Europawahl 2024
Greifen Rechtsextreme nach der Macht in Europa?

Die AfD befindet sich im Umfragehoch und will im nächsten Europaparlament Macht ausüben. Auch in anderen EU-Staaten sind Rechtspopulisten und Rechtsextreme erfolgreich. Was bedeutet das für die Europawahl 2024?

Von Peter Kapern |
    Ein Mann mit blauem Anzug sitzt vor einem großen Bildschirm und gestikuliert. Es ist der italienische Politiker Matteo Salvini. Im Hintergrund auf dem Bildschirm ist eine blonde Frau, die französische Politikerin Marine Le Pen.
    Eine Gefahr für eine demokratische EU: Matteo Salvini von der rassistischen Lega aus Italien und Marine Le Pen (im Hintergrund) von der Rassemblement National aus Frankreich (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Mauro Scrobogna)
    „An uns kommt im nächsten Europaparlament niemand mehr vorbei!“, hieß es vollmundig beim Europa-Parteitag der AfD in Magdeburg. In der Tat schwimmt die Partei auf einer Erfolgswelle. Auch in anderen EU-Mitgliedstaaten fahren rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien Erfolge ein. In Schweden und Finnland sind sie Juniorpartner in der Regierung mit Christdemokraten, in Italien stellen die postfaschistischen Fratelli d'Italia mit Giorgia Meloni an der Spitze sogar die Regierungschefin. In den Niederlanden gingen die Rechtspopulisten um Geert Wilders als stärkste Kraft aus den Parlamentswahlen hervor.
    Können Rechtspopulisten und Rechtsextreme nach der kommenden Europawahl im Juni 2024 zur führenden politischen Kraft in Europa werden?

    Inhaltsverzeichnis

    Wie stark ist der rechte Flügel des Europaparlaments?

    Derzeit gibt es im Europaparlament (EP) zwei Fraktionen, die dem rechten Spektrum zuzuordnen sind: die EKR-Fraktion und die ID-Fraktion. Die EKR (Europäische Konservative und Reformer) stellt 66 Abgeordnete: Rechtskonservative, Nationalisten und Rechtspopulisten, die 20 verschiedenen Parteien aus 16 Mitgliedstaaten der Europäischen Union angehören.
    Das klare Kraftzentrum dieser Fraktion sind die 24 Abgeordneten der Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit), die in Polen die Regierung stellt. Mit neun Abgeordneten sind die Fratelli d'Italia die zweitgrößte nationale Delegation.
    Die zweite Fraktion des rechten Spektrums ist die ID (Identität und Demokratie). Sie umfasst derzeit 62 rechtspopulistische und rechtsextreme Abgeordnete aus acht Mitgliedstaaten. Die stärkste nationale Delegation stellen die 25 Abgeordneten der italienischen Lega, gefolgt von Marine Le Pens Rassemblement National mit 18 Abgeordneten. Auch die AfD (Alternative für Deutschland) mit ihren neun Europaabgeordneten gehört der ID-Fraktion an, ebenso wie die FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) mit neun Abgeordneten.
    Um das rechte Spektrum des Europaparlaments komplett zu erfassen, muss die ungarische Fidesz-Partei dazugezählt werden. Ihre elf Abgeordneten waren zu Beginn der Legislaturperiode noch Teil der Fraktion der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP). Im Dauerstreit um Victor Orbáns Zerstörung des Rechtsstaats in Ungarn kamen sie 2021 dem Fraktionsausschluss durch einen Austritt zuvor. Einer anderen Fraktion haben sie sich aber nicht angeschlossen.
    139 der 705 Europaabgeordneten sind damit dem Lager der Rechtspopulisten und Rechtsextremisten zuzuordnen, es ist also weit von einer Gestaltungsmacht im Europaparlament entfernt.

    Warum gibt es zwei rechte Fraktionen im Europaparlament?

    Es gibt viele inhaltliche Gründe, warum die rechten Parteien nicht unter ein Dach passen. Zum Beispiel unterscheidet sie das Maß ihrer Radikalität.
    In der rechtsextremen ID-Fraktion sind überwiegend Politikerinnen und Politiker vertreten, die für ihr Mitgliedsland den Austritt aus dem Euro oder gleich aus der Europäischen Union verfochten haben. Erst als etwa Matteo Salvini (Lega) und Marine Le Pen merkten, dass mit diesen radikalen Positionen keine Wahlen zu gewinnen waren, haben sie in diesem Punkt abgerüstet.

