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Äthiopien
30 Jahre nach der Hungerkatastrophe

Im Human Development Index 2012 liegt Äthiopien auf Platz 173 von 186 Ländern. Gründe dafür sind unter anderem wiederkehrende Dürreperioden, ein rasches Bevölkerungswachstum und Ressourcenknappheit. Dennoch sind viele Äthiopier optimistisch, dass eine Hungerkatastrophe wie 1984/85 so nicht mehr passieren wird.

Von Stefan Maas |
    Abebe Aragaw führt seine Besucher durch dichte Baumreihen einen Hügel hinauf. Leichter Regen fällt. Hin und wieder muss der etwa 60-Jährige sich ducken, denn viele Äste hängen tief - voll mit Früchten. Mango, Avocado, Papaya, Orangen. Seit 1991 baut er dieses Obst an. Auf einem halben Hektar Land, das er mit seiner Familie und einem Tagelöhner bewirtschaftet. Er verkauft das Obst auf dem lokalen Markt und sogar bis in die Hauptstadt. Und bringt anderen Bauern bei, wie sie ihre Landwirtschaft auch professioneller und wirtschaftlicher betreiben können.
    "1984 sah es hier ganz anders aus, wo heute die Bäume stehen war damals nichts. Nur nackte Erde",
    erzählt Abebe und deutet von der Hügelkuppe aus Richtung Tal. Rund um seine Plantage: nur Steine und Lehm so weit das Auge reicht. Kleine grüne Inseln sprenkeln während der Regenzeit die monoton-graubraune Landschaft. Damals, sagt er und streicht dabei über seinen grauen Bart, war der Regen lange ausgeblieben, der Boden ausgelaugt. In ihrer Not hatten die Bauern jeden Baum und Strauch verfeuert und verfüttert.
    "Wir waren verzweifelt. Wir mussten alle unsere Tiere töten, weil es nichts mehr zu Essen gab. Die Regierung wollte uns umsiedeln in einen ganz anderen Teil des Landes, aber wir haben uns geweigert, denn ich bin hier geboren."
    Weit mehr als eine halbe Million Bauern sollten damals aus den von der Dürre betroffenen Regionen – hauptsächlich im Norden des Landes – in den regenreicheren Süden zwangsumgesiedelt werden. Viele wehrten sich, viele versuchten, wieder in ihre alte Heimat zurückzukehren. Menschenrechtsorganisationen vermuten, dass allein wegen dieses Regierungsprogramms zehntausende Menschen ums Leben gekommen sind. Abebe, seine Frau und seine fünf Kinder hatten damals Glück:
    "Wir haben von dem "Feeding Center" gehört, das hier in der Nähe aufgemacht wurde."
    Heute ist von diesem Hilfszentrum nicht mehr viel übrig. Eine Halle wird noch als Lagerhaus genutzt, das Fundament einer zweiten ist noch im Gras zu erkennen. Daneben ein überwucherter Betontrog. Doch damals, zu Hoch-Zeiten der Hungerkatastrophe, bei der allein im Antsokia-Tal jeden Tag mindestens 30 Menschen begraben wurden, wurden hier 68.000 Menschen mit Nahrung, Kleidung und Medikamenten versorgt. Eine Straße in das Tal gab es vor 30 Jahren nicht.
    Auch Zewde Mulatu und ihr Mann sind damals in das Camp gekommen. Mit vier Kindern, erzählt die zierliche Frau, die heute bei der Familie von Aschalo, einer ihrer Töchter wohnt. Nur ein Stück die Schotter-Straße rauf vom einstigen Versorgungszentrum.
    "Eigentlich war unser Dorf nur eine dreiviertel Stunde entfernt. Aber wir haben zwei Stunden gebraucht. Wir waren so schwach, ich habe zwei Kinder getragen."
    Aschalo war damals so unterernährt, dass ihre Mutter fürchtete, sie werde den Weg nicht überleben.
    "Im Lager kam sie in ein spezielles Zelt, in der die besonders schwierigen Fälle mit besonderer Nahrung versorgt wurden. Wir anderen haben zu Essen bekommen und Decken."
