Zar Pari: "Bitte trink deinen Tee. Du bist mein Gast, ich müsste dir Reis und Fleisch anbieten, aber Tee ist alles, was ich habe", sagt Zar Pari. Gastfreundschaft wird in Afghanistan auch in der größten Not großgeschrieben. Großmutter Zar Pari ist mit ihrer 25-köpfigen Familie aus der umkämpften Provinz Helmand nach Kabul geflohen. Zurück blieben das alte Leben, Felder und Tiere.
Zar Pari stammt aus dem Distrikt Nad Ali, in dem sich Taliban, Soldaten und bewaffnete Milizen schwere Kämpfe liefern. Vor ein paar Monaten bohrte sich ein Geschoss durch die Lehmwand ihres Gehöfts und tötete einen ihrer Söhne.
"Keiner hat uns ein Paradies geschaffen. Nicht die Regierung, nicht die Taliban, nicht die Amerikaner, wir wollen nur Frieden", klagt Zar Pari. Ihre Großfamilie flüchtete nach Kabul – trotz der Anschläge, die es hier regelmäßig gibt. Ein anderer sicherer Ort fiel den Bauern aus Helmand nicht ein.
Kabul ist voller Binnenflüchtlinge
Afghanistans Hauptstadt ist durchzogen von erbärmlichen Lagern für Binnenflüchtlinge. Die meisten ballen sich am Stadtrand. Derzeit irren rund eine Million Afghanen als Flüchtlinge im eigenen Land herum. Über zwei Millionen schlagen sich in den Nachbarländern Pakistan und Iran durch. Viele sind von Abschiebung bedroht. Knapp 21.000 Afghanen haben zwischen Januar und Oktober in Deutschland Asyl beantragt.
"Die meisten von ihnen sind Flüchtlinge", sagt Afghanistans Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah. Und ergänzt:
"Die Menschen sorgen sich um ihre Sicherheit. Unsere gegenwärtige Lage ist schwierig. Viele Menschen haben kein Vertrauen in eine sichere Zukunft."
Präsident Ashraf Ghani betont vor allem die schlechte wirtschaftliche Lage.
"Die Vorstellung, das die Straßen Europas mit Gold gepflastert sind, ist anziehend. Afghanistan ist trotz der internationalen Hilfe, die seit 2002 ins Land geflossen ist, ein sehr armes Land geblieben. Die Arbeitslosigkeit ist immens, weil es nicht darum ging, Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist keine nachhaltige Wirtschaft entstanden."
Die Taliban kontrollieren die Hälfte aller afghanischen Distrikte
Der Großteil der Milliarden Dollar, die in den vergangenen 14 Jahren nach Afghanistan gingen, floss in den Krieg. Dennoch ist heute fast die Hälfte aller afghanischen Distrikte umkämpft oder in den Händen der Taliban. Der militärische, wirtschaftliche und humanitäre Rückzug des Westens hat den schwachen Staat noch schwächer gemacht. Ohne ausländische Hilfe kann sich die Regierung unter Ghani und Abdullah weder verteidigen noch finanzieren.
Mit dem Islamischen Staat ist ein neuer Akteur auf das afghanische Schlachtfeld gezogen. Viele lokale Machthaber, die als Partner des Westens zu Macht und Geld gekommen sind, halten sich private Milizen und terrorisieren die Bevölkerung. Es gilt das Recht des Stärkeren. Straßen und Städte, die heute sicher sind, können schon morgen ein Kriegsgebiet sein.
Afghanistans Zivilisten haben viele Feinde. Die Fronten sind unsichtbar. Hamidullah ist im vergangenen Jahr aus der Provinz Logar nach Kabul geflohen. Jetzt hat er sich auf den Weg nach Europa gemacht.
"Wenn ich hier rausgehe, kann jederzeit eine Bombe explodieren. Wie lange soll das noch so weitergehen? Ein Jahr? Zwei Jahre? Wann hört das auf? Unsere Wirtschaft ist schlecht. Hier sind fast alle arm. Selbst wenn wir einen Uni-Abschluss haben, kann uns die Regierung nicht mit Jobs versorgen. Eines Tages sterben wir alle. Es ist besser, es zu versuchen und auf der Reise zu sterben."
Schutzzonen werden niemanden von der Flucht abhalten
Hamidullah stammt aus einer wohlhabenden Mittelklassefamilie. Ist er ein Flüchtling? Oder ein Wirtschaftsmigrant? Richard Danziger von der Internationalen Organisation für Migration in Kabul glaubt, dass diese Debatte am Kern des Problems vorbeigeht.
"Du wirst in jeder Gruppe eine Mischung finden. Die Fluchtgründe sind eine Mischung aus der fehlenden Sicherheit und der schlechten wirtschaftlichen Lage. Das eine verstärkt das andere. Wenn ein Gebiet unsicher wird, zieht sich der Staat zurück, die Wirtschaft bricht ein, Jobs gehen verloren. Und wenn Jobs verloren gehen, haben es die kämpfenden Gruppen leichter, Nachwuchs zu rekrutieren."
Sogenannte Schutzzonen in Afghanistan werden junge Menschen wie Hamidullah nicht von der Flucht abhalten. Das könnte nur ein starker, stabiler Staat, der Sicherheit ausstrahlt und der in der Lage ist, seinen Bürgern eine Zukunftsperspektive zu vermitteln.