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    Die AfD hat bei ihrem Parteitag für die Europawahl in Magdeburg eine Gratwanderung in dieser Sache absolviert. Um gemäßigte Wähler nicht abzuschrecken, hat sie den Umbau der EU als Ziel vorgegeben. Den Austritt hat die Partei als Ziel aber beibehalten, falls sich – was absehbar ist – dieser Umbau der EU nicht bewerkstelligen lässt.
    Darüber hinaus sind aus der ID-Fraktion häufiger rassistische, homophobe, islamophobe und chauvinistische Äußerungen zu vernehmen als aus der rechtspopulistischen EKR-Fraktion. Das heißt indes nicht, dass es dort solche Positionen nicht gibt. Beispielsweise sind Islamophobie und Homophobie fester Bestandteil der Regierungspolitik der polnischen PiS-Partei.
    Unvereinbar sind zudem die Positionen zu Russland und dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die AfD, insgesamt die radikalste der in der ID-Fraktion zusammengeschlossenen Parteien, steht in Vasallentreue zu Wladimir Putin; auch die FPÖ und der Rassemblement National haben engste Beziehungen nach Moskau. Die PiS-Partei aus der EKR-Fraktion gehört hingegen seit jeher zu den härtesten Gegnern jeder Anbiederung an Moskau.

    Streit um Migrationspolitik

    Auch in der Migrationspolitik gibt es unüberwindbare Differenzen. Die Rechtspopulisten aus den südlichen EU-Staaten verlangen vom Rest der Mitglieder, Flüchtlinge von den Mittelmeerstaaten zu übernehmen. PiS, Fidesz und AfD bekämpfen nichts so sehr wie eine europaweite Verteilung von Migranten.
    Schließlich führen auch nationale Gründe zur Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Fraktionen. Die Fratelli d'Italia und die Lega etwa konkurrieren in Italien um dieselben Wähler, können daher in Straßburg schlecht derselben Fraktion angehören.
    Ähnliches gilt für den Vlaams Belang und die N-VA (Nieuw-Vlaamse Alliantie), zwei flämische Parteien. Der Vlaams Belang ist wie die AfD rechtsextrem, die N-VA vertritt gemäßigte nationalistische Positionen.

    Könnten die kommenden Europawahlen zu einem Rechtsrutsch im Europäischen Parlament führen?

    Hier kommt es auf die Definition von „Rechtsrutsch“ an. Bislang gibt es Prognosen zum Wahlausgang, die davon ausgehen, dass sowohl EKR (Europäische Konservative und Reformer) als auch ID (Identität und Demokratie) Sitze hinzugewinnen werden.
    Solche Prognosen sind nicht einfach zu erstellen, denn in den 27 Mitgliedstaaten tauchen immer wieder neue rechtsextreme oder rechtspopulistische Parteien auf. Von diesen ist nicht bekannt, ob sich deren Europaabgeordnete überhaupt einer Fraktion anschließen wollen und wenn ja, welcher.
    Trotz aller Unsicherheiten gehen Experten davon aus, dass ID und EKR jeweils zwischen 80 und 90 Sitze erreichen können - wenn es für sie optimal läuft. Damit würden sie im nächsten Europaparlament voraussichtlich die viert- und die fünftstärkste Fraktion stellen.
    Jüngste Prognosen halten es sogar für möglich, dass die EKR-Fraktion im nächsten Europaparlament auf den dritten Platz vor den Liberalen landet. Gemeinsam kämen die beiden Rechtsfraktionen auf maximal 180 von 705 Abgeordneten. Das ist an sich schon besorgniserregend, aber immer noch weit entfernt von jeder eigenen Gestaltungsmacht.

    Könnten sich die beiden rechten Fraktionen verbünden und stärkste Fraktion im Europaparlament werden?

    Wie oben beschrieben gibt es gravierende inhaltliche Unterschiede zwischen den Fraktionen und ihren Mitgliedsparteien. So gravierend, dass deren Überwindung ausgeschlossen scheint. Einer Internationale der Nationalisten sind Grenzen gesetzt.
    Allerdings ist die Fraktionsbildung im nächsten Europaparlament noch schwieriger zu prognostizieren als der Ausgang der Wahlen. In den ersten Tagen nach einer Wahl gibt es fieberhafte Verhandlungen zwischen den Parteien, welche Abgeordnete sich welcher Fraktion anschließen wollen.
    Festzuhalten ist, dass vor allem Viktor Orbán immer wieder Anläufe unternimmt, um die EKR und die ID - unter seiner Führung - zusammenzuführen. Regelmäßig gibt es Treffen der Spitzen der rechten Parteien, bei denen die Einheit beschworen wird, während gleichzeitig die Differenzen offen zutage treten.

