"In Sachsen-Anhalt ist es eher die Stimmung", meinte der Politikwissenschaftler. Die sei dort eher durch Verdruss und Unsicherheit geprägt.
Von den derzeitigen Umfragewerten der AfD auf die Bundestagswahl 2017 abzuleiten, hält Neugebauer für verfrüht: "Wenn das Flüchtlingsthema an Brisanz und Bedeutung verliert, dann verliert die AfD einen wesentlichen Faktor, mit dem die mobilisiert. Es ist fraglich, ob die gegenwärtig günstigen Bedingungen, die die AfD befördern, auch noch 2017 existieren werden."
Der Parteienforscher geht davon aus, dass CDU und SPD langfristig an Stimmen verlieren werden und damit dauerhaft kleiner werden. Neugebauer erwartet aber nicht, dass die möglichen Verluste bei den morgigen Landtagswahlen zur Gefahr für die Parteivorsitzenden werden. Er sieht derzeit weder zu SPD-Chef Sigmar Gabriel noch zur CDU-Vorsitzenden Angela Merkel eine wirkliche Alternative. Was die Chancen für den Machterhalt angehe, sei Merkel "immer noch eine Klasse besser als die anderen".
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Einschätzungen aus Berlin vor den Landtagswahlen morgen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt waren das von Dirk-Oliver Heckmann aus Berlin. Und wir wollen die Ausgangslage noch weiter sortieren und diskutieren. Zugeschaltet ist uns der Parteienforscher Gero Neugebauer, früher am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Guten Tag!
Gero Neugebauer: Guten Tag, Frau Schulz!
Schulz: Herr Neugebauer, einer der wenigen Punkte, der als mehr oder weniger gesetzt gilt, ist, dass die AfD wohl in drei weitere Landtage einziehen wird. In Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg wird sie in den Projektionen sogar bei mehr als zehn Prozent, also bei einem zweistelligen Ergebnis gesehen, in Sachsen-Anhalt ja sogar nahe der 20 Prozent. Warum ist die Partei so erfolgreich?
Neugebauer: In Baden-Württemberg ist die AfD schon immer relativ stark gewesen. Sie hatte bei der Bundestagswahl ein überdurchschnittliches Ergebnis, war bei der Europawahl 2014 der stärkste westdeutsche Landesverband, und sie ist ein Fluchtpunkt für viele enttäuschte CDU-Anhänger, die in der AfD in Baden-Württemberg so etwas sehen wie eine Art Ersatz-CDU insbesondere für Konservative, Nationalkonservative, aber auch Wirtschaftsliberale. Sachsen-Anhalt ist eher ein Parteiensystem, das ziemlich labil ist. Sachsen-Anhalt hat immer schwache Wahlbeteiligung, das heißt, da ist dann auch die Beteiligung oder besser Zustimmung zu den demokratischen Institutionen nicht so groß. Und Sachsen-Anhalt hat, wie wir 1998 mit der DVU gesehen haben, immer eine Landschaft, die gut ist, dass auf einmal eine rechte Partei hochkommt, sich kurzfristig etabliert, dann auch wieder abstürzt. Da ist es dann eher die Stimmung, und die ist in Sachsen-Anhalt stark durch Protest und durch Verdruss und durch Unsicherheit geprägt, und das ist eine Situation, die ist in Baden-Württemberg nicht so sehr, da ist deshalb auch nicht so ein hohes Ergebnis wie in Sachsen-Anhalt zu erwarten.
AfD: "Fraglich, ob die günstigen Bedingungen 2017 noch existieren werden"
Schulz: Trauen Sie sich schon eine Prognose zu, wie das für die AfD weiter laufen wird mit Perspektive Bundestagswahl 2017?
Neugebauer: Die AfD-Anhänger sind mehrheitlich der Auffassung, dass man die Grenze schließen müsste und die Flüchtlinge raus kriegt. Das heißt, wenn dieses Flüchtlingsthema an Brisanz und Bedeutung verliert und mehr und mehr sozusagen zu einem Thema wird, das die Behörden und die Bürokraten und alle anderen bewältigen, dann verliert sie einen wesentlichen Faktor, mit dem sie mobilisiert. Ein anderer Punkt ist die Euro-Sache oder Europa überhaupt. Da kann sie noch weiter mobilisieren, aber sie wird nicht mehr diese Stärke haben, und insofern ist fraglich, ob die gegenwärtig günstigen Bedingungen, die die AfD befördern, auch noch 2017 existieren werden.
Schulz: Wenn wir nach Berlin schauen, auf die sogenannten etablierten Parteien, auf die Parteien, die im Bundestag vertreten sind - für wen können die Wahlen da richtig gefährlich werden?
