Fukushima, das ist der Name einer Stadt, der sich seit der Nuklearkatastrophe vom März 2011 unwiederbringlich mit dem Gedanken an den Tod verbunden hat. Ursprünglich bedeutet der "Fukushima" aber "Glücksinsel." Das Glück, oder genauer: Die Suche nach dem Glück, ist das eigentliche Thema dieses Romans. In einer Art forensischer Gedächtnisleistung blättert Adolf Muschg die Seiten jüngster Geschichtsschreibung um. Muschg gräbt in der kontaminierten Erde eines von Menschen verlassenen Ortes, bis er ältere literarische Sedimente findet - und auch Keimzellen für ein neues Leben.
Doch der Reihe nach. Es beginnt ganz einfach als Roman einer Reise. Aus einem beschaulichen Ort im deutschen Schwarzwald hat sich der Architekt und Schriftsteller Paul Neuhaus auf den Weg nach Japan gemacht. Der Ruf ereilt ihn in Form eines Briefes: Ein befreundetes Ehepaar, sie heißen Ken und Mitsuko und leben in Tokyo, lädt ihn ein. Es gelte, schreiben sie, ein bestimmtes Dorf im Großraum Fukushima wieder zu besiedeln, und dieses Projekt brauche ihn, Paul Neuhaus als prominenten Künstler und Fürsprecher. Ein weiterer Name taucht in ihrem Schreiben auf. Es ist der Bürgermeister Seizō Irie, er ist Mitsukos Vormund und zieht im Hintergrund die Fäden:
"Onkel Seizo Irie hat sich kundig gemacht, wie andere betroffene Bevölkerungen mit der Strahlung umgehen. Jetzt schwebt ihm die Ansiedlung einer internationalen Künstler-Kolonie in Yoneuchi vor, nach dem Vorbild Worpswedes oder des Monte Verità, und er hofft, sie mithilfe einer Stiftung zu realisieren. Die Einheimischen sollen erleben, daß interessante Ausländer sein Land nicht fürchten."
Doch der Reihe nach. Es beginnt ganz einfach als Roman einer Reise. Aus einem beschaulichen Ort im deutschen Schwarzwald hat sich der Architekt und Schriftsteller Paul Neuhaus auf den Weg nach Japan gemacht. Der Ruf ereilt ihn in Form eines Briefes: Ein befreundetes Ehepaar, sie heißen Ken und Mitsuko und leben in Tokyo, lädt ihn ein. Es gelte, schreiben sie, ein bestimmtes Dorf im Großraum Fukushima wieder zu besiedeln, und dieses Projekt brauche ihn, Paul Neuhaus als prominenten Künstler und Fürsprecher. Ein weiterer Name taucht in ihrem Schreiben auf. Es ist der Bürgermeister Seizō Irie, er ist Mitsukos Vormund und zieht im Hintergrund die Fäden:
"Onkel Seizo Irie hat sich kundig gemacht, wie andere betroffene Bevölkerungen mit der Strahlung umgehen. Jetzt schwebt ihm die Ansiedlung einer internationalen Künstler-Kolonie in Yoneuchi vor, nach dem Vorbild Worpswedes oder des Monte Verità, und er hofft, sie mithilfe einer Stiftung zu realisieren. Die Einheimischen sollen erleben, daß interessante Ausländer sein Land nicht fürchten."
Eine Einladung ins radioaktiv verstrahlte Gelände
Ken und Mitsuko heißt das Künstlerpaar, das diesen Brief geschickt hat, doch kaum ist Paul Neuhaus vor Ort in Japan, verabschiedet sich der Ehemann Ken aus dem Vorhaben, nach Fukushima zu fahren. Mitsuko, die ein gutes Vierteljahrhundert jünger ist als Paul Neuhaus und als außerordentlich attraktiv geschildert wird, ist nun seine Reiseleiterin. Und so kommt es, wie es kommen muss: Auch Muschgs Held Paul Neuhaus kann sich der Reize der hübschen Japanerin nicht erwehren.
