Archiv


Adressat unbekannt

"Mein zweiter Brief (...) wurde mir ungeöffnet, mit einem Stempel Adressat unbekannt zurückgesandt. Welche Dunkelheit diese Worte bergen!"

Eva Gritzmann |
    Verzweifelt schreibt Max Eisenstein, ein amerikanischer Jude, im November 1933 an seinen Geschäftspartner und Freund Martin Schulse in Deutschland. Den letzten Brief Eisensteins an seine in Berlin lebende Schwester erhielt er ungeöffnet zurück:

    Wie kann sie unbekannt sein? Martin ..., ich weiß, ich brauche Dich um Deine Hilfe noch nicht einmal zu bitten. Es genügt, Dir zu sagen, dass etwas Schlimmes passiert ist, dass sie in Gefahr schwebt... sie wissen, was mit ihr geschehen ist, ... das sagen sie mir mit zwei Worten: Adressat unbekannt.

    Adressat unbekannt, ein amtlich-nüchterner Stempel vermerkt das gewaltsame Verschwinden eines Menschen. Adressat unbekannt, so lautet auch der Titel dieses aus einer Sammlung von Briefen bestehenden Buches, das sich nicht nur seines schmalen Umfangs wegen wie ein verquerer Findling in der zeitgenössischen Literatur ausnimmt. Basierend auf einigen authentischen Briefen, verfasste Kressmann Taylor, eine ehemalige Werbetexterin, Ende der 30er Jahre einen fiktiven Briefwechsel, den sich zwei Freunde in den Monaten um die Machtergreifung Hitlers schreiben. Die Briefe erzählen von ihrer Freundschaft, deren allmähliche Zerrüttung durch den Geist des Nationalsozialismus und von den politischen Ereignissen dieser Zeit.

    Adressat unbekannt , erstmals im Oktober 1938 in der New Yorker Zeitschrift Story erschienen, erregte ungewöhnlich großes Aufsehen. Leser reichten die Geschichte in Abschriften weiter, da die gesamte Auflage der Zeitschrift schon nach wenigen Tagen nicht mehr zu haben war. Bereits ein Jahr später erschien Adressat unbekannt in Buchform und wurde in hoher Auflage verkauft. Mit ungeheurer Hellsicht erzählte Kressmann Taylor eine Geschichte, auf der die Schatten des drohenden Holocausts lagen. Dass sie dies in der Form der sich gerade amerikanischen Lesern voraussetzungslos erschließenden Unterhaltungsliteratur tat und die Nachrichten vom alltäglichen Naziterror am Beispiel eines Einzelschicksals illustrierte, gerade dies macht den Rang von Adressat unbekannt aus.

    Präzise extrapolierte Kressmann Taylor ihr Thema, eine Ahnung, die so unglaublich war und in ihrer Geschichte doch so glaubhaft schien, dass Adressat unbekannt ihre Adressaten erreichte. Erst als die Fiktion von der Realität eingeholt, von den Lebensgeschichten der Zeit und der politischen Aufarbeitung in den Hintergrund gedrängt wurde, geriet das Buch in Vergessenheit. Anfang der neunziger Jahre druckte die Zeitschrift "Story" die Geschichte noch einmal. Und erst jetzt, nach mehr als sechzig Jahren, ist das knapp siebzig Seiten umfassende Buch auf Deutsch erschienen.

    Der schmale Band besteht aus gerade einmal achtzehn Briefen und einem Telegramm, datiert zwischen November 1932 und März 1934. Max Eisenstein und Martin Schulse sind langjährige Freunde und gemeinsame Besitzer einer Kunstgalerie in San Francisco, der Briefwechsel setzt nach Schulses Rückkehr nach Deutschland ein:

    "Was wir jedoch niemals aufgeben, das ist die Wahrhaftigkeit der Freundschaft, von der Du so bewegend sprichst. Unsere Herzen reisen über den Ozean zu Dir (...) Max."