Neugebauer: Perspektivisch gesehen erst einmal für die Sozialdemokratie. Wenn schwache Ergebnisse für die SPD signalisieren, dass sie zunehmend die Fähigkeit verliert, Regierungen anzuführen, dann ist das schon etwas, was sie zum nachdenken veranlassen müsste. Bei der Union ist es eher das Nachdenken darüber - besser gesagt, sie sollte mal anfangen, darüber nachzudenken, warum es ihr schon lange nicht mehr gelingt, den rechten Rand in der Gesellschaft zu integrieren. Beide Parteien werden kleiner. Die Union wird sich im 30- und die SPD im 20-Prozent-Getto einigeln können, müssen und sehen, ob sie dann noch mal diese guten Ergebnisse über 40 erreicht, was ich eigentlich ausschließe. Und man wird natürlich dann sehen, ob es irgendwelche Auswirkungen gibt auf die Themen, die in der Bundespolitik diskutiert werden, auf die Positionen, die dazu eingenommen werden, und ob sich nicht insgesamt in Deutschland ein Parteiensystem etabliert, dass sich mehr und mehr anderen europäischen Ländern annähert, also auch eine Partei am rechten Rand und nicht nur eine große konservative Partei.
"Die AfD wird nicht als koalitionsfähig erachtet"
Schulz: Ein Parteiensystem mit auch noch mehr dann sozusagen etablierten Parteien.
Neugebauer: Ja, fünf bis sechs Parteien in den Landtagen oder vielleicht auch im Bundestag. Das macht dann die Regierungsbildung wesentlich schwerer, das ist ja auch schon in den Beiträgen angeklungen. Und wir werden dann auch zu neuen Koalitionen kommen. Es wird auch - in der gegenwärtigen Situation ist die FDP in einer Klemme. Herr Lindner will ja nicht rot-grün eingehen, weil er dann im nächsten Jahr in Nordrhein-Westfalen Schwierigkeiten hat, gegen diese Landesregierung anzukämpfen. Aber diese taktischen Spielchen werden nicht fruchten, weil die FDP auf der Landesebene immer ein Interesse hat, in Regierung zu kommen, um halt ihre Ressourcen zu stärken für die Bundestagswahl. Und die anderen Parteien werden zusehen, dass sie mit der AfD im Parlament so umgehen, dass sie sagen können, liebe Wähler, die bringen ja nicht mehr das, was sie tun, aber ich denke, da sind auch zu viele Erwartungen an die AfD. Teile von ihr sind wahrscheinlich eher in der Lage, wie die frühere NPD, im Parlament einfach polemische und etwas unangenehme Auseinandersetzungen fortzusetzen, anstatt Sacharbeit zu leisten.
Schulz: Das heißt, die Möglichkeit, dass sich die AfD als Partei sozusagen im demokratischen Spektrum, aber da eben am rechten Rand etabliert und als solche auch koalitionsfähig wird, die sehen Sie gar nicht?
Neugebauer: Den ersten Teil würde ich nicht ablehnen. Die kann sich in der Tat als Partei etablieren. Aber den zweiten Teil, dass sie als koalitionsfähig erachtet wird, für diese AfD sehe ich das nicht. Das galt möglicherweise für die alte AfD unter Lucke, aber die gegenwärtige hat zurzeit keine Akzeptanz, und ich denke auch, das wird so lange nicht laufen, solange in dieser Partei eben Kräfte vorhanden sind, die die demokratische politische Kultur nicht akzeptieren beispielsweise, die sich nicht eindeutig von Pegida distanzieren, also auch Gewalt in der politischen Auseinandersetzung akzeptieren, und die mit ihrem Themenspektrum eben nicht dazu beitragen, dass bestimmte Grundprinzipien in der Demokratie auch in der Bundesrepublik, auch in der Verfassung - Würde des Menschen, Schutz des Lebens durch staatliche Organe - einwandfrei akzeptieren. Da sehe ich wirklich noch Probleme, aber ansonsten, es gibt genügend Menschen, die immer Protest äußern, es gibt genügend Menschen, die verunsichert sind über politische Entwicklungen, die sie nicht einschätzen können, wo sie sich nicht informiert fühlen, und auch, wo sie glauben, sie müssten eigentlich in den alten Verhaltensweisen verharren können. Und die sind durchaus Mobilisierungspotenzial für die AfD.
SPD: "Wer soll Sigmar Gabriel ersetzen?"
Schulz: Auf die SPD würde ich gern noch schauen. In Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg könnte die Partei ja weit unterhalb der 20-Prozent-Marke landen - ist das überhaupt noch eine Volkspartei?
