"Freiheit und Toleranz haben da ihre Grenzen, wo sie infrage gestellt werden", so Thierse. Auch das Grundgesetz kenne Grenzen. Es gebe in Deutschland einen antiautoritären Grundkonsens, der aus den Trümmern eines Verbrecherstaates entstanden sei. Die AfD aber wolle mit Mitteln unserer Demokratie diese verändern und autoritär und nationalistisch gestalten.
Für Thierse ist die AfD "unbestreitbar" migranten- und islamfeindlich. Doch Menschenwürde gelte in Deutschland für alle, nicht nur für Deutsche. "Toleranz und Pluralismus sind wichtig und wesentlich."
Als Demokrat sei man in der Pflicht, die Partei "zu stellen" und zu zeigen, welche Positionen sie habe.
Das komplette Interview zum Nachlesen:
Ann-Kathrin Büüsker: Um die 50.000 Menschen werden am Wochenende in Köln erwartet. Parteien, Kirchenverbände, Gewerkschaften, private Initiativen, sie alle haben zum Protest geladen gegen den Bundesparteitag der AfD, der an diesem Wochenende im Kölner Maritim-Hotel stattfindet. Die meisten der Demonstrantinnen und Demonstranten werden friedlich bleiben, doch die Polizei rechnet auch mit gewaltbereiten Personen. Höchste Alarmstufe also. Ist dieser Protest der richtige Weg, um einer populistischen Partei die Grenzen aufzuzeigen oder schränkt er die Freiheit einer demokratischen Partei ein?
- Darüber möchte ich mit Wolfgang Thierse sprechen, SPD-Politiker und ehemaliger Bundestagspräsident. Guten Morgen, Herr Thierse!
Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Frau Büüsker!
Büüsker: Zehntausende, die gegen die AfD demonstrieren. Ist das angemessen?
Thierse: Zunächst einmal ist das eine Frage, die nicht so leicht zu beantworten ist. Da gibt es eben eine Menge Leute, die ihr selbstverständliches Recht, zu demonstrieren, in Anspruch nehmen. Und wäre die Alternative angemessener, beschweigen, was da stattfindet, beschweigen, was da eine Partei sagt und tut. Ich glaube nicht, dass das die angemessenere Reaktion wäre.
Büüsker: Die AfD ist aber ja eine sogenannte Dagegen-Partei. Sie inszeniert sich immer wieder so, dass sie auch von außen angegriffen wird. Sie grenzt sich ab. Gibt dieser enorme Protest, der sich da formiert, dieser Partei nicht genau das, was sie braucht, um sich so zu inszenieren, als Opposition?
Thierse: Erstens: Zur Inszenierung braucht sie vor allem die Medien und etwas weniger die Demonstranten. Also sage ich, ja, mit möglichst intelligenten, wenn möglich witzigen Slogans, aber auf keinen Fall mit Gewalt, um die AfD eben nicht zu Märtyrern zu machen. Das muss die Leitlinie sein. Es geht darum, zu zeigen, dass die AfD nicht eine normale, übliche Partei im Demokratiespektrum ist, sondern dass sie eine Partei ist des autoritären Nationalismus, eine migranten- und islamfeindliche Partei, eine Partei, die die Regeln der Demokratie in Anspruch nimmt, um im Grunde diese Demokratie zu verändern, einzuschränken, eben einer Partei des autoritären Nationalismus. Das muss man zeigen. Das zeigt man nicht durch Gewalt, das zeigt man durch intelligente, witzige Slogans, Sprüche et cetera.
Büüsker: Die AfD würde wahrscheinlich Teile dessen, was Sie gerade über die Partei gesagt haben, zurückweisen. Wie weit ist es mit der Meinungsfreiheit her, wenn jetzt ein Veranstaltungsort wie das Maritim-Hotel einem Mann wie Björn Höcke ein Hausverbot erteilt. Er darf da gar nicht hinkommen. Ist das angemessen?
