Dirk-Oliver Heckmann: Wer wird neuer Präsident Ägyptens? Eigentlich ist das gar keine Frage mehr, denn eines ist so gut wie sicher: Der Name des neuen Präsidenten ist bereits bekannt. Es wird Ex-Armeechef Abdel Fattah Al-Sisi.
Am Telefon ist jetzt Dr. Sonja Hegasy. Sie ist Vizedirektorin des Zentrums Moderner Orient in Berlin. Guten Tag!
Sonja Hegasy: Guten Tag, Herr Heckmann.
Heckmann: Frau Hegasy, ist die ägyptische Revolution spätestens mit dem heutigen Tag tot?
Hegasy: Das kann man nicht ganz genau jetzt sagen, ohne zu sehen, ob Hamdin Sabahi vielleicht doch einen gewissen Achtungserfolg einfahren wird oder nicht. Aber man muss natürlich sagen, dass die Bewegung vom Januar 2011 mundtot gemacht wurde, dass einige ihrer Initiatoren zurzeit im Gefängnis sitzen, dass andere unsägliche Gerichtsverfahren gegen sie am Laufen haben und dass man grundsätzlich schon davon sprechen kann, dass es eine Rufmordkampagne gegen diese ursprünglichen Aktivisten gibt.
Heckmann: Eine Rufmordkampagne gegen die Aktivisten auf der einen Seite. Auf der anderen Seite scheint es doch eine gewisse Begeisterung zu geben für Al-Sisi. Wen man fragt in Ägypten, alle scheinen mit Al-Sisi zu antworten, wenn man sie fragt, wen sie wählen werden. Das haben wir ja in den Korrespondentenberichten zuletzt immer wieder auch gehört und nachlesen können. Sie waren ja zuletzt in Ägypten. Wie ist diese merkwürdige Begeisterung für den ehemaligen Armeechef zu erklären?
Hegasy: Da gibt es eine Reihe von Elementen, die reinspielen. Man muss zum einen sagen, diese Begeisterung ist echt. Und ich denke, es nützt auch nichts, mit Begriffen wie "Aber das ist doch ein faschistisches Militärregime!" und "Wie können die Ägypter?" und "Wir verstehen das alles nicht!" zu arbeiten, sondern man muss sich tatsächlich überlegen, warum kann so jemand zu diesem Zeitpunkt eine solche Gefolgschaft aufbauen? Eine Rolle spielt sicherlich das Sicherheitsgefühl. Die Leute erleben jetzt eigentlich alle paar Tage eine Bombe, die vor einer Polizeistation hochgeht, oder sogenannte Drive-by-Shootings, wo Leute vom Motorrad auf Polizisten schießen, auf Sicherheitskräfte.
Polizisten, Armee, Sicherheitsleute sind ja Teil des Volks. Jeder hat einen Angehörigen, der in der Armee ist. Die Armee ist tatsächlich etwas, worauf die Ägypter sehr stolz sind. Man vergisst, glaube ich, jetzt auch, dass natürlich Mubarak und alle vor ihm auch aus der Armee kamen. Außer Mohammed Mursi hat es keinen zivilen Präsidenten gegeben. Da gibt es auch einen Stolz.
Und wenn ich ein drittes Element noch nennen darf, was mir einleuchtete in dieser Diskussion: Die Leute, sagen wir mal, die Elite, die verteidigt jetzt auch ihren Lebensstil, den sie sich in den letzten zehn Jahren vielleicht hat aufbauen können, indem sie sagt, wir wollen jetzt den starken Mann, und wir wollen jetzt einfach weitermachen und sich nicht so mit den Aktivisten vom Tahrir-Platz identifiziert.
"Es wird wohl kleinere terroristische Zellen geben"
Heckmann: Insofern stört das die meisten Ägypter gar nicht so sehr, dass die Opposition, wie Sie gerade sagten, mundtot gemacht wurde und dass die Ansätze einer Demokratisierung im Prinzip niedergetrampelt wurden?
Hegasy: Ja. Es ist tatsächlich von außen extrem schwierig, zu verstehen, warum es nicht mehr Stimmen gibt, die sich gegen diese zum Teil infamen Prozesse aussprechen, die sich gegen das Mundtotmachen auch von Journalisten – wir haben internationale Journalisten, die jetzt zurzeit im Hungerstreik in ägyptischen Gefängnissen sitzen -, warum es da nicht mehr Stimmen gibt, die sich dagegen aussprechen. Es gibt sie, aber sie sind sehr wenig.
Wenn man mit aufgeklärten Leuten spricht, die auch ein bisschen in der Welt herumgekommen sind, hört man immer wieder, dass dieses eine Jahr unter Mohammed Mursi so dramatisch war für die Leute, so eine Negativerfahrung. Auch Leute, die wirklich keine Sympathien mit Al-Sisi haben, von denen höre ich, dass die Muslimbrüder ja bis heute Mursi als legitimen Präsidenten ansehen und auch bis zu diesem Tag fordern, dass er zurückkommt in sein Amt. Und das ist so eine realitätsferne Forderung, dass die Leute, die Anhänger der Muslimbrüder auch in diesen Kampf total kompromisslos reingeschickt werden, und dass es auch unverantwortlich sei von der Führung der Muslimbrüderschaft, mit dieser Art von Forderung sich in die Straße zu stellen.