    Heute hat Aschalo einen kleinen Friseurladen, mit dem sie ihre Familie ernährt.
    Girme Wondafrash sitzt im Schatten eines Baumes auf einem Plastikstuhl. Er trägt einen schwarzen Anzug. Früher war er in der lokalen Verwaltung für die Region zuständig. Vor 30 Jahren, als immer mehr Menschen im Tal hungerten, habe er mehrfach die Regionalregierung darüber informiert. Die aber habe nicht einmal reagiert, erzählt er.
    Als es immer mehr Tote gab, hat er sich schließlich auf den Weg gemacht. 350 Kilometer. In die Hauptstadt Addis Abeba. Dort sei er, nach vielen Hindernissen, schließlich bis zum Präsidenten Mengistu Haile Mariam gelangt.
    Der habe sich vom Ausmaß der Katastrophe erschüttert gezeigt und habe Hilfe versprochen.
    Die kam dann wohl eher trotz der Militär-Regierung in Addis Abeba - die die Katastrophe lange verschwieg und ausländische Hilfe nur widerwillig akzeptierte.
    Für die Menschen im Antsokia jedenfalls kam die Hilfe aus der Luft, denn eine Straße ins Tal gab es damals noch nicht. Die Hilfsorganisationen "World Vision" versorgte die Hungernden mit Nahrung. Sie ist bis heute im Tal präsent, hat die Wiederaufforstung vorangetrieben und die Bauern geschult. 30 Jahre sind darüber ins Land gegangen: Eine viel zu lange Zeit, sagen Kritiker. Denn damit habe sie der Regierung Verantwortung abgenommen.
    Nun zieht sich die Organisation langsam zurück und übergibt ihre Projekte an die dort lebende Bevölkerung. Aber auch ohne fremde Hilfe würde eine langanhaltende Trockenheit nicht noch einmal denselben Schaden anrichten wie vor drei Jahrzehnten, versichert Aklil Getachew. Er ist bei der Lokalregierung für die Schulen zuständig. Und für die Katastrophenprävention.
    Heute, sagt der schmale Mittzwanziger, seien die Menschen selbstbewusster, es gebe ziemlich stabile Strukturen und die Bürger könnten mit ihren Abgeordneten in der Hauptstadt selber in Kontakt treten.
    "Außerdem hat die Regierung Vorräte angelegt, die an die Hungernden verteilt werden könnten."
    Mit einem durchschnittlichen Jahres-Pro-Kopf-Einkommen von etwa 370 Dollar gehört Äthiopien zu den ärmsten Ländern der Welt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der absoluten Armutsgrenze. Gleichzeitig steht Äthiopien auf dem Korruptionsindex der Organisation "Transparency International" auf Platz 113 von 176 Staaten. Und auch der Klimawandel macht dem Land zu schaffen. Oft setzt der Regen heute viel später ein als früher.
    Dennoch: Viele Landwirte im Antsokia-Tal sind zuversichtlich, dass sie eine längere Zeit ohne Regen überstehen könnten, auch weil sie ihre Felder mittlerweile über ein ausgeklügeltes Kanalsystem mit Wasser versorgen.
    Zu ihnen gehört auch Desta Beletew. - Er besitzt einen halben Hektar Land und hat noch mehr hinzugemietet, auf denen baut er nun Obst an, Zwiebeln und Tomaten. Sogar fünf Tagelöhner beschäftigt er inzwischen auf seinem Hof, zahlt ihnen 70 Birr pro Tag, erzählt er. Das entspricht nicht ganz drei Euro.
    Allein mit seiner Mango- und Zwiebel-Ernte habe er jetzt 45.000 Birr, also gut 1700 Euro eingenommen, erzählt Beletew und meint dann:
    "Früher haben wir nur angebaut, was wir selbst gebraucht haben. Heute verdienen wir mit unseren Produkten Geld. Das können wir sparen. Und das wird uns auch durch schlechte Zeiten bringen."