In den betreffenden Romanpassagen spielt Adolf Muschg mit den Biografien der beiden Liebenden und mit literarischen Versatzstücken aus dem 19. Jahrhundert. Mitsuko und Paul sind beide Halbwaisen, und der ganze Hallraum dieses Wortes, man denke an Begriffe wie "Mündel", "Erbe", "Herkunft" und "Familie" schwingt hier mit. Wörtlich zitiert Adolf Muschg einen Gewährsmann biedermeierlicher Erzählkunst, der sich mit diesem Themenfeld gebührend beschäftigt hat: Nämlich Adalbert Stifter, dessen Erzählung "Nachkommenschaften" sich nicht zufällig in Pauls Reisegepäck befindet. Mitsuko, seine junge Begleiterin, liest geflissentlich mit.
In den betreffenden Romanpassagen spielt Adolf Muschg mit den Biografien der beiden Liebenden und mit literarischen Versatzstücken aus dem 19. Jahrhundert. Mitsuko und Paul sind beide Halbwaisen, und der ganze Hallraum dieses Wortes, man denke an Begriffe wie "Mündel", "Erbe", "Herkunft" und "Familie" schwingt hier mit. Wörtlich zitiert Adolf Muschg einen Gewährsmann biedermeierlicher Erzählkunst, der sich mit diesem Themenfeld gebührend beschäftigt hat: Nämlich Adalbert Stifter, dessen Erzählung "Nachkommenschaften" sich nicht zufällig in Pauls Reisegepäck befindet. Mitsuko, seine junge Begleiterin, liest geflissentlich mit.
"Die Nachkommenschaften waren eine Studie über einen Maler und das Bildermachen. Das war der rote Faden, den Paul nach Japan mitnahm, weil er ihn besser zu führen versprach als rote Linien. Aus diesem Faden konnte vielleicht ein Text werden, ‚Körper und Sprache’. Stifters Sprache war sein Talisman für Fukushima."
Auf Stifters Spuren in Fukushima
Stifters Sprache ist aber nicht nur ein so genannter Talisman für Paul Neuhaus’ persönliche Reise (wobei sich die Frage stellen ließe, ob Sprache überhaupt ein "Talisman" sein kann.) Wie auch immer: Muschgs Erzähler sieht sich offenbar in Stifters Nachfolge, jedenfalls formuliert er ähnlich windungsreich und detailverliebt wie der österreichische Schriftsteller des Biedermeier.
Entsprechend wird jeder Schritt, den Paul Neuhaus auf seiner Reise tut, mit einer Akkuratesse geschildert, die Adalbert Stifter geschuldet scheint. Kaum eine Mahlzeit, keine Nachtruhe, kein Gedanke des Protagonisten wird übersprungen, ja sogar der Gang zur Toilette ist wichtig. Dies führt zu einer erzählerischen Beflissenheit, der man besser nicht überdrüssig wird, wenn man diesen Roman zu Ende lesen will. Und: Im Gegensatz zu der zitierten Stifter-Erzählung ist dieser Roman von Adolf Muschg vollkommen Ironie-frei. Nachzulesen hier, in der zweiten Begegnung von Mitsuko und Paul Neuhaus:
Entsprechend wird jeder Schritt, den Paul Neuhaus auf seiner Reise tut, mit einer Akkuratesse geschildert, die Adalbert Stifter geschuldet scheint. Kaum eine Mahlzeit, keine Nachtruhe, kein Gedanke des Protagonisten wird übersprungen, ja sogar der Gang zur Toilette ist wichtig. Dies führt zu einer erzählerischen Beflissenheit, der man besser nicht überdrüssig wird, wenn man diesen Roman zu Ende lesen will. Und: Im Gegensatz zu der zitierten Stifter-Erzählung ist dieser Roman von Adolf Muschg vollkommen Ironie-frei. Nachzulesen hier, in der zweiten Begegnung von Mitsuko und Paul Neuhaus:
"Tatsächlich hatte ihm das Herz gestockt, als er Mitsuko allein durch die Drehtür des "Imperial" kommen sah. Auch sie hatte ihn sofort ausgemacht, blickte sich aber um, als suche sie ihn noch. Diesmal blieb es bei einer kleinen Verbeugung ohne Handschlag. Sie wirkte zart in ihrem kobaltblauen Plisseekleid. Sie bat ihn kurz zu warten und hinterließ ihm ihren Koffer und eine Spur Wärme am Bügelgriff, den er festhielt wie ein Pfand."
