Erst ist es nur ein Sprengsatz, dann explodieren ein zweiter und noch ein dritter. Vor der Universität von Kairo. Am helllichten Tag.
Ein Mann in Uniform liegt auf dem Boden. Bewegungslos. Unter seinem Kopf bildet sich eine Blutlache. Umstehende sind herbeigeeilt, beugen sich über ihn. "Ein Krankenwagen, schnell, einen Krankenwagen!" – rufen sie hektisch. Als keine Hilfe kommt, heben sie den Verletzten auf, um ihn selbst in ein Krankenhaus zu bringen.
Wenig später entlädt sich die Anspannung. Die Menschen sind aufgebracht und zornig. Wie auch dieser Passant:
"Muslimbrüder, ihr seid Abschaum! Von welchem Koran, von welcher Religion redet ihr?"
Auch eine Passantin in traditioneller schwarzer Kleidung ist erregt. Umstehende reden ihr gut zu, reichen ihr Wasser. Doch die Frau kann sich nicht beruhigen:
"Ich bin gegen diesen Terror. Ja! Gebt uns Waffen, zeigt uns, wie wir sie benutzen! Damit wir diese Hunde jagen und töten können, in ihren Höhlen und Häusern – so, wie sie es mit anderen tun. Ein Mann, der seinen Job macht, ein Student, der nur lernen will - was haben sie getan, um das zu verdienen? Diese Verbrecher sind doch nicht von hier, das sind keine Ägypter und auch keine Muslime!"
Szenen vor wenigen Tagen im modernen und belebten Stadtteil Dokki mitten in Kairo. Dort, wo seit Monaten islamistische Studenten immer wieder vor der Universität demonstrieren und sich Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften liefern. Die Studenten fordern die Rückkehr von Mohammed Mursi, der als erster ägyptischer Präsident demokratisch gewählt worden war. Doch das Militär hatte ihn Mitte letzten Jahres abgesetzt – nachdem Millionen und Abermillionen im ganzen Land gegen ihn und die Muslimbrüder, die islamistische Organisation, aus deren Reihen er stammt, auf die Straßen gegangen waren. Da das Parlament aufgelöst worden war, hatten die Menschen nur einen Ausweg aus der politischen Sackgasse gesehen: Landesweit protestierten Millionen.
Führer der Muslimbrüder melden sich nach den Explosionen vor der Universität von Kairo zu Wort. Wie bei ähnlichen Bluttaten zuvor sprechen sie sich frei von jeglicher Verantwortung und beteuern, immer nur friedlich für ihre Ziele gestritten zu haben. Doch kaum einer glaubt ihnen noch. Denn die Terrorakte, die sich bislang vor allem gegen staatliche Sicherheitskräfte richten, haben nach dem Sturz Mursis massiv zugenommen. Und es gibt, wie auch jetzt wieder, im Internet Stellungnahmen von Aktivisten der Bruderschaft, die die Attentate als "Vergeltungsaktionen" bezeichnen - Vergeltung für die Opfer, die die eigene Seite zu beklagen habe. Hunderte Muslimbrüder und -schwestern sollen bei der Räumung von Protest-Camps im vergangenen Sommer von Sicherheitskräften getötet worden sein.
Kritik gegen die Führung der islamistischen Organisation
Kamal El Helbawy, einst Mitglied der Führungsriege, zählt heute zu ihren schärfsten Kritikern. Nach dem Rücktritt von Ex-Präsident Mubarak war er aus dem Exil zurückgekehrt, um das "islamische Projekt" voranzutreiben, doch nur ein Jahr später trat er aus, enttäuscht und entsetzt über die Regentschaft Mursis und das Agieren der ehemaligen Brüder. Seine Kritik richtet sich gegen die Führung der islamistischen Organisation, nicht gegen einzelne Mitglieder. Sie will er nicht pauschal verurteilen.
Die Führung habe fatale Fehler gemacht, sagt er. Nur, um an der Macht zu bleiben, habe sie sich auf verbotene Koalitionen eingelassen, auf militante, terroristische Kräfte.
"Die Führung hat sich mit Leuten vom Dschihad und der Jama'at al Islamiyya zusammengetan. Erstmals wehten bei ihren Demonstrationen auch die Fahnen von Al Kaida. Ja, in Kairo, ich habe sie selbst gesehen."
Für Helbawy steht fest: Die Männer im Führungskader sind vom "rechten" Weg abgekommen, vom friedfertigen Weg des Hassan Al-Banna.