Neugebauer: Von daher gesehen nicht. Wenn man die Kriterien Volkspartei nimmt und sagt, sie kann Regierungen führen, sie kann für alle relevanten Gruppen in der Gesellschaft Programm anbieten, und sie wird auch in ausreichendem Maß gewählt, dann muss man das bei diesen Ergebnissen vermeinen. Aber der Begriff Volkspartei ist ja eher immer auf der Bundesebene, und er ist ja sehr stark eigentlich auch sozusagen zur Selbstlegitimation der Parteien geeignet und spricht die Wirklichkeit gar nicht mehr an. Es ist besser, von größeren, großen, mittelgroßen und kleineren Parteien zu reden. Dann erfasst man das, glaube ich, genauer.
Schulz: Welches Szenario würden Sie für die SPD für so ernst halten, dass die Schlussfolgerung wäre oder sein müsste, Sigmar Gabriel kann nicht Chef dieser Partei bleiben?
Neugebauer: Keins. Wer soll Sigmar Gabriel ersetzen? Es ist unhöflich, mit einer Frage, mit einer Gegenfrage zu antworten, ich weiß, aber ich gucke mir die SPD an und sehe niemanden, der in der Lage wäre, Sigmar Gabriel gegenwärtig zu ersetzen. Und Sigmar Gabriel hat auch deutlich genug erklärt, dass er die Partei in den Wahlkampf 2017 führen will. Er hat jetzt mit dem Solidaritätspakt auch ein politisches Programm vorgelegt, das erkennen lässt, dass die Sozialdemokratie anfängt, sich auf ihre Werte Solidarität und Gleichheit zu besinnen, dass sie wieder Bevölkerungsgruppen in den Blick nimmt, die ihr verloren gegangen sind oder die ihr als Wählerinnen und Wählern verloren gegangen sind. Und ob sie dann es schafft, die auch so zu mobilisieren, dass sie sagen, wir sehen in der Sozialdemokratie die Vertreterin unserer Interessen, das bleibt abzuwarten. Aber es ist niemand da, und insofern, gerade, da die SPD auch schon so lange auf dieses Ergebnis vorbereitet wird, halte ich die Wirkung eines möglichen Schocks für relativ gering. Es wäre allerdings schon tragisch, wenn sie den Posten in Rheinland-Pfalz verlieren würde. Nur, da sind auch 25 Jahre lang SPD-Ministerpräsidentinnen und -Ministerpräsidenten gewesen, und es gibt Abnutzungserscheinungen, und der Wechsel ist ja in der Demokratie ebenso wie das Unwägbare immer etwas, mit dem man rechnen muss.
CDU: "Ich sehe niemanden, der es mit Frau Merkel aufnehmen kann"
Schulz: Ja, Herr Neugebauer, nur der Vollständigkeit halber sage ich dazu, dass zumindest ja Namen gehandelt werden, Schwesig, Maas, vielleicht auch eine Andrea Nahles. Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig, jetzt noch mal auf die CDU zu schauen und auch da auf die Frage, wie eng es werden könnte sozusagen bei welcher Ausgangslage für die Kanzlerin, die ja bis vor ganz kurzer Zeit, bis vor dem unmittelbaren Wahlkampfendspurt ganz erheblichen Druck aus der CSU bekommen hat.
Neugebauer: Wenn es der CDU nicht gelingt, einen weiteren Ministerpräsidentenposten zu gewinnen, dann dürfte es für Frau Merkel schwierig sein, eine Diskussion in der Partei zu stoppen, die darauf hinauslaufen würde, zu fragen, ob Frau Merkel noch die Kandidatin für 2017 ist, die der CDU den Erhalt der Macht verspricht.
Schulz: Wer könnte den Job denn, umgedreht gefragt, bei der CDU machen? Wen sehen Sie denn da?
Neugebauer: Es gibt welche, die sich dafür für fähig halten. Bei A angefangen vielleicht bei Herrn Altmaier, und dann über Frau von der Leyen bis, weiß ich nicht, Herrn Strobl möglicherweise aus Baden-Württemberg, der sich nicht so verbrannt hat wie Herr Wolf. Aber auch dort sehe ich niemanden, der wirklich ernsthaft sagen kann, ich kann es mit Frau Merkel aufnehmen, ich kann garantieren, dass die Macht erhalten bleibt. Die Gesellschaft differenziert sich immer weiter, die Wähler wandern immer mehr hin und her zwischen Parteien. Frau Merkel hat hohe persönliche Zustimmung, und wenn eine Person auftaucht, die nicht so bekannt ist und nicht ausreichend vorbereitet werden kann, dann kann die CDU auch nicht darauf setzen, dass der Kandidatenfaktor für Wahlentscheidungen wirklich wichtig ist. Und insofern: Frau Merkel ist immer noch eine Klasse besser als die anderen.
Schulz: Der Parteienforscher Gero Neugebauer heute hier in den "Informationen am Mittag" im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank Ihnen!
Neugebauer: Gern geschehen, Frau Schulz!
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