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Ältester Klettersteig der Alpen
Auf dem Jubiläumssteig des Dachsteins

Im Sommer 1842 stand Friedrich Simony erstmals auf dem Hohen Dachstein. Trotz aller Freude klagte er über "ein recht abscheuliches Klettern". Er kam auf eine Idee. Ein Jahr später stieg er über den ersten Klettersteig hinauf.

Von Andreas Burman | 23.09.2018
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    Im Cabrio-Stil mit der Seilbahn zum Jubiläumsklettersteig (HERBERT RAFFALT)
    "Nach den mehrfachen Übergängen des ersten fahlen Zwielichts ins sanfte Morgenrot und aus diesem ins feurige Goldgelb, welches allmählich den östlichen Himmel übergießt, blitzt endlich über den rabenschwarzen Zackensaum der Berge das erste Segment des Sonnenballes, ein Feuerstrahl schießt urplötzlich auf die Spitze des Dachsteins und ebenso schnell ist der bis jetzt von Dämmerung umfangen gewesene Felsen beleuchtet."
    So beschrieb der österreichische Naturwissenschaftler Friedrich Simony, wie er auf dem Dachstein-Gipfel den Sonnenaufgang erlebt hatte. Als Aufstiegshilfe hatte er zuvor am Fels etwas bis dahin Einmaliges anlegen lassen: Einen Klettersteig mit Eisenstiften und Seil. Simony hatte damit etwas ersonnen, das vielen weiteren Menschen die Bergwelt einfacher erschließen sollte.
    175 Jahre später laufe ich von der Bergstation der Dachstein-Seilbahn eine halbe Stunde über den schon jetzt, gegen 8 Uhr am Morgen, aufgeweichten Hallstätter Gletscher zur Seethalerhütte. Das 90 Jahre alte, baufällige Holzgebäude steht auf 2.740 Metern Höhe am Rand einer der steil abfallenden Wände des etwa vier Kilometer langen Dachstein-Massivs. Daneben zeigt sich ein kastenförmiger, metallverkleideter Neubau: Sieht aus wie eine Seilbahnstation, ist aber die fast fertige moderne Nachfolge-Hütte.
    Seit 175 Jahren kaum verändert
    Bergführer Heli Rettensteiner sitzt auf der knarrenden Holzterrasse der alten Hütte. Seit 25 Jahren führt der Ramsauer Mitvierziger Gäste durch die Felswände seines Hausbergs, des Dachsteins. Heute geht er mit mir den Jubiläums-Klettersteig. Bei einer Tasse Kaffee erzählt mir Heli, dass dieser Ur-Steig über seine eindreiviertel Jahrhunderte im Wesentlichen gleichgeblieben ist:
    Es seien immer noch so Eisen drinnen von der ganz alten früheren Generation, und dann von 1930 und von 1978. Da habe ein Hüttenwirt und Bergführer aus der Region dann so schöne, geschmiedete Trittstifte reingegeben. Man behindere sich nicht und steige den Unteren nicht auf die Hände. Das sei sehr durchdacht und bestehe bis heute.
    Heli sieht etwa dreihundert Meter über den grau-weißen Gletscher hinweg zum Einstiegsbereich des Jubiläums-Klettersteigs. Dort hat sich gerade ein kleiner Stau gebildet. Einige steigen ab, andere wollen hinauf. Früher, bis noch vor so zehn Jahren, habe er eher wenige Bergsteiger angetroffen, meint Heli:
    Das sei ein auserwähltes kleines Grüppchen gewesen, und jetzt habe sich das wirklich zum Breitensport entwickelt. Erfreulicherweise seien auch viele junge Leute unterwegs. Um Klettern zu können, habe man früher jahrelang sich vorbereiten, gerade Seiltechnik lernen müssen. Jetzt sei das alles ziemlich einfach geworden und so seien viel mehr Leute am Berg.