Hassan Al-Banna und die Muslimbruderschaft
Hassan Al-Banna, Grundschullehrer und Imam, predigte einen streng orthodoxen, sunnitischen Islam. 1928 gründete er die Muslimbruderschaft - als an der Spitze Ägyptens zwar ein König stand, aber die Briten das Sagen hatten. Banna erkannte, wie schwach und rückständig seine Gesellschaft war. Die Defizite führte er auf den Einfluss des Westens zurück. Um der von ihm konstatierten Dekadenz zu entfliehen, sah er für Ägypten nur einen Ausweg: die Rückkehr zum "wahren" Islam. Für ihn hieß das an erster Stelle: die genaue Einhaltung der Vorschriften des Koran.
Banna betrieb "dawa", Mission - mit deren Hilfe er die Gesellschaft von innen heraus erneuern wollte. Mit der Mission gingen umfangreiche soziale Dienste einher, die vor allem den Armen zugutekamen. Doch mit Erstarken des Säkularismus im Land und mit Zunahme repressiver Maßnahmen durch die Briten wurde sein Engagement auch politisch: zutiefst anti-säkular und anti-kolonialistisch. So forderte er mehr und mehr die strikte Anwendung der Sharia, der sich auch der Herrscher zu unterwerfen habe, er forderte eine islamische Staatsordnung, und er rief zum Kampf gegen die Besatzer auf.
Kamal El Helbawy will den Gründervater der Muslimbrüder nicht auf einen Sockel stellen, seine Bedeutung aber auch nicht reduzieren. Banna sei ein wichtiger Wegbereiter gewesen, meint er, trotz der heftigen Kritik, die heute an ihm geübt werde. Vieles, was der Gründervater einst propagierte, müsse im Kontext seiner Zeit – eben den 1930er- und - 40er-Jahren - gesehen werden, wie etwa die Geschlechtertrennung, die Zensur des Kulturbetriebs, die drakonischen Strafen für Unzucht und Ehebruch. All das müsse heute überdacht werden. Unumstößlich aber sei, so Helbawy, was Banna stets hochgehalten habe: das Prinzip der Friedfertigkeit.
"Er hegte keinen Hass. Gegen niemanden. Das ist sehr wichtig. Er war ein guter Mensch. Er war angesehen, er leistete gute Arbeit, deswegen liebten ihn die Menschen. Ja, Hassan Al-Banna war diese Art Mann."
Die Bruderschaft war von Anfang an streng hierarchisch strukturiert. Mitglieder mussten einen Eid ablegen, der ihnen unbedingten Gehorsam gegenüber der Führung auferlegte. Dennoch gewann die islamistische Organisation viele Anhänger. Zwei Jahrzehnte nach ihrer Gründung betrug die Zahl ihrer Mitglieder bereits eine halbe Million. Mehr und mehr forderte die Bruderschaft auch den ägyptischen Staat heraus. Die Ermordung Bannas 1949 verpasste dem Machtstreben jedoch vorerst einen Dämpfer. Das Attentat, so Helbawy, sei wahrscheinlich eine Vergeltungstat für die Ermordung des königstreuen Premierministers gewesen - obwohl sich Banna bis zuletzt für eine friedliche Beilegung des Konflikts eingesetzt habe.
Rivalität zwischen Königshaus und Muslimbruderschaft
Die Rivalität, die bereits in den Anfängen zwischen Königshaus und Muslimbruderschaft zutage trat, prägt auch die nachfolgenden Jahrzehnte unter den Präsidenten Nasser, Sadat und Mubarak. Dabei zeichnet sich immer wieder dasselbe Muster ab: Die Anhänger zweier Gesellschaftskonzepte stehen einander in ihrem Kampf um die Macht gegenüber. Während die einen vorgeben, nur Gott anzuerkennen, wollen die anderen einen säkularen Staat, in dem die Rolle der Religion begrenzt bleibt. Ein Machtkampf aber verläuft selten friedlich. In Ägypten äußert er sich entweder in dem Versuch, die andere Seite auszulöschen oder mit ihr eine mehr oder weniger funktionierende Allianz einzugehen.
Als Ägyptens "Freie Offiziere" unter der Führung Gamal Abd El Nassers 1952 einen Staatsstreich vollzogen, wussten sie die Muslimbrüder zu diesem Zeitpunkt an ihrer Seite. Militärs wie Islamisten kämpften gegen das Königshaus und gegen die Briten. Doch bald schon standen die einstigen Mitstreiter einander feindlich gegenüber. Als die Bruderschaft ein Attentat auf Nasser verübte, schlug er zurück, unerbittlich und gnadenlos. In nur einer Nacht, so heißt es, brachte er 20.000 Brüder hinter Gitter.