Heckmann: Und die Muslimbrüder, die haben ja auch zum Boykott der Wahlen aufgerufen. Sie werden vom Militär verfolgt, kann man ja wohl sagen. Müssen wir uns darauf einstellen, dass daraus eine neue Keimzelle des Terrorismus entsteht?
Hegasy: Ich würde das so sehen. Die Muslimbrüder werden sich spalten oder sind ja auch schon dabei. Es wird die geben, die hinter Mursi stehen, es wird wahrscheinlich kleinere terroristische Zellen geben, und das ist ja auch dann diese Art von Anschlägen auf Polizeistationen, die wir jetzt schon haben. Es wird auch moderate Stimmen geben. Natürlich wird es Leute geben, die auch genau diese Analyse machen und sagen, wir können uns jetzt nicht die nächsten zehn Jahre hinstellen und sagen, Wiedereinsetzung von Mursi bitte. Und dann wird es möglicherweise auch einen Dialog mit diesen Kräften geben.
"Die Zahlen wurden geschönt"
Heckmann: Sie haben zum Eingang des Gesprächs gesagt, es kommt auch ein bisschen darauf an, ob der Herausforderer, der ja kandidiert, Herr Sabahi, möglicherweise einen Achtungserfolg zumindest erzielen kann. Er schreibt sich ja den Kampf gegen die Armut auf seine Fahnen, ist für soziale Gerechtigkeit. Weshalb hat der Mann keine Chance?
Hegasy: Ich kann es mir eigentlich nur wiederum mit einer Wahlfälschung erklären, weil Hamdin Sabahi eigentlich auch ganz kompromisslos den Muslimbrüdern gegenüber ist. Wie Sie sagen: Er hat ein soziales Programm. Er ist überhaupt nicht jemand, der jetzt auf Zivilgesellschaft und weiche Faktoren setzt, sondern er ist auf jeden Fall jemand, der auch lange Al-Sisi unterstützt hat und so weiter. Er müsste eigentlich in der Lage sein, in dieser Situation, wo wir jetzt nur zwei Kandidaten haben, 25 oder 30 Prozent einzufahren. Aber wenn ich mir jetzt anschaue, dass schon das Ergebnis der Ägypter, die im Ausland gewählt haben, bei über 90 Prozent liegt – und dann denke ich mir, die Ägypter, die im Ausland leben, die sind nicht Einschüchterungsversuchen ausgesetzt, die haben auch schon was von der Welt mitbekommen, haben auch den Wert von Vielfalt und Pluralität und so weiter kennengelernt -, wenn da das Ergebnis auch bei über 90 Prozent liegt, dann muss ich persönlich davon ausgehen, dass da auch die Zahlen geschönt werden.
Heckmann: Über 40.000 Menschen sind aus politischen Gründen in den letzten Monaten verhaftet worden. Das jedenfalls sagen Menschenrechtsgruppen. Jetzt gehen wir mal davon aus, gemeinsam, Frau Hegasy, dass Al-Sisi neuer Präsident wird. In welche Richtung wird sich das Land entwickeln?
Hegasy: Es ist ja so, dass wir wenig wissen über sein Wahlprogramm, und deswegen muss er natürlich jetzt in den nächsten zwei, drei Monaten auf jeden Fall eine Roadmap vorlegen, wie er sich das vorstellt, die Entwicklung des Landes. Diese Entwicklung wird sicherlich an allererster Stelle auch eine Antwort auf die wirtschaftliche Frage finden müssen. Die soziale Frage stand immer am Anfang der Revolution oder Rebellion seit Januar 2011. Inzwischen hat sich diese Lage verschlechtert, deutlich verschlechtert, und deswegen kann man eigentlich nicht davon ausgehen, dass man jetzt so ein "weiter wie bisher" oder dass die Proteste aufhören werden. Er kann sich ja zwei, drei Monate sicherlich ins Amt einarbeiten, aber dann muss er bestimmte große wirtschaftliche Probleme, Subventionsabbau, Bildung, angehen.
Heckmann: Und das Thema Demokratie, darauf wird man noch lange warten müssen?
Hegasy: Mittellange.
Heckmann: Mittellange! – Wir werden sehen, wie sich das entwickelt. Ganz herzlichen Dank, Dr. Sonja Hegasy, Vizedirektorin des Zentrums Moderner Orient. In Ägypten wird ein neuer Präsident gewählt. Schönen Dank für das Gespräch und Ihre Zeit heute Mittag.
Hegasy: Sehr gerne. Auf Wiederhören.
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