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AfD bedroht Ruhr-SPD
Revolte im Revier

Das Ruhrgebiet gilt als Herzkammer der Sozialdemokratie. Doch parteiinterne Skandale und jahrzehntelange Abnutzung gefährden die Vormachtstellung der SPD im Revier. Zumal die AfD in der strukturschwachen Region schon aktiv auf Wähler-Fang bei den Genossen geht.

Von Moritz Küpper |
    Ein SPD Schild ist am 04.08.2016 an der Parteizentrale der SPD in Essen (Nordrhein-Westfalen) befestigt. Nach 48 Stunden endet das Ultimatum, das die Essener SPD ihrer Bundestagsabgeordneten Petra Hinz gestellt hat. Sie soll ihr Mandat abgeben, fordert die Partei.
    Innerhalb der NRW-SPD gibt es einen empfindlichen Mitgliederschwund: Die Zahl hat sich seit 1990 mehr als halbiert. Rund 118.000 Mitglieder hat die Partei aktuell noch. (dpa / picture alliance / Ina Fassbender)
    Obwohl das Wetter gerade nicht mitspielt, ist Stephan Duda der Stolz anzuhören:
    "Von der Ausstattung sind wir eigentlich ganz gut betucht. Wir haben hinter uns einen Rasenplatz, hier haben wir den Kunstrasenplatz und hier haben wir noch einen kleinen Ascheplatz noch zum Trainieren."
    Und Duda, 46 Jahre alt, steht mit seinem Schirm genau zwischen all diesen Plätzen. Der gemütliche Mann, Vater zweier Kinder, als Vertriebsleiter tätig, ist erster Vorsitzender des FC Karnap 07/27 und steht an diesem regnerischen, dunklen Dienstagabend auf dessen Vereinsgelände im Essener Norden. Er schaut beim Training zu:
    "Das ist jetzt unsere erste Mannschaft hier." Das Flutlicht lässt den nassen Kunstrasen glänzen. "Da haben wir zum Beispiel auch Flüchtlinge integriert."
    Denn: Duda ist nicht nur Vorsitzender des FC Karnap, sondern auch Vorsitzender des SPD-Ortsvereins – und kümmert sich so um die Probleme einer Kommune. Und das bedeutete in den letzten Monaten vor allem, Flüchtlinge unterzubringen, zu versorgen und vor Ort zu integrieren.
    Gutgemeinter Aufruf sorgte für Negativschlagzeilen
    In diesem Moment scheint es so, als habe sich im Ruhrgebiet nicht viel getan: Die SPD ist allgegenwärtig, der Fußball-Vereinsvorsitzende ist natürlich auch Partei-Funktionär – und man kümmert sich. Auch und gerade um Fremde.
    "Das ist einer von den Flüchtlingen hier, spielt nen super Fußball. Hat natürlich wenig Chancen für das Bleiberecht. Also, Fußballerisch würde ich alles tun, damit er bleibt."
    Essen Karnap: Der SPD-Ortsverein im Norden der Ruhrgebietsstadt sorgte mit einem geplanten Protestmarsch gegen Flüchtlinge für Negativschlagzeilen.
    Essen - Karnap (picture alliance / dpa / Caroline Seidel)
    Dabei begann dieses Jahr alles andere als erfreulich: Denn: Mitte Januar platzierten Duda und die örtlichen SPD-Ortsvereine einen Aufruf: "Genug ist genug", schrieb er auf seiner Facebook-Seite, "Integration hat Grenzen, der Norden ist voll!" Bei der Verteilung der Flüchtlinge gebe es ein starkes Ungleichgewicht zu Lasten des Essener Nordens, daher wolle man dagegen demonstrieren. Der Aufruf machte rasch bundesweit Schlagzeilen:
    "Innerhalb von ein paar Stunden waren 90.000 Klicks auf meiner Facebook-Seite. Aber die Message, dass man da Hilfe sucht. Hilfe für die Flüchtlinge, wurde dann so gemünzt, ja, gegen die Flüchtlinge."
    Jeder Vorfall ein Stich ins sozialdemokratische Herz
    Mittlerweile sitzt er im Klubhaus des FC Karnap, im Trockenen. Heute kann er sich die Aufregung, den Vorwurf, dass sei nationalistische Rhetorik, erklären:
    "Ja, das kann ich mir selber zusprechen, das war über das Ziel geschossen. Aber mit einem Goodwill sozusagen, um mehr Hilfe für die Flüchtlinge zu kriegen und eine gerechtere Verteilung."
