Es ist das Viertel der Fliegen, sie sind überall. Beißender Gestank kriecht in die Nase, neben der Straße türmt sich der Müll. Karren, vollbeladen mit Plastikflaschen, gezogen von halbverhungerten Eseln. Und überall Menschen, die im Müll wühlen, ihn sortieren – Frauen, kleine Kinder. Das sind sie – die Müllstädte Kairos – Viertel mit hunderttausenden Einwohnern, die nur davon leben, den Abfall der Millionenmetropole zu verwerten. Die Menschen hier heißen Sabalin – Müllmenschen.
Traditionell sind die Sabalin in Kairo mehrheitlich koptische Christen – einst hielten die Christen Schweine und hatten damit einen Verwerter für die Bioabfälle. Heute gibt es – zumindest in diesem Müllviertel – keine Schweine mehr, der Müll ist geblieben. Ziegenherden am Straßenrand fressen jetzt die Plastiktüten, die es in Kairo an jeder Supermarktmarkkasse gibt – und am Ende hier bergeweise landen. Die aktuelle Wirtschaftskrise hat die Situation im Müllviertel noch einmal verschlechtert. Dabei werden die christlichen Müllmenschen in Kairo dringend gebraucht: Täglich fallen in der Metropole rund 8000 Tonnen Abfall an. Von der Entsorgung leben diese Familien: Sie holen den Müll aus den reicheren Stadtvierteln ab, bringen ihn zu sich nach Hause um ihn zu sortieren und die Materialen weiterzuverkaufen.
"Die Sabalin sind sehr effektiv, sie erreichen ungemeine Wiederverwertungsraten, bis zu 80, 90 Prozent", erzählt GEZ-Mitarbeiter Sebastian Ravinski. "Wir in Deutschland liegen im Weltdurchschnitt schon ziemlich weit vorne mit grüner Punkt, gelber Sack, haben Wiederverwertungsquoten von 40 Prozent. Das heißt, die Arbeit der Sabalin, das ist eine sehr schmutzige Arbeit, aber eine wichtige Arbeit für die Stadt."
"Es bricht mir das Herz"
Eine Straße weiter ist von dem Dreck nichts mehr zu sehen. Ein neues Schulgebäude, freundliche Klassenräume, lachende und tobende Schüler. Durch ein deutsches christliches Hilfsprojekt wird hier den Müllkindern und den Familien der Straße eine Chance gegeben. Es ist eine der ganz wenigen Schulen im einem Viertel mit mehr als 200.000 Einwohnern, sagt Schuldirektor Moody Fajed.
"Wir haben hier jedes Jahr 200 Bewerber, aber können nur 30 Schüler aufnehmen. Es ist immer ganz schrecklich für mich. Welchem Kind gebe ich eine Chance und welchem nicht? Es bricht mir das Herz."
Das Absurde: Die Hälfte der Klassenräume steht leer – die Schule könnte doppelt so viele Kinder aufnehmen. Aber die Behörden verhindern das: Der Pausenhof sei nicht groß genug, heißt es. Eine Verordnung legt eine bestimmte Quadratmeterzahl Pausenfläche pro Kind fest. Eine Spitzfindigkeit angesichts dessen, dass in diesem Elendsviertel tausende vor allem koptische Kinder so überhaupt keine Bildung erhalten.
Slums verdrängen Ackerland
Gerade ist große Pause. Fröhlich toben die Kinder über den Schulhof, lachen und spielen. Der Pausenhof ist ihre einzige Möglichkeit, sich im engen Viertel zu bewegen – es gibt hier keine Spielplätze oder Sporthallen. Die Straßen zwischen den Häuserschluchten sind so eng, dass oft die Sonne nur für ein paar Minuten zu sehen ist. Die meisten der riesigen Backsteinbauten haben weder richtige Fenster noch Putz, sie sind quasi immer im Rohbau, illegal errichtet, ohne Baugenehmigung und Stadtplanung.
Und das auf für Ägypten so kostbarem Agrarland. Wo sich jetzt der Müll stapelt, war vor einigen Jahren noch grünes, bewässertes Feld – eine Rarität im Wüstenland Ägypten. Doch die Mega-City Kairo frisst sich immer weiter in das Ackerland, dehnt sich unaufhaltsam aus und zerstört mit ihren Elendsvierteln aus Backsteinen und Beton die Kornkammer des eigenen Landes. Ägypten hat ein enormes Bevölkerungswachstum, ein Land mit mehr als 90 Millionen Einwohnern, jedes Jahr kommen 2 Millionen dazu. Wer irgendwie kann, zieht weg aus den Slums.