    Sind im nächsten Europaparlament noch Mehrheiten ohne Rechtspopulisten und Rechtsextreme möglich?

    Im Europaparlament gibt es keine festen Koalitionsabsprachen, sondern lediglich unverbindliche Absprachen im Rahmen einer informellen Koalition der Parteien der Mitte – also der EVP (Christdemokraten), der Renew-Fraktion (Liberale) und der S&D (Sozialdemokraten). Diese drei Parteien stützen seit 2019 die Kommission von Ursula von der Leyen im Parlament. Allerdings gibt es dort keinen Fraktionszwang, immer wieder entscheiden Abgeordnete dieser Fraktionen anders als die Mehrheit der Fraktion.
    Das heißt: Damit eine solche informelle Koalition auch sicher über die Dauer einer Legislaturperiode trägt, braucht sie deutlich mehr als nur die absolute Mehrheit der Stimmen.
    Jede der drei Fraktionen der „Von-der-Leyen-Koalition“ wird nach der nächsten Wahl – trotz prognostizierter leichter Verluste – wahrscheinlich stärker sein als die rechten Fraktionen. Doch werden sie den derzeitigen Berechnungen zufolge gemeinsam "nur" auf rund 390 bis 400 von 705 Abgeordneten kommen. Das ist eine deutliche Mehrheit.
    Es gibt aber auch Befürchtungen, selbst diese Zahl könne möglicherweise nicht über die gesamte Legislaturperiode tragen. Das würde bedeuten, die informelle Koalition müsste sich gegebenenfalls zusätzliche Stimmen bei anderen Fraktionen besorgen.

    Gibt es im Europaparlament eine Brandmauer gegen rechts?

    Die Frage, ob eine Koalition der Mitte in der nächsten Legislaturperiode die Unterstützung aus einer anderen Fraktion benötigt, hat in letzter Zeit zum Streit um die Brandmauer geführt. Gibt es sie? Beabsichtigt jemand, sie einzureißen?
    Fakt ist: Manfred Weber (CSU), Chef der EVP-Fraktion und Vorsitzender der EVP-Parteienfamilie, hat in den vergangenen Monaten enge Verbindungen zu Giorgia Meloni und den Fratelli d'Italia geknüpft. Das geschah gegen den erklärten Willen von Friedrich Merz und Markus Söder, den Vorsitzenden von CDU und CSU, die sich ihrerseits bemühen, die Brandmauer gegen die AfD aufrechtzuerhalten.
    Im Europaparlament muss sich Weber nun den Vorwurf gefallen lassen, im nächsten Parlament eine Mehrheit rechts der Mitte schmieden zu wollen, etwa eine informelle Koalition von EVP, Renew und EKR. Das wäre das Ende jeder Brandmauer.

    Wer stellt Vorsitz der EU-Kommission?

    Allerdings spricht vieles gegen diese These. Eine Zusammenarbeit von EVP und PiS, die den polnischen Rechtsstaat demontiert hat, ist undenkbar. Ebenso eine Kooperation der französischen Renew-Abgeordneten mit der PiS.
    Hinter Webers Werben um Meloni scheinen eher andere Motive zu stehen. Zum einen der Versuch, aus dem Lager der EKR möglichst viele und große Abgeordnetenblöcke herauszubrechen und sie für das Mittelager zu gewinnen. Damit könnte die erforderliche „satte Mehrheit“ dieser informellen Koalition auch in die nächste Legislaturperiode gerettet werden.
    Außerdem könnte Weber so ein weiteres Problem lösen. Den Prognosen zufolge ist nämlich noch nicht ausgemacht, dass die EVP auch im nächsten Europaparlament die stärkste Fraktion stellt. Die Sozialdemokraten sind der EVP dicht auf den Fersen. Nur wenn die EVP auf den ersten Platz landet, kann sie auch den Anspruch auf den wichtigsten Posten in der EU erheben: den der Kommissionspräsidentin.
    Rechnerisch wäre es auch möglich, die bisherige informelle Koalition mit den Stimmen der Grünen im Europaparlament zu stärken. Allerdings sind zahlreiche Abgeordnete der EVP mittlerweile auf einen klimaschutzkritischen Kurs eingeschwenkt, sodass ein Werben um die Grünen in der christdemokratischen Fraktion nicht zu vermitteln wäre.