    Die Demonstration fand zwar nie statt, doch die große Aufmerksamkeit, die das Thema fand, passte ins Bild der negativen Schlagzeilen rund um die Essener SPD. Sei es der SPD-Ratsherr, der an Flüchtlingsunterkünften mitverdiente, sei es der Fall Petra Hinz, jener SPD-Bundestagsabgeordneten aus Essen, die Abitur und Studium erfunden hatte und statt sofort zurückzutreten, eine Schlammschlacht lostrat.
    Sie sehen die Bundestagsabgeordnete Petra Hinz, sie spricht im Bundestag.
    Die SPD-Bundestagsabgeordnete Petra Hinz aus Essen hatte Teile ihres Lebenslaufs gefälscht und legte deshalb Ende August 2016 ihr Bundestagsmandat nieder. (dpa)
    Oder sei es eben der SPD-Ratsherr aus Dudas Beritt in Essen-Karnap, der ausgerechnet zur AfD wechselte. Jeder Vorfall für sich war ein Stich ins sozialdemokratische Herz, doch in der Summe könnte es gravierende Auswirkungen auf die Sozialdemokraten an Rhein und Ruhr haben. Denn: Auch die einstigen SPD-Hochburgen sind längst nicht mehr unantastbar: Erst im vergangenen Jahr verlor die SPD in Essen das Oberbürgermeisteramt an die CDU.
    "Partei ohne Revier", schrieb die "Frankfurter Rundschau" erst kürzlich über den Zustand der NRW-SPD – und warnte vor einem großen Wähler-Potential für die AfD, die Alternative für Deutschland. Gerade im Hinblick auf die anstehende Landtagswahl im Mai nächsten Jahres sowie die dann folgende Bundestagswahl im Herbst.
    Ehemaliger SPD-Mann Reil will nun in der AfD Karriere machen
    "Jawohl, der Karnaper Markt. Das Highlight." Noch einmal Essen-Karnap. Knapp einen Kilometer Luftlinie vom Fußball-Platz entfernt. Falls es noch einen Beleg für die Gefährdung der SPD braucht, dann steht diese hier: Gut 1,90 Meter groß, Brille, Bart, eine raumfassende Körpersprache und eine laute Stimme. Gestatten: Guido Reil, Bergmann, Gewerkschafter, 26 Jahre SPD-Mitgliedschaft und nun seit einigen Monaten bei der AfD aktiv. Reil steht mitten auf dem Platz.
    "Total trostlos eben, und wenn sie hier gucken dreckig. Und hier wird jeden Tag gesäubert."
    Reil war Dudas Vorgänger als Vorsitzender des SPD-Ortsvereins, zehn Jahre lang.
    "Also, in Karnap war das ja noch so: Wir haben in den 90 ern noch über 80 Prozent wirklich der Stimmanteile geholt. Und es gab ja nichts anderes wie die SPD zu wählen. So, und diese Entwicklung hat sich in den letzten Jahren leider völlig verändert. Weil diese Menschen, die die SPD führen, keinen Draht und keine Beziehung mehr zu ihrer Basis haben und zu den Menschen hier."
    Reil ist aktuell ein gefragter Gesprächspartner: Er war bei "Markus Lanz" im ZDF, bei "hart, aber fair", in der ARD. Wenn man sich einen Nachmittag mit ihm unterhält, merkt man, wie ihm das gefällt – und wie er nun in der AfD Karriere machen will. Denn: Ein Grund für Reils Übertritt war auch, dass er innerhalb der SPD nicht mehr weiterkam. Nun also woanders.
    "Ich werde da mit Sicherheit den ganz linken Flügel besetzen und den Arbeitnehmer-Flügel. Und da auch einen wichtigen Beitrag leisten. Gerade für meine Leute, für die Arbeiter und für die kleinen Leute. Bei den Arbeitern ist die AfD mittlerweile die stärkste Partei. Und wir haben da ein riesen Potenzial."