Thierse: Wissen Sie, die Freiheit und die Toleranz hat da ihre Grenzen, wo die Freiheit selbst infrage gestellt wird, wo Grundüberzeugungen, tragende Elemente unserer Demokratie infrage gestellt werden. Diese Demokratie wird getragen durch einen antiautoritären Konsens, sie ist entstanden aus den Trümmern der Nazi-Diktatur, eines Verbrechensstaates. Und sie wird zusammengehalten durch die gemeinsame Überzeugung, dass die Demokratie die Lebensform unserer Freiheit ist, dass sie darauf gründet, dass die Menschenwürde für alle gilt, nicht nur für Deutsche. Dass Toleranz wichtig und wesentlich ist, dass Pluralismus wichtig und wesentlich ist. Aber diese Partei, das ist doch unbestreitbar, ist ein migranten- und islamfeindliche Partei. Es ist eine Partei, die Menschen ausschließen will, eine Partei, die Demokratie reduziert auf die Herrschaft der Volksstimme und deren Interpretation ist die eigene Partei. Sie ist eine antipluralistische Partei, also eine Partei, die die Grundfesten unserer Demokratie infrage stellt. Das zu zeigen, das halte ich für notwendig und richtig.
Büüsker: Verstehe ich Sie dann insgesamt richtig, dass es, um den Pluralismus zu schützen, wichtig ist, auch Grenzen festzulegen und zu sagen, das dürft ihr nicht sagen?
"Die Toleranz hat Grenzen"
Thierse: Ohne Zweifel. Die Toleranz hat Grenzen. Auch unser Grundgesetz kennt Grenzen. Antisemitismus, Menschenfeindlichkeit gehören nicht zu den Grundüberzeugungen, die unsere Demokratie tragen.
Büüsker: Ich möchte dazu die aktuelle Wochenzeitung "Die Zeit" zitieren. Da kommt ein junger Front-National-Anhänger aus Frankreich zu Wort, der sich darüber ärgert, dass Linke an seiner Universität eine Parteiveranstaltung des Front National blockiert haben. Und er sagt, ich zitiere: "An einer Hochschule des Pluralismus und der Ideen zensieren diese Leute die Debatte und erdreisten sich auch noch, das im Namen der Demokratie zu tun." Und das, was ich am interessantesten finde an diesem Zitat, er sagt dann weiter, "In Wahrheit haben sie Angst, die Auseinandersetzung zu verlieren." Wie beurteilen Sie diese Aussage.
Thierse: Ach wissen Sie, jetzt haben Sie ein französisches Beispiel genommen. Ich will noch einmal daran erinnern, dass auch die Demokratie ihre Grenzen hat. Wir erleben doch in Europa – AfD ist ein Teil davon – Bewegungen, die die Demokratie selbst infrage stellen, die im Grunde auf demokratischem Wege die Demokratie einschränken oder aufheben wollen. Muss die Demokratie sich das gefallen? Und Sie haben doch gerade in einem Gespräch mit Herrn Hampel erlebt, der in einem Satz sagen kann. Die Position der AfD ist klar - sie hat eine riesige Bandbreite. Dieses Spiel, jede klare Aussage zu vernebeln – wenn man die AfD haftbar machen will, was ist eure Position in Sachen Antisemitismus, in Sachen Rassismus, in Sachen Ausländerfeindlichkeit, wird sofort abgewehrt. Aber jeder darf trotzdem ausländerfeindliche, rassistische, auch antisemitische Äußerungen von sich geben, das wird immer abgewiegelt. Wir haben als Demokraten die Pflicht, auch eine antidemokratische, autoritäre Partei zu stellen und zu sagen, das ist eure Position – wir wollen genau wissen, was ihr tut und was ihr sagt. Und das ist übrigens auch eine Aufgabe der Medien, gelegentlich hinzugucken, was die AfD in den Landtagen sagt und tut.