    Auf dem Gondeldach zur Bergstation
    Als "Wiege der Klettersteige" hat die Ramsau-Gemeinde in den letzten Jahren das Angebot ausgebaut. Ganze 19 Klettersteige führen heute durch die Felswände. Für die stärkste "Promotion" haben zuletzt die Bergretter gesorgt, freilich die, die im Auftrag des ZDF an den Dachstein-Hängen in Aktion sind.
    Die Urlauberzahl ist deutlich gestiegen. Zum Glück sind nicht alle Gäste auch Klettersteig-interessiert. Einigen genügt schon die Auffahrt mit der Seilbahn, die bis zu zehn Gästen eine Art Cabrio-Vergnügen bietet: Sie können die etwa 1000 Höhenmeter hinauf zur Bergstation luftig auf dem Dach der Panorama-Gondel genießen. Natürlich hinter einem brusthohen, aber immerhin durchsichtigen Geländer.
    Wir legen die Klettergurte an, schultern unsere Rucksäcke und Heli verbindet mich mit seinem Seil – sicher sei sicher, sagt er. Auch Anna und ihr Sohn Torsten aus dem Bayrischen Wald machen sich unter Anleitung ihres Bergführers fertig.
    Sie stiegen heute mit einem Bergführer da hoch, sagt Anna, weil man einfach unsicher sei, wenn man nicht so oft in den Bergen ist. Sie mache nicht den ersten Klettersteig, aber vor dem Gletscher davor habe sie schon Respekt.
    So hat Anna zweifellos die richtige Entscheidung getroffen. Sie zeigt sich zuversichtlich, die Herausforderung schon zu meistern.
    Während der Querung zeigt Heli auf die schroffe, nahezu senkrechte Talseite des Felsaufbaus, in den wir gleich einsteigen wollen. Es ist die Südwand des in Jahrmillionen aus Dolomit- und Kalkgestein entstandenen Dachsteinmassivs.
    Eine der mächtigsten Wände, die es im Alpenraum gebe, erläutert Heli. Sie breche an der höchsten Stelle sogar 1000 Meter ab. Viele schöne Kletterrouten führten durch sie hinauf. Am berühmtesten sei der Steiner-Weg, den 1909 die Brüder Steiner erschlossen haben. Es sei ein Meilenstein im Klettern an der Dachstein Südwand gewesen.
    Der Gletscher reichte früher 30 Meter höher hinauf
    An der Einstiegsstelle machen sich gerade wieder sechs, sieben Kletterer auf den Weg nach oben. Nach kurzem Warten queren auch wir auf einem schulterbreiten Holzbrett über eine etwa zwei Meter klaffende, tiefe Spalte vom Gletscherrand zum Fels. Beinahe senkrecht geht es nun am Drahtseil entlang aufwärts. Mit Händen und Füßen taste ich mitunter suchend über das helle Gestein, finde jedoch immer zuverlässigen Halt. Nach 30 Höhenmetern haben wir das Steilstück mit der Einstufung bis C für "sportlich" geschafft. Und stehen da, wo der Klettersteig noch vor rund 20 Jahren erst begonnen hat denn früher reichte der Gletscher bis da herauf.
    Heli zeigt auf herausgemeißelte Stufen im Fels und schmunzelt, dass viele Kletterer oft dächten: Ja, ja, der Dachstein, so schön, immer findet sich ein Tritt genau an der rechten Stelle. Aber das sei von Menschenhand so gemacht worden. Da habe man schon richtige Stufen reingemeißelt.
    Folgerichtig lassen sich die weiteren Aufstiegsmeter einfacher klettern, wechselnd in den Schwierigkeitsbereichen A und B, durchgängig bis zum Gipfel. Also genau richtig für Ungeübte und Einsteiger. Auf der Höhe der sogenannten Schulter haben wir mit 150 Höhenmetern die Hälfte schon hinter oder genauer: unter uns.