    hart aber fair am 05.09.2016 im Studio Berlin Adlershof in Berlin Guido Reil ( AfD-Mitglied; trat nach 26 Jahren Mitgliedschaft aus der SPD aus ) Thema der Sendung: Fluchtpunkt Deutschland _ hat Merkel ihre Buerger ueberfordert? Foto: Revierfoto | Verwendung weltweit
    Guido Reil - hier bei einem Auftritt in der ARD-Sendung Hart aber Fair am 5.9.2016 - trat nach 26 Jahren aus der SPD aus, um Mitglied der AfD zu werden. (picture alliance / dpa / Revierfoto)
    Reil hält 30 Prozent im Ruhrgebiet durchaus für realistisch. Ein Pfund: Seine Vernetzung vor Ort: "Man hat den Versuch unterlassen, Guido Reil in der Partei, in der Sozialdemokratie zu halten. Ich weiß, auch nach Gesprächen mit ihm, dass das möglich gewesen wäre. Leider haben diese Gespräche nie stattgefunden", sagt Willi Nowack. Der einst mächtigste Mann der SPD in Essen – fast 20 Jahre lang Fraktionschef im Rat der Stadt, dazu zehn Jahre Landtagsabgeordneter – steht selbst als Person für Skandale: Wegen Insolvenzverschleppung musste er einst ins Gefängnis, zwei Mal sollte er aus der Partei geschmissen werden – ohne Erfolg.
    Früher, so Nowack, wäre Reils Position wohl auch von kernigen SPD-Ruhrgebietsleuten selbstbewusst in der Hauptstadt vorgetragen worden. Nun will Reil stattdessen bei der Landtagswahl direkt gegen den Essener SPD-Chef und NRW-Justizminister Thomas Kutschaty antreten.
    SPD steht im Ruhrgebiet gleich vor zwei Herausforderungen
    "Die Ansteckungsgefahr ist ziemlich groß von Überwechslern, weil sie vormachen, dass es nicht nur geht, sondern dass es fast schon salonfähig wird", sagt Professor Karl-Rudolf Korte. Er ist Parteienforscher und Direktor der "NRW-School of Governance" an der Universität Duisburg-Essen. Korte hat – hinsichtlich der SPD und dem Ruhrgebiet – viel Nostalgie und Melancholie beobachtet. Nun sieht er die Partei mit zwei Herausforderungen konfrontiert:
    "Einmal von einer neuen Partei, die das Thema Aufsteiger oder Absteiger-Gesellschaft ins Zentrum gerückt hat und attraktiv für die Menschen ist, die von Status-Ängsten geplagt werden. Und die doppelte Herausforderungen besteht für die SPD auch darin, dass sie auch personell nicht so professionell aufgestellt ist, dass die Bürger den Eindruck haben, das ist eine Partei, die auch meine Probleme löst"
    Dabei gibt es auch Zuspruch – personell sowie auch inhaltlich: "So, ich sitze hier bei Anne Will beziehungsweise nach Anne Will." Hannelore Krafts Videoblog von Mitte April. Zusammen mit Susanne Neumann, genannt Susi, schaut NRWs Ministerpräsidentin und SPD-Landesparteichefin in die Kamera: "Und worüber ich mich sehr freue, die Susi Neumann, die ist jetzt Mitglied der SPD geworden."
    Mitglieder verlassen die SPD aus "Lebensangst"
    Wochen später sitzt Neumann in ihrer Wohnung in Gelsenkirchen. Doch der Anfangs-Euphorie und dem medialen Hype rund um ihren Talkshow-Auftritt und der öffentlichen Begegnung mit SPD-Parteichef Sigmar Gabriel ist eine gewisse Ernüchterung gewichen:
    "Danach sind so viele Partei-Genossen auch auf mich zugekommen, die die Basis-Politik einfach nur noch schlecht finden, aber trotzdem noch zur SPD stehen und dann immer versuchen, Kräfte zu bündeln."
    Richtig durchdringen innerhalb ihrer Partei kann Neumann nicht. Und auch in ihrem Umfeld verlassen die Leute die SPD. Lebensangst, nennt Neumann das Motiv der Menschen. Denn: Alles sei teurer geworden. Doch wenn das Gespräch eben auf die AfD und die anstehenden Wahlen kommt, ändert sich ihre Ton-Lage:
    "Diese rechte Brut macht mir richtig Angst. Weil, es sind mittlerweile Menschen, die sind nicht dumm. Und die sagen einfach: Die Chance hat die SPD gekriegt. Und ich muss sagen, es gibt wirklich hochintelligente Wähler, die eine Protestwahl machen."
