gerade schreiben, nicht vom 12. November 1779, dem weißen Freitag dieser Geschichte. Er ist nicht nur gewesen. Er kommt immer wieder auf uns zu, darum sei dieser Tag, vom dem hier zu berichten ist, noch einmal der jüngste. Er kennt keine Vergangenheitsform. Die Kamera fährt noch einmal auf den Punkt zurück, wo wir auf dem Spiel stehen, jeden Augenblick."
Das Buch ist ein Hybrid
Eine solche Verführung durch Goethes Lebenskunst hat zunächst einmal Adolf Muschg selbst nötig: Denn vor zwei Jahren ist der damals 80-Jährige die Schlafboden-Treppe hinuntergestürzt. Der Sturz geht glimpflich aus, doch eine Operation ist fällig. Als Krankenhauslektüre wählt der Goethe-Kenner just den Reisebericht des Weimarers, in einer von den Ärzten bestaunten seltenen Ausgabe von 1808, wie Muschg in "Der weiße Freitag" berichtet. Denn sein neues Buch ist ein Hybrid: zum einen ein aufregender Forschungsbeitrag, in dem der Germanist mit großer Empathie und den Mitteln des Romans Goethes Schweizer Reise rekonstruiert. Zum anderen aber ein sehr persönlicher Lebensrückblick des Autors, der – kaum vom Sturz genesen – mit der Rückkehr seiner Krebserkrankung konfrontiert wird und damit mit der Endlichkeit des Lebens.
"Mit dem Sterben beginnt ein unbekanntes. Warum darf es kein Abenteuer sein? Es gehört zu den wenigen, für die man alt sein darf, und dankbar, daß man es werden durfte. Den Weg, den du jetzt gehst, gehen alle, aber du zum ersten Mal."
"Mit dem Sterben beginnt ein unbekanntes. Warum darf es kein Abenteuer sein? Es gehört zu den wenigen, für die man alt sein darf, und dankbar, daß man es werden durfte. Den Weg, den du jetzt gehst, gehen alle, aber du zum ersten Mal."
Während Muschg gegen die Krankheit kämpft, taucht er immer tiefer ein in die komplexe Beziehung zwischen dem bürgerlichen, kosmopolitisch gesinnten Dichter und dem preußenverehrenden jungen Herzog. Und erlebt parallel dazu eine für den Leser bedrückende Verengung seiner Lebensumstände. Erst muss ein Teil des Hauses in seinem Wohnort Männedorf bei Zürich verkauft werden. Dann werden Möbel und Bücher entsorgt. Zuletzt wird aus dem bisherigen Arbeitszimmer die neue Küche; zum Glück findet sich im Keller noch eine Ecke zum Schreiben. Dass der Autor auch dort den Himmel sehen kann, verdankt er nur einem Spiegel, der die "Oberwelt" nach unten befördert.
"Jetzt sehe ich im Spiegel […] nicht nur das Licht verdoppelt, sondern auch ein dreieckiges Stück des nie ganz dunklen Nachthimmels, der mir sonst verborgen wäre, und an einem frühen Februarmorgen landeten einzelne Schneeflocken auf dem Spiegel und tanzten gleichzeitig in eine grundlose Tiefe zurück."
"Jetzt sehe ich im Spiegel […] nicht nur das Licht verdoppelt, sondern auch ein dreieckiges Stück des nie ganz dunklen Nachthimmels, der mir sonst verborgen wäre, und an einem frühen Februarmorgen landeten einzelne Schneeflocken auf dem Spiegel und tanzten gleichzeitig in eine grundlose Tiefe zurück."
Der Spiegel - ein Versuch, die Jahrhunderte zu durchschreiten
Der Spiegel steht nicht nur für das Andere des Lebens; er symbolisiert auch den Versuch, Goethe auf dem Gotthard über die Jahrhunderte hinweg "entgegenzukommen" – qua erzählerischer Rekonstruktion, aber auch leibhaftig. Denn gegen Ende des Buches überschreiten nicht nur Goethe und seine Begleiter den Furka-Pass, sondern auch der wiedergenesene Autor mit seiner Frau, dank der heutigen touristischen Erschließung des Berges, versteht sich.
Und so wie der damals 30-jährige Goethe auf seiner Reise in die Schweiz sein Leben rekapituliert – mit einem Zwischenstopp bei seinen Eltern in Frankfurt oder dem Wiedersehen von Ex-Freundinnen –, schaut auch der heute 82-jährige Adolf Muschg zurück: auf Kindheit, Konflikte mit Angehörigen, seinen Weg in die Literatur. Das alles in einer eleganten, zur aphoristischen Verdichtung neigenden Prosa, die in Sachen Goethe keine Gelegenheit zum Exkurs auslässt, gerade in Sachen Erotik.
Leider, muss man hier hinzufügen. Denn so erfährt der Leser nicht nur, wie heilsam die Werke des Weimarer Klassikers gerade in Zeiten grassierender Fremdenfeindlichkeit sind. Sondern auch, dank Muschgs spekulativer Männerfantasie, was der Dichterfürst und die berühmte Frau von Stein wirklich miteinander getrieben haben sollen. Oder sogar, warum Goethe so gern mit Kindern spielte. Was schon deshalb überrascht, weil sich der Autor selbst über die – Zitat - "nach fremden Betten schnuppernde Unsittenpolizei mancher Goethe-Biographen" lustig macht. Sein ansonsten eindrucksvolles Alterswerk wäre ohne diese Schnüffeleien noch besser ausgefallen.
Adolf Muschg: Der weiße Freitag. Erzählung vom Entgegenkommen
München, C.H. Beck Verlag, 2017. 251 S., 22,95 Euro.
München, C.H. Beck Verlag, 2017. 251 S., 22,95 Euro.