Jeden Dienstagmorgen um acht steigt Zahnärztin Kerstin Finger mit ihren beiden Praxishelferinnen in einen kleinen Lieferwagen voller Zahnarztwerkzeuge nebst mobilem Bohrer, und braust los. Von der Praxis in Templin über die Dörfer.
"Die meisten der Bedürftigen in der Zahnmedizin kriegen wir gar nicht mehr zu Gesicht, weil die einfach nicht mehr kommen können. Aber wenn Sie einmal anfangen, zu denen hinzufahren, dann merken Sie eigentlich, wie viel Bedürftigkeit es gibt. Im Moment ist es so: Wir können es nicht schaffen. Wir haben so viele Anrufe, auch von viel, viel weiter weg."
In Haßleben wartet die über 70-jährige Frau Rinke schon in ihrer kleinen Wohnung in einem bescheidenen Plattenbau:
"Ich hätte auch nicht mehr können nach Templin, immer dann die Treppen und alles dahin, nicht mehr können. Kriege ich ja gar nicht mehr hin, kann ja auch so schlecht laufen, alles ist kaputt."
Während eine der Zahnarzthelferinnen in der Küche quietschrosa Abdruckmasse für eine neue Prothese anrührt, versinkt die kleine Frau Rinke fast in ihrem Polstersessel. Die zweite Helferin leuchtet mit einer Fahrradlampe in den weit geöffneten Mund der Patientin und die sehr große, schlanke Kerstin Finger macht sich krumm, um den Zahnabdruck zu nehmen.
80 Kilometer für einen Hausbesuch
"Wir haben ja auch ein Problem hier: Die Entfernung ist enorm. Manchmal fahren wir für einen Hausbesuch 40 Kilometer hin, 40 Kilometer zurück, das sind 80 Kilometer und das heißt rund anderthalb Stunden, vielleicht auch zwei Stunden Fahrt. Das ist enorm."
In Schwedt an der polnischen Grenze ist auch Amin Ballouz unterwegs zu Hausbesuchen. Der Allgemein-Mediziner ist vor 40 Jahren vor dem Bürgerkrieg aus dem Libanon geflohen. Seine Patienten schätzen ihn als einen der wenigen Ärzte, die in der Uckermark Hausbesuche machen.
"Und als ich die Gegend hier gesehen habe am Anfang, war für mich ein bisschen auch problematisch. Als ich hier ankam, habe ich gedacht, die Zeit ist nach dem Zweiten Weltkrieg stehen geblieben."
Nicht-medizinisches Praxispersonal für die Basisversorgung
Die Fahrerei lohnt sich für die Ärzte kaum, denn der Aufwand wird nicht honoriert. Darum findet auch Kerstin Finger keine Nachahmer, obwohl sie seit Jahren händeringend Kollegen sucht. Wie die Zahnärztin will auch Armin Ballouz seine gealterten Patienten aber nicht im Stich lassen. Seine Lösung heißt Schwester Agnes: Eine ausgebildete Krankenschwester.
"Sowie eine sogenannte NäPA, also nicht-medizinisches Praxispersonal. Und die besuchen die Patienten abwechselnd, sind einmal in der Woche auf jeden Fall raus zu den Hausbesuchen und ich hoffe, dass wir mit zwei Leuten dann die Hausbesuche abdecken können."
Genau, meint auch Zahnärztin Kerstin Finger: Blutdruck messen, nach dem Befinden fragen, Medikamente geben, dafür muss man doch nicht unbedingt Arzt sein.
"Wir müssen doch nicht alles durch die studierten Profis machen lassen, also es muss doch diese Kaskade von Selbsthilfe, Nachbarschaftshilfe und dann erst die Profis und bitte dann nur für das, was wirklich auch nur die Profis können."
Nicht auf Hilfe aus Potsam warten
Im Auto unterwegs zum nächsten Patienten geht sie noch einen Schritt weiter: Die Uckermark dürfe nicht auf Hilfe aus Potsdam warten, sondern brauche einen Kulturwandel im Denken, philosophiert die Ärztin.
"Wieder miteinander zu kommunizieren, Beziehungen aufzunehmen und ganz klar für sich zu sagen: 'Wie wollen wir leben?' Das ist ja für viele gar nicht definiert. Sie denken ja, das geht einfach irgendwie immer so weiter und irgendein anderer wird’s schon richten."
Gemeindearbeit müsse wieder wertgeschätzt werden und junge Helfer den Alten die digitale Welt vermitteln, zum Beispiel bei Online-Überweisungen helfen, wünscht sich Kerstin Finger. Nur gemeinsam könnten die Bewohner dieser abgelegenen Gegend die Folgen des demografischen Wandels in den Griff kriegen.
"Der hat längst angefangen und wir sind mittendrin und wir müssen einfach auf andere Formen der Versorgung zurückgreifen. Diese Mobilität muss sich auch irgendwie mal umkehren, es muss die Leistung zum Bedürftigen und nicht der Bedürftige muss immer zur Leistung, weil, das können wir nicht schaffen."
Ideen für mobile Lösungen, Bürgerbusse, rollende Kinos, Apps für Carsharing gäbe es genug, meint die leidenschaftliche Lokalpatriotin, die es einst aus Rostock in die Uckermark verschlug. Sie blieb, weil sie die Ruhe in der dünn besiedelten Region schätzt und den Raum, den hier jeder für sich hat.
"Das werde ich auch oft gefragt: 'Warum machen Sie das?' Aber ich denke immer: Wenn ich hier alt werden will oder es gibt noch nicht die Systeme, die ich mir dann wünsche, wenn Sie alt sind, dann muss ich jetzt anfangen, die zu entwickeln und auszuprobieren. Woher soll ich sonst erwarten, dass das andere Leute für mich machen?"
Sagt die Ärztin und zieht ihren Rollkoffer mit dem 15 Kilo schweren mobilen Bohrer drin zum nächsten Patienten, der es nicht mehr schafft in ihre Praxis in Templin.