    Große Eintracht auf dem SPD-Landesparteitag
    Bochum, Ende September. Landesparteitag der SPD. Hier, inmitten des Ruhrgebiets, im "RuhrCongress", will sich die Partei auf die anstehende Landtagswahl am 14. Mai 2017 einschwören. An der Hallen-Decke hängen einzelne Banner: "Mehr Tourismus als je zuvor", steht darauf, "Mehr Geld für Bildung als je zuvor", oder auch "Mehr Miteinander als je zuvor". Man habe sich ein bisschen eine eigene Welt gebastelt, stellte die "Süddeutsche Zeitung" anderntags fest, denn: NRW steht in vielen Ländervergleichen an letzter Stelle: Schulden, Bildung, Infrastruktur. Doch davon ist in der Rede der Ministerpräsidentin und Landes-Chefin wenig zu hören:
    "Wir haben einen Plan für eine starke Wirtschaft und gute Arbeit. Für Kinder, Bildung und Familie, für Prävention und Vorbeugung." Tatsächlich gibt es im Ruhrgebiet eine Arbeitslosenquote zwischen zehn und 14 Prozent. Doch das ist ebenso wenig Thema in der Parteitagsrede, wie die AfD. Stattdessen:
    "Wir haben und wir zeigen Haltung. Wir sehen nicht die Flüchtlinge, sondern den Menschen."
    In einer TV-Talkshow hatte Kraft Wochen zuvor allerdings gesagt:
    "Ich bin froh, dass wir die Grenzen zu haben."
    Hannelore Kraft spricht am Rednerpult im NRW-Landtag.
    NRW-Ministerpräsidentin Kraft im Düsseldorfer Landtag. (dpa / Monika Skolimowska)
    Manch ein Polit-Stratege sah darin gar den Versuch, deutlich zu machen, dass die Probleme erkannt seien und man sich hinsichtlich eines Wahlkampfes positioniere. Doch davon ist in Bochum, im "RuhrCongress", nichts zu hören. Stattdessen: Große Eintracht – und deutliche Zustimmung:
    "Mit Ja haben für Hannelore gestimmt, 445…"
    Das entspricht 98,5 Prozent. Heile Welt, die Kümmerin Kraft wird es schon richten.
    Die Mitgliederzahl der NRW-SPD hat sich seit 1990 halbiert
    Wer sich in den vergangenen Wochen mit den verschiedenen Gruppierungen der NRW-SPD trifft, bekommt nur zum Teil das Gefühl, dass man sich innerhalb des Partei-Apparats der Gefahr bewusst ist. Innerhalb der NRW-SPD gibt es einen empfindlichen Mitgliederschwund: Rund 118.000 Mitglieder hat die Partei noch, doch die Zahl hat sich seit 1990 mehr als halbiert. Daher hat man vor nunmehr gut zwei Jahren einen Prozess auf den Weg gebracht: "Fundament stärken." Die Idee: Die eigene Arbeit auf den Prüfstand stellen.
    "Da gibt es eine ehrliche Bilanz, dass einige Veranstaltungen verbesserungswürdig sind. Das auch die Kontakte mit den Menschen anders laufen müssen."
    Es sind durchaus selbstkritische Töne, die Andre Stinka, Generalsekretär der NRW-SPD, anschlägt. Er weiß, um die Signalwirkung eines Falls Petra Hinz, um die Gefahr durch die AfD – und auch um die besondere Situation in der einstigen SPD-Stammregion, dem Ruhrgebiet:
    "Ich glaube schon, dass man immer gut darüber nachdenken muss, ob man sich Mehrheiten immer so sicher ist. Deswegen ist es gut, dass wir durch den Prozess alle ermutigt haben, sich auf den Weg zu machen. Also ausruhen geht nicht, sondern wir müssen wach werden."
    Politikwissenschaftler: Nur langfristige Strategie kann helfen
    Das meint auch Rainer Bovermann. Der 59-Jährige lehrt Politikwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum, sitzt für die SPD im Landtag von Nordrhein-Westfalen und hat einst über den Aufstieg der SPD am Beispiel Dortmund seine Dissertation geschrieben. Nun hat er für den SPD-Parteivorstand die letzten Kommunalwahlen analysiert:
    "Und hier kann man dann in den Städten wie zum Beispiel Essen sehr deutlich aufzeigen, dass einmal die SPD vor allen Dingen verloren hat an die Nichtwähler seit 1999 und, dass diese Nichtwähler vor allen Dingen in den Quartieren zu finden sind, wo wir hohe Anteile an SGB II-Empfängern haben."
    Also Hartz IV. Die SPD verliere diese Klientel, so Bovermanns Fazit. An seinem Ansatz ist vor allem interessant, dass er sich auch die Nichtwähler anschaut.