Büüsker: Also brauchen wir, wenn ich Sie richtig verstehe, noch viel mehr viel kritischere Auseinandersetzung mit den Sachthemen der AfD?
Thierse: Genau das ist notwendig. Deswegen sage ich noch einmal: Demonstrieren ist ein selbstverständliches Recht. Aber es geht darum, eine latent antidemokratische Partei kenntlich zu machen in ihren unser Zusammenleben gefährdenden Positionen.
Büüsker: Aber statt einer politischen Auseinandersetzung mit dieser Partei erleben wir ja gerade in Deutschland so eine Art Verschiebung des Diskurses nach rechts. Konservative Parteien besinnen sich wieder auf ihre konservativen Werte. Wir diskutieren über solche Dinge wie das Burka-Verbot oder die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft. Adaptieren da die anderen Parteien den Populismus der AfD?
"Forderung nach der Abschaffung des Doppelpasses ist ein Beispiel für Rechtspopulismus"
Thierse: Wenn es so ist, haben Sie das genau richtig beschrieben. Die Forderung nach der Abschaffung des Doppelpasses ist ein Beispiel für Rechtspopulismus, weil sie auch die falschen träfe – viele Russlanddeutsche, viele Deutschpolen haben einen Doppelpass, und auch Deutschtürken haben schließlich Nein zu Erdogan gesagt. Es eine suggestiv einfache Antwort, die von den wirklichen Problemen und Fragen ablenkt, nämlich der Frage, was ist schief gelaufen, an der politischen, an der demokratischen Integration der Türkischstämmigen. Und was könnten, was können, was müssen wir tun gegen eine autoritäre Ideologie, die mit gewissem Erfolg auf demokratischem Wege die Demokratie abschaffen, jedenfalls einschränken will. Das sind die Herausforderungen, denen wir zu begegnen haben. Da hilft die Debatte über die Abschaffung des Doppelpasses überhaupt nicht. Sie lenkt davon ab, und sie ist insofern selbst rechtspopulistisch.
Büüsker: Nun haben wir diese Debatten aber ja inzwischen in Deutschland. Der politische Diskurs ist auf diesem Level angelangt. Was mich dann abschließend zu der Frage bringt, wie geht die Politik insgesamt gut mit der AfD um? Welche Wege gibt es?
Thierse: Sehr klar Position beziehen, übrigens auch die Sorgen und Ängste von Menschen ernst nehmen. Es hilft nichts, Probleme, auf die Menschen mit Unsicherheit, mit Ärger, mit Wut reagieren, kleinzureden und nicht wahrzunehmen. Also, Integration von so vielen zu uns Gekommenen ist eine riesige, schwierige Herausforderung. Darüber müssen wir reden. Da passiert viel Gelungenes und viel Gutes. Aber wir wissen, dass ist eine große Herausforderung, die uns weiter beschäftigt. Die Herausforderung des internationalen Terrorismus ist ein solch ernsthaftes Problem. Über all das müssen wir so ehrlich wie möglich reden, aber ohne Hysterie, ohne plötzlich selbst rechtspopulistisch zu agieren, sondern zu sagen, das ist das Problem, das ist die Herausforderung, das ist das Risiko, das ist die Chance. Über all diese Facetten haben wir miteinander zu reden. Nur so kann man Verunsicherungen, Ängste, Wut und Empörung abbauen.
Büüsker: Ehrlich über Dinge reden – halten Sie das in Wahlkampfzeiten für realistisch?
Thierse: Ja. Ich halte es jedenfalls für notwendig, auch wenn Wahlkampfzeiten Zeiten von Verdichtung, von Verkürzung, von Pointierungen sind, müssen sie nicht Zeichen der Unehrlichkeit und der Lüge sein. Wahrlich nicht.
Büüsker: Sagt Wolfgang Thierse, ehemaliger Bundestagspräsident, heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Thierse!
Thierse: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.