Gamal Abd El Nasser in einer Rede, in der er die "wahren" Motive der Muslimbrüder zu entlarven versuchte - eine seltene Tonaufnahme aus jener Zeit.
"Die Muslimbrüder sagen: 'Wir lehnen die Regentschaft des Volkes ab, wir wollen Gottes Herrschaft auf Erden!' Aber wer bestimmt Gottes Herrschaft? Es ist ihr Führer, er will Gottes Stellvertreter sein - und auch noch sein Prophet. Und wir, der Rest, wir sind alle Ungläubige - nein, nicht nur wir, die ganze Welt soll es sein. Ja, so reden sie, die Brüder, keiner sei Muslim – einzig sie seien Gläubige!"
Einer der Vielen, die in den Jahren danach in den Gefängnissen landeten, war der Muslimbruder Sayyid Qutb. Den grausamen Haftbedingungen ausgesetzt, verfasste er ein Buch, in dem er eine neue, militante Ideologie entwickelte. Auch muslimische Staaten, so schrieb er, könnten sich in einem Zustand der "Ignoranz" befinden, dürften daher von Rechtgläubigen zerstört werden, um einen "Gottesstaat" zu errichten. Ähnlich wie Gründervater Banna sollte fortan auch Qutb Wegweiser sein – für all die, die den Weg der Gewalt beschritten.
Die Muslimbrüder und ihr demokratisch gewählter Präsident Mohammed Mursi
Während sich Einzelne wie auch Gruppen absonderten, verfolgte die Organisation der Muslimbrüder unter dem Präsidenten Mubarak einen zunehmend moderaten Kurs. Sie missionierte, engagierte sich im sozialen Bereich, verurteilte die Gewalt, bekannte sich offiziell mehr und mehr zu Grundsätzen von Demokratie und Pluralismus. Mit der Folge, dass ihre Anhänger als Unabhängige in die Parlamente einzogen und sich eine wachsende Akzeptanz verschaffen konnten.
Doch erst der Volksaufstand gegen Husni Mubarak im Frühling 2011 und das liberalere Klima machten möglich, wovon die Muslimbrüder immer geträumt hatten. Sie gründeten eine Partei und konnten fortan Politik machen. Der Beginn eines Siegeszugs: Er manifestierte sich erst bei den Parlamentswahlen und setzte sich dann bei den Präsidentschaftswahlen fort.
Der Erfolg der Bruderschaft überraschte nicht: Viele Wählerinnen und Wähler gingen davon aus, dass sich nur die straff organisierte Bruderschaft dem alten Machtapparat widersetzen konnte. Und die vielen Armen im Land setzten darauf, dass ihnen auch in Zukunft soziale Dienste getan würden.
Im Sommer 2012 ist die islamistische Organisation auf dem Höhepunkt ihrer Macht - gut acht Jahrzehnte nach ihrer Gründung. Ihr Kandidat Mohammed Mursi wird Präsident Ägyptens. Die Menschen auf dem Tahrir-Platz im Zentrum Kairos jubeln ihm zu: Mohammed Mursi! Der erste demokratisch gewählte, zivile Präsident des Landes! Als er sich an die Massen wendet, verspricht er allen im Land, ein guter Präsident zu sein.
Viele vertrauen ihm. Und selbst die, die eigentlich keinen Islamisten an der Spitze des Landes haben wollen, geben ihm eine Chance. Wohl auch, weil alles, was er bei Amtsantritt verkündete, die Erwartungen traf und weil der neue Präsident einen biederen und ehrlichen Eindruck machte.
"Ab heute ist Ägypten ein ziviler, nationaler und moderner Rechtsstaat. Es ist die Geburtsstunde eines starken Staates, der durch sein Volk geprägt ist, durch dessen Geschichte und Glauben. Ein Staat, der auf seinen Institutionen ruht, vor allem auf dem Verfassungsgericht."
"Ein sehr großer Teil der Bevölkerung lehnt die Muslimbrüder heute ab"
Doch Mursi löst nicht ein, was er versprochen hat. Schon bald regt sich heftiger Widerstand. Vor allem die Ausarbeitung der neuen Verfassung sorgt für Sprengstoff. Für eine Mehrheit zeichnet sich ab, dass es mittelfristig eben doch um eine andere Staatsform gehen soll, einen "islamischen" Staat, in dem freilich die Muslimbrüder mit ihrer Auslegung des Koran den Ton angeben. Als sich die säkularen Kräfte im Land offen widersetzen, forciert Mohammed Mursi die Ausarbeitung der Verfassung und erklärt das zuständige Komitee für unantastbar. Darüber hinaus verfügt er, dass er, der Präsident Ägyptens, vorerst alle Macht auf sich vereint.