Die Schule sei für die Kinder des Viertels eine Chance, hier rauszukommen, sagen die Christen des Viertels – einige haben es geschafft, Abitur gemacht, studiert. Was dem Schuldirektor ganz wichtig ist: An der Schule lernen christliche und muslimische Kinder zusammen. Deshalb heißt die Schule auch Friedensschule.
Schuldirektor Moody Fajed: "Wir müssen den Menschen beibringen, dass sie die andere Seite akzeptieren, egal ob es Muslime sind oder Christen, oder Juden, was auch immer. Es gibt so viel Intoleranz, auch unter uns Christen. Schon die Kinder müssen lernen, den anderen zu tolerieren. Das lernen die Kinder hier an der Schule. Hier in meiner Schule finden sie nicht ein Zeichen an der Wand, dass dies eine mehrheitlich christliche Schule ist. Kein Kreuz, kein Heiligenbild, kein Schild, auf dem Jesus steht, oder auch Prophet Mohammed. Die Schule ist zur Bildung da, der Glaube gehört in die Kirche, in die Herzen, nach Hause. Das ist meine Überzeugung."
"Terroristen wählen imm die Zeit aus, wenn wir Christen uns freuen"
Die Anschläge vor gut zwei Wochen auf Kirchen in Alexandria und Tanta und der jüngste Angriff nahe des Katharinenklosters auf dem Sinai hat auch die christliche Gemeinde im Müllviertel erschüttert. Immer wieder in den vergangenen Jahren waren die Christen in Ägypten Opfer von Gewalt. Schuldirektor Moody sieht es biblisch:
"Wir Christen haben nun mal ein Kreuz zu tragen, eine Bürde, so wie Jesus das Kreuz getragen hat. Hier in Ägypten ist da unser Kreuz – die Angst vor Anschlägen. Die Terroristen können mit Waffen bekämpft werden, mit Sicherheitsmaßnahmen und einem Ausnahmezustand. Aber was wir wirklich brauchen, ist, dass ihre Gedanken bekämpft werden."
Auch auf der Straße vor der Schule sind die Übergriffe auf Christen immer noch Thema. Um Abanoub trocknet Weizen in der Sonne und verscheucht die Fliegen. Das Gesicht ihrer kleinen Tochter ist mit Fliegen übersät. Die Mitte 40-jährige ist wütend auf die Attentäter.
"Das Leben als Christ ist schwieriger geworden. Bei jedem Fest machen die Terroristen uns traurig. Sie wählen immer die Zeit aus, wenn wir Christen uns freuen, wenn wir unsere Kinder hübsch anziehen und in die Kirche gehen. Dann bringen sie uns um. Sie haben uns die Freude genommen."
Der nette muslimische Nachbar
Ihre Nachbarin Fahima wiegelt ab: Woanders, ja, woanders gebe es große Probleme zwischen Muslimen und Christen. Aber doch nicht hier, in ihrem Müllviertel.
"Mein Nachbar ist Muslim. Das ist ein guter Mann. Gestern kam ich mit einer schweren Einkaufstasche nach Hause und konnte sie nicht hochtragen. Er hat die Tasche genommen und sie mir bis zur Wohnung hochgetragen. Ich lebe hier seit mehr als 26 Jahren. Wir sind alle Geschwister, wir sind aus demselben Stoff gemacht, wir beten letztlich doch alle zu einem Gott."
Dass Papst Franziskus jetzt nach Kairo kommt, freut die Christinnen sehr. Auch wenn sie als Koptinnen nicht zu Rom gehören, fühlen sie sich doch dem Papst als wichtigem christlichem Oberhaupt verbunden.
"Ich freue mich, dass der Papst uns Ägypter persönlich besucht und unser Land damit ehrt. Ägypten hat ja in der Bibel eine große Bedeutung. Der Papst wird unserem Land seinen Segen geben."
"Wir freuen uns, dass der Papst kommt. Aber wir haben Angst um ihn! Angst vor den Terroristen, dass sie wieder Anschläge verüben. Wir sind Analphabeten – wir wissen nicht viel. Aber wir wissen, dass das Himmelreich mit uns betet."
Und so hoffen die Kopten auf den Papst, dass er Ägypten das bringt, was sich wohl die meisten Christen und auch Muslime in Ägypten besonders wünschen: Ein Zeichen des Friedens.
Wenn im Müllviertel die Kinder den Kopf in den Nacken legen, sehen sie ein überdimensioniertes Werbeplakat, das irgendein Konzern hier an einer Hauswand angebracht hat. Eine blonde Frau lächelt zu ihnen hinunter. Darüber steht in großen Lettern: Und wovon träumst du? Die Kinder des Mülls könnten diese Frage wohl leicht beantworten.