Die sprachlichen und gedanklichen Anklänge an Adalbert Stifter – sein Roman "Nachkommenschaften" ist ein Künstlerroman, ein Roman, in dem es um Herkunft geht, und er erzählt die Geschichte einer Brautwerbung – kommen also mit übergroßer Deutlichkeit daher.
Begegnung von Leben und Tod
Doch damit ist nicht alles gesagt. Denn da, wo Muschg sich von Adalbert Stifter lossagt, entwickelt der Roman "Heimkehr nach Fukushima" eigene Qualitäten. Denn im Windschatten des Stifter’schen Bilderbogens schreibt Muschg eine weitere Geschichte. Es ist eine noch ältere Geschichte, nämlich die der Begegnung von Leben und Tod. Hier arbeitet Muschg im Rückgriff auf kollektiv-archaische Bilder, die seine Leser schnell verstehen werden, und die zu einer großen visuellen Qualität seines Romans beitragen, was sich auch als Verbeugung vor der fernöstlichen Kultur interpretieren lässt. Namentlich der "Gevatter Tod" taucht in diversen Maskierungen auf, einmal im fahlen Gesicht eines Chauffeurs, dann in den mumifizierenden Anzügen, die jeder Besucher von Fukushima tragen muss; dann in einem Manga, das Ken gemalt hat - und schließlich in der Figur eines Spielmanns, der Paul Neuhaus am Ende seiner Reise erscheint.
"Das Gesicht des Mannes schimmerte wie faules Holz, aber es ging kein eigenes Licht davon aus, und auch vom Himmel fiel es nicht. Es rührte von einem einzigen Punkt her, wo, in großer Höhe, der Horizont aufgebrochen war, um eine Kraft von zündender Finsternis austreten zu lassen."
Der Tod ist allgegenwärtig in diesem Roman, aber er hat nicht das letzte Wort. Auf der verkarsteten Erde von Fukushima zeugen Paul Neuhaus und Mitsuko ein Kind. Das ist also ein sehr lebensbejahendes Ende für einen ambitionierten Roman. Archaische Vergangenheit und postindustrielle Gegenwart, der Westen und der Osten, Wortkunst und Bildkunst, Gevatter Tod und Adalbert Stifter, all diese Themen, Gedanken und Motive sollen sich hier zu einem großen Ganzen verbinden. Auch wenn das nicht so bruchlos gelingt, wie man es sich gewünscht hätte: Heimkehr nach Fukushima ist ein Roman, der viel wagt und trotz allem die Lektüre lohnt.
"Das Gesicht des Mannes schimmerte wie faules Holz, aber es ging kein eigenes Licht davon aus, und auch vom Himmel fiel es nicht. Es rührte von einem einzigen Punkt her, wo, in großer Höhe, der Horizont aufgebrochen war, um eine Kraft von zündender Finsternis austreten zu lassen."
Der Tod ist allgegenwärtig in diesem Roman, aber er hat nicht das letzte Wort. Auf der verkarsteten Erde von Fukushima zeugen Paul Neuhaus und Mitsuko ein Kind. Das ist also ein sehr lebensbejahendes Ende für einen ambitionierten Roman. Archaische Vergangenheit und postindustrielle Gegenwart, der Westen und der Osten, Wortkunst und Bildkunst, Gevatter Tod und Adalbert Stifter, all diese Themen, Gedanken und Motive sollen sich hier zu einem großen Ganzen verbinden. Auch wenn das nicht so bruchlos gelingt, wie man es sich gewünscht hätte: Heimkehr nach Fukushima ist ein Roman, der viel wagt und trotz allem die Lektüre lohnt.
Adolf Muschg: "Heimweh nach Fukushima"
C.H. Beck Verlag , München. 244 Seiten, 22 Euro.
C.H. Beck Verlag , München. 244 Seiten, 22 Euro.