Auch im Rückblick kann Kamal El Helbawy kaum fassen, was Mohammed Mursi einst in seinem Dekret verfügte - Helbawy, der die Bruderschaft kennt wie kaum ein anderer:
"Erinnern Sie sich an den 22. November 2012? An das, was Mohammed Mursi da verfügte? Das war die Offenbarung eines Mannes, der sich zum Diktator aufschwingen wollte. So wie Hitler. Auch Hitler kam über die Wahlurne an die Macht. Demokratisch! Nur um die Demokratie dann mit Füßen zu treten."
Für Helbawy haben die Muslimbrüder ihren Untergang selbst zu verantworten. Die Führung, meint er, habe einzig nach der Macht gestrebt und dabei sei ihr jedes Mittel recht gewesen, selbst Allianzen mit radikalen und gewalttätigen Gruppen. Damit aber habe sie ihr wichtigstes Gut aufs Spiel gesetzt: das Vertrauen der Menschen.
"Und das zum ersten Mal in der Geschichte. Ein sehr großer Teil der Bevölkerung lehnt die Muslimbrüder heute ab, die Menschen haben gegen sie revoltiert, sie hassen sie. Das hat es vorher noch nie gegeben."
Und dann lässt Helbawy die Monate des tiefen Falls noch einmal Revue passieren: Der wachsende Widerstand, der sich am Ende landesweit und in allen Bereichen der Gesellschaft zeigte. Die Mobilisierung der anderen Seite, der Islamisten. Die anschließenden Straßenkämpfe. Der Zerfall der öffentlichen Ordnung. Angst und Schrecken, die sich breitmachten. Dann: die Absetzung Mursis durch den damaligen Militärchef Sisi im Juli 2013. Es folgte die harte und kompromisslose Niederschlagung der Bruderschaft: Protest-Camps wurden geräumt, Tausende verhaftet, Konten und Guthaben beschlagnahmt. Schließlich die vielen Todesurteile.
"Sie müssen sich beim Volk entschuldigen"
Eine Vorgehensweise, die sich an denen der Vergangenheit zu orientieren scheint. Der Todesstoß für die Bruderschaft?
Helbawy schätzt die Zahl ihrer Anhänger heute auf gut zwei Millionen - bei einem Volk von fast 90 Millionen Menschen. Die Zahl ihrer Mitglieder, meint er, dürfte bei weitem geringer sein und bei etwa 600.000 liegen. Ein Drittel der Mitglieder sei uneinsichtig und gewaltbereit, ein Drittel verhalte sich passiv, das letzte Drittel aber sei offen und aufgeschlossen. Viele würden kommen und ihn um Rat fragen - in dem Bestreben, die Organisation vor dem totalen Untergang zu bewahren. Er rate ihnen, Abbitte zu leisten.
"Sie müssen sich beim Volk entschuldigen, selbst wenn das Volk die Entschuldigung nicht annimmt. Das ist ein ganz zentraler Punkt. Sie müssen Abbitte leisten, beim Volk, bei den Revolutionären. Ich habe ihnen immer gesagt: "Die politische Freiheit, die ihr nach 2011 genießen konntet, habt ihr nicht euch selbst zu verdanken, eurer Mühe und Geduld. Nein, ihr habt sie der Revolution zu verdanken und denen, die auf den Plätzen ausgeharrt haben!" Doch das haben sie nicht gewürdigt."
Helbawys Worte dürften bei diesen Anhängern von Ex-Präsident Mursi auf taube Ohren stoßen. "Nieder mit dem Militärregime!" schallt es aus der Gruppe. Eine Frau kann kaum an sich halten: "Nieder mit dem Verräter Sisi!" schreit sie, "nieder mit dem Innenminister! Sie haben unsere Söhne auf dem Gewissen! Wir sind Muslime, wir sind Muslime!"
Und dann wieder alle: "Wir leiten ein neues Zeitalter ein, es wird die Freiheit bringen!"
Die Männer und Frauen fassen sich an den Händen, manch einer hält Passanten vier abgespreizte Finger entgegen, ein Symbol für die Opfer, die die Islamisten zu beklagen haben, ein Symbol ihres Widerstands. Doch die Passanten wollen ihnen keine Aufmerksamkeit schenken. Schließlich kommen Männer in Zivil und treiben die Demonstranten mit Stöcken auseinander.