    Heli zeigt links hinab. Dort bietet sich zum ersten Mal ein schöner Tiefblick auf die Ramsau. Zur rechten Seite hin ist der sogenannte Randkluft-Anstieg zu sehen, auch als Bergschrund bezeichnet. Er zeigt eine riesengroße Gletscherspalte. Die Randkluft ist gerade noch zu überqueren, aber nur mit Steigeisen, Pickel und Seil. Ansonsten, so betont Heli, sei das sehr, sehr gefährlich.
    Ohne Drahtseil geht es flach über einige große Steine und Felsbrocken ein gutes Stück weiter an die Nordflanke, in der wieder etliche Kletterer auf- und absteigen. Ein gut pfadbreites Felsband lässt uns problemlos die Flankenmitte queren. Dort mündet der Weg nun in die historische Simony-Route, den sogenannten Randkluft-Aufstieg, den Heli gerade erwähnt hat.
    Schnee und Gewitter gefährden den Klettersteig
    Dass hier, abgesehen von den gemeißelten Tritten, nur wenige Befestigungen die 175 Jahre überdauert haben, dafür hat die Natur gesorgt. Man muss sich vorstellen: Obwohl für einen Klettersteig 3 Zentimeter dicke Stahlrippen mindestens 20 Zentimeter tief in den Fels gebohrt und mit ihm verklebt werden – im Winter nützt das gegen die so federleicht herabrieselnden Flocken nicht immer. Der Schnee verdichtet sich, kann vereisen, dann wie ein Gletscher abrutschen und dabei die Eisenhalterungen abschleifen.
    Das weiß der Ramsauer Hans Prugger längst. Seit 18 Jahren ist er für Bau und Kontrolle der Klettersteige am Dachstein zuständig. Er weiß, dass auch im Sommer Gefahr droht. Blitze können ganze Felsen und Bolzen wegsprengen, sagt er. Noch viel schlimmer sei es für den, der am Drahtseil hängt. Man müsse da sehr gut aufpassen, bei den hochalpinen Steigen vor allem. Am besten gehe man im Sommer ganz früh weg, so dass man diese Steige zur Mittagszeit verlässt, weil die meisten Gewitter am Nachmittag passierten. Schlage der Blitz ein, überlebe man nicht, wenn man am Stahlseil hängt.
    Die zunehmende dunkle Bewölkung über dem Dachstein und ein paar herabfallende Graupel erinnern uns daran, dass für heute eine Gewitterlage vorausgesagt ist. Etwas schneller machen wir uns an die verbleibenden rund 170 Höhenmeter zum Gipfel.
    Beeindruckendes Gipfel-Panorama
    Eine gute Stunde nach unserem Einstieg stehen wir auf dem Hohen Dachstein, 2996 Meter über dem Meer. Die Dreitausender-Grenze erreicht immerhin die Spitze des großen Gipfelkreuzes. Bunte Wimpel flattern an den Spannseilen im frischen Wind. An die zwanzig Kletterer lagern auf und zwischen großen Felsblöcken und genießen zur verdienten Brotzeit das Rundum-Panorama.
    Wind weht kräftig herauf. Heli sagt, dass auch etliche freie Kletterrouten hochführten wie der bereits erwähnte Steiner-Weg oder der leichtere Pichl-Weg. Viele Routen reichten vom fünften bis zum sechsten und anspruchsvollen siebten Schwierigkeitsgrad. Eine Herausforderung für Profis. Es sei schon sehr, sehr beeindruckend, wenn man vom Gipfel aus das Panorama betrachte und in die steilabfallende Wand hinunter in die Ramsau schaue.
    Als 175 Jahre vor uns Friedrich Simony hier oben den Sonnenaufgang erlebt hat, war das für ihn noch Jahre später "die schönste, die erhabenste Stunde" seines Lebens. Auch ohne aufgehende Sonne ist der grandiose Rundblick nach wie vor beeindruckend. Aber vor allem: Simonys Idee eines Klettersteigs hat seither zahllosen anderen Menschen – nicht nur hier oben – ein sicheres Erleben großartiger Berg-Welt erschlossen.