    Der Ton der Briefe ändert sich jedoch rasch. Schulse betrachtet die politischen Entwicklungen anfangs mit Misstrauen. Doch in Amerika zu Wohlstand gelangt, sucht er nun den gesellschaftlichen Aufstieg - und der führt zwangsläufig über die NSDAP. Zunächst aus schierem Opportunismus, dann aber mit leidenschaftlicher Begeisterung macht Schulse eine Nazi-Karriere und verbittet sich jede weitere Korrespondenz mit Eisenstein:

    "Du hast nie einen Hitler kennengelernt. Er ist ein weißes Licht, aber so glühend heiß wie die Sonne eines neuen Tages. Ich muss darauf bestehen, dass Du mir nicht mehr schreibst. Wir sind keine Freunde mehr, das müssen wir beide anerkennen."

    Dennoch hofft Eisenstein auf die alte Freundschaft, als er um Hilfe für seine Schwester Griselle bittet, mit der Schulse ehemals eine intensive Liebesbeziehung verband. Griselle, eine Schauspielerin, muß als Jüdin aus Berlin fliehen und versucht Unterschlupf in München bei Schulse zu finden. Verfolgt von der SA, gelangt sie bis zu seiner Haustür. Als Eisenstein sich nach ihrem Verbleib erkundigt, erhält er eine kalte Antwort:

    "Heil Hitler! ... Kann ich es wirklich riskieren, festgenommen zu werden und alles zu verlieren, was ich hier aufgebaut habe, weil ich einer Jüdin Unterschlupf gewähre? Natürlich habe ich als Deutscher eine unmissverständliche Pflicht. ... Ich gehe ins Haus, und nach wenigen Minuten hört sie auf zu schreien."

    Kressmann Taylor hätte es sich zu einfach gemacht, zu sehr auf die Konventionen der damaligen Unterhaltungsliteratur vertraut und wäre damit heute zu Recht vergessen, wenn sie ihre Geschichte an dieser Stelle mit dem Bruch der Freundschaft enden lassen hätte. Nahezu jedes Klischee scheint erfüllt, doch durch eine Übersteigerung der Figur Eisensteins gewinnen die Charaktere Profil und die bislang allzu vordergründige Geschichte einen doppelten Boden.

    Nach der Todesnachricht seiner Schwester schlüpft Eisenstein in die ihm vom Antisemitismus zugedachte Rolle und beschließt mit einem ebenso eleganten wie perfiden Schachzug, Schulse weiterhin Briefe zu schreiben. Ihr Ton ist nun der eines jovialen Geschäftspartners, ihr Inhalt läßt jedoch verschlüsselte Nachrichten vermuten. Subtil deuten sie auf politische Verschwörung, Verrat und mysteriöse Geldgeschäfte:

    "Vor fünf Tagen hat unser Depot 116 erreicht.... Die Schweizer Miniaturen sind sehr gefragt. ...Bereite vor: Picasso, 17 auf 81, rot; van Gogh, 5 auf 42, weiß; Rubens, 15 auf 204, blau und gelb."

    In seinem letzten Brief fleht Schulse, der vermeintlich konspirativen Briefe wegen zur Rechenschaft gezogen, Eisenstein um Mitleid an. Kurze Zeit später geht ein weiterer Brief Eisensteins mit dem Stempel "Adressat unbekannt" zurück an den Absender.

    Letztlich ist es eine kuriose Flaschenpost der Literatur, die heutige Leser mit Kressmann Taylors Adressat unbekannt erreicht. Sie hat dasselbe Patina wie Sebastian Haffners Erinnerungen eines Deutschen. Doch in ihrem seltsamen Flirren zwischen Fiktion und Authentischem mag dieser "well-made story" doch mehr beschieden sein als eine bloße Fußnote in der Geschichte der Anti-Nazi-Literatur zu werden: nämlich zu zeigen, was gut gemachte Unterhaltungsliteratur zu leisten vermag - oder jedenfalls zu leisten vermochte.