    "Dass man von daher versuchen muss, die wenigstens zum Teil zurückzugewinnen. Oder aber gegen AfD-Einflüsse zu immunisieren. Meines Erachtens geht das aber nur über eine langfristige Strategie oder nur sehr eingeschränkt über den sonst üblichen heißen Wahlkampf, also diese sechs oder vier Wochen reichen dazu nicht aus."
    Auf der anderen Seite hat Bovermann aber auch noch Hoffnung: Im Ruhrgebiet sei so gut wie nie rechts gewählt worden. Und: Eine Polarisierung sowie ein Aufkommen der AfD könne auch zu einer Re-Mobilisierung der einst großen SPD-Stammwählerschaft führen.
    Krafts Abneigung gegenüber den alten Männern der SPD
    Mülheim an der Ruhr. Die Stadt liegt im Westen des Ruhrgebiets. Hier ist Hannelore Kraft geboren. Hier ist sie noch immer zuhause. Und hier liegt auch, direkt an der Ruhr, das Haus von Bodo Hombach. Auch er stammt – wie Kraft – gebürtig aus Mülheim. Auch er ist in der SPD, doch Hombach hat seine aktive Partei-Zeit wohl hinter sich.
    "Also Erschütterungen im Ruhrgebiet waren sehr weit spürbar. Erschütterungen hier, das ist relativ neu, habe ich das Gefühl, merkt man nicht mal mehr in Düsseldorf."
    Hombach war einst für die absoluten Mehrheiten in NRW verantwortlich. Er war Gewerkschaftsmann, gut ein Jahrzehnt Landesgeschäftsführer der SPD, Wahlkampfmanager in den erfolgreichen Zeiten von Johannes Rau und gilt als der Erfinder des SPD-Slogans "Wir in Nordrhein-Westfalen".
    Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) spricht am Freitag (20.12.2011) auf einer Pressekonferenz im Vorfeld des Wirtschaftsforums des Initiativkreises Ruhr in Essen mit dem Moderator des Initiativkreises, Bodo Hombach. Für den Abend hat der Initiativkreis Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft zu mehreren Diskussionsforen im Ruhrgebiet eingeladen. Foto: Marius Becker dpa/lnw | Verwendung weltweit
    NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) mit Bodo Hombach - hier auf einer Pressekonferenz des Wirtschaftsforums des Initiativkreises Ruhr in Essen 2011. (picture alliance / dpa / Marius Becker)
    "Eigentlich müsste es die Sozialdemokratie sein, die ganz früh Sensoren dafür hat, zu sagen: Was haben wir jetzt eigentlich zu tun? Wie können wir eigentlich gegensteuern? Weil hier tauchen ein paar Probleme auf, die früher sind als anderswo. Dadurch konnten aber auch Lösungen entwickelt werden, die anderswo mal gültig waren. Das sehe ich zurzeit nicht."
    Krafts Abneigung gegenüber Hombach und den alten Männern der SPD, wie auch Wolfgang Clement und Peer Steinbrück, ist an Rhein und Ruhr ein offenes Geheimnis. Dabei rühmt sich Hombach noch heute damit, einst Kraft den Weg in die Politik geebnet zu haben. Aber:
    "Aus einer Politik des Kümmerns, ist der Eindruck geworden: Ne, uns hört keiner, kümmert sich keiner und letztendlich ist denen das auch egal. Das ist hier verbreitet."
    Er sehe eine Diskrepanz zwischen dem Image der Kümmerin und der Realität im Land. Stattdessen jetzt, die Alternative?
    "Es wäre Einfallstor für die, die sagen: Wir kümmern uns um die Dinge. Wir hören Euch. Wenn es die AfD ist, die das glaubwürdig überbringt, lautet die Antwort ja."
    Klassische Ungleichheitsfrage hat sich verändert
    Doch: Ist der Weg von der SPD zur AfD nicht eindeutig zu lang?
    "Tatsächlich gibt es Übergänge, die haben vor allen Dingen was damit zu tun, dass die klassische Ungleichheitsfrage, für die die Sozialdemokratie ja stand, die sich zwischen oben und unten beschäftigt hat, dass die sich doch grundlegend gewandelt hat", sagt Steffen Mau. Er ist Professor für politische Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und beschäftigt sich wissenschaftlich mit Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Vor allem in den unteren Schichten seien die Vorbehalte gegen Globalisierung und Migrationsbewegungen stark ausgeprägt, so Mau:
    "Und bislang hat die SPD es noch nicht geschafft, eine politische Programmatik zu entwickeln, was diese Fragen hinreichend adressiert, ohne dann in diese nationalistische oder ethno-nationalistische Schließungsperspektive zu verfallen, die eben durch die AfD repräsentiert wird."
    Mikrofone bei einer Pressekonferenz in der Parteizentrale der SPD in Essen.
    Während des Skandals um den gefälschten Lebenslauf von Petra Hinz richtete sich der Fokus der Aufmerksamkeit auf die Parteizentrale im SPD-Unterbezirk Essen. (dpa / Ina Fassbender)
    Parteienfilz und enttäuschte Hoffnungen
    Klaus Kurzeja lehnt sich an einen Stehtisch. Der ältere Mann, schütteres graue Haar, weiße Jacke, Schal und bunt kariertes Hemd, steht in der Stadthalle von Datteln, Kreis Recklinghausen, nördliches Ruhrgebiet. Es ist am frühen Abend, langsam füllt sich der Vorraum: Marcus Pretzell, AfD-Spitzenkandidat in Nordrhein-Westfalen, kommt für einen Vortrag mit anschließender Diskussion vorbei. Rund 150 Menschen sind gekommen, haben in der holz vertäfelten Halle Platz gefunden. Wie Kurzeja ist die Hälfte hier AfD-Mitglied. Aber fast jeder, den man fragt, hat eine SPD-Vergangenheit, wie eben auch Kurzeja:
    "Ich habe die SPD kennengelernt, als kleiner Mann. Da gab es gar nichts anderes, als dem Milieu, aus dem ich komme. "
    Kurzeja selbst steht eigentlich beispielhaft für das einstige SPD-Milieu: Nach der Ausbildung konnte er studieren, wurde Diplom-Ingenieur. Aus Steinkohle Benzin zu machen, so lautete sein Arbeitsauftrag auf einer Anlage in Bottrop. Bergmanns Nähe, nennt es Kurzeja selbst, er sei ein Kind des Ruhrgebiets. Und daher war er einst auch bei der SPD. Jetzt sieht er dort nur noch den Parteien-Filz:
    "Wenn ich SPD-Mitglied bin und habe eine gewisse Funktion, habe ich auch die Chance innerhalb oder aufgrund der Partei-Mitgliedschaft irgendwo einen Posten zu kriegen, der mich gut versorgt."
    Vielleicht sind es auch enttäuschte persönliche Hoffnungen, die die Menschen zur AfD laufen lassen. Gerade in NRW, gerade im Ruhrgebiet, wo über Jahrzehnte eben doch viel über ein SPD-Parteiticket lief. In Kurzejas AfD-Gruppierung im benachbarten Gladbeck tummeln sich jedenfalls viele Ex-Genossen:"Die Hälfte mindestens, die Hälfte der Mitglieder in meiner Stadt sind, zumindest von der Veranlagung her, SPD-orientiert gewesen."
    Angesprochen auf die anstehende Landtagswahl, fangen Kurzejas Augen dann an zu leuchten: "Die Chance ist in keinem anderen Bundesland so groß wie hier im Ruhrgebiet. Und wenn wir das Ruhrgebiet mit Intelligenz und Überzeugung packen, dann haben wir die SPD erledigt. Die SPD ist dann weg."
    Und das klingt alles eher nach verschmähter Liebe, nach Rache – anstatt nach einem Konzept für die Region.
    Wahlkampf gegen die ehemaligen Genossen
    Zurück in Essen-Karnap, zurück im Klubhaus: Auch der SPD-Ortsverbandsvorsitzende Stephan Duda kennt natürlich all die Herausforderungen, all die Geschichten rund um das Ruhrgebiet, den Strukturwandel und auch die Probleme der SPD. Er wird nun Wahlkampf machen, gegen seinen ehemaligen Genossen Guido Reil von der AfD:
    "Ich kann das strikt trennen. Ob das Arbeit ist, ob das Politik ist oder ob das Privates ist. Und da muss man ganz einfach sagen: Ja, wenn er an seinem Wahlkampfstand steht, stehe ich an meinem."
    Doch mehr als seine Arbeit vor Ort, kann Duda auch nicht anbieten – vielleicht noch einen Appell: "Ich kann da nur jeden Wähler drum bitten, nicht emotional zu handeln. Man muss sich nicht das ganze Partei-Programm von allen Parteien durchlesen, aber bitte die Stichpunkte und da wählen, wo letztendlich jeder meint sich wiederzufinden."
    Statt wie einst blind die SPD, solle doch künftig lieber auf Grundlage der Programme gewählt werden. Klingt vernünftig. Doch der Realitätscheck folgt: Im Mai 2017.