Die Analyse müsse um die Beobachtungen von Nichtregierungsorganisationen und Menschenrechtlern vor Ort erweitert werden, sagte er. Eine Einschätzung von Mitarbeitern der deutschen Botschaft reiche nicht aus, da diese sich nicht frei bewegen könnten. Nouripour hielt sich bis gestern in Afghanistan auf. Er hält die Sicherheitslage für dramatisch.
Die Bundesregierung stuft Teile Afghanistans aber als sicher ein. Bundeskanzleramtschef Peter Altmaier hatte im Interview der Woche erklärt, in Afghanistan gebe es Millionen von Menschen, die dort ganz normal mit ihren Familien lebten. Im Zuge einer neuerlichen Sammelabschiebung waren diese Woche 18 Asylbewerber nach Afghanistan zurückgebracht worden.
Das Interview in voller Länge:
Stephanie Rohde: Auch sehr kleine Zahlen können manchmal eine enorme politische Sprengkraft bergen. 18 Menschen waren an Bord eines Flugzeugs nach Afghanistan, alle abgelehnte Asylbewerber, die in dieser Woche von München aus nach Kabul geflogen wurden. Das war die dritte Sammelabschiebung nach Afghanistan seit Dezember des vergangenen Jahres. Die Bundesregierung will damit geltendes Recht durchsetzen. Die Opposition im Bundestag und auch Flüchtlingsorganisationen kritisieren diese Aktionen, denn aus ihrer Sicht sei Afghanistan kein sicheres Land. Omid Nouripour ist außenpolitischer Sprecher der Grünen, und er war bis gestern in Afghanistan, um sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Guten Morgen, Herr Nouripour!
Omid Nouripour: Ich grüße Sie!
Rohde: Kanzleramtsminister und Flüchtlingskoordinator Peter Altmaier hat hier im Deutschlandfunk gesagt, "es gibt Millionen Menschen in Afghanistan, die normal leben". Haben Sie einige von denen treffen können?
"Tatsache ist, dass man sich ganz schlecht frei bewegen kann"
Nouripour: Ich habe in Kabul mich kaum frei bewegen können. Das war früher ganz anders. Es gibt kaum mehr Straßen, die man erkennt. Ich versuche ja, jedes Jahr da zu sein, seit Jahren, und es wird immer dramatischer, es sind immer mehr Betonmauern vor den offiziellen Gebäuden. Es sind so viele Hescos, das sind so Behälter, gefüllt mit Steinen, damit sie Splitter und Schüsse abfangen können. Es sind so viele Hescos wie noch nie in der Stadt. Die Tatsache, dass man sich da ganz schlecht frei bewegen kann, zeigt auch, wie dramatisch das ist. Und die Logik mit den Millionen von Menschen ist wirklich bizarr. Was will eigentlich Herr Altmeyer uns damit sagen? Will er uns damit sagen, wenn irgendwo Menschen leben, dann ist es sicher? Das ist absurd.
Rohde: Aber es gibt ja viele Afghanen, die freiwillig zurückgegangen sind. Wissen Sie jetzt besser als die, wie sicher oder unsicher Afghanistan ist, weil Sie einmal da waren?
Nouripour: Es geht nicht nur um Sicherheit. Es ist keine pauschal zu beantwortende Frage. Das ist aber das Problem einer Art und Weise, wie die Bundesregierung gerade die Frage handhaben will. Es geht darum, dass es Gebiete gibt, in denen unter ganz bestimmten Umständen, unter ganz festen Bedingungen Leute vielleicht hin können. Das sind die, die auch bereit sind dann, zurückzukehren. Aber dafür muss man ganz genau wissen, welche Herkunft diese Leute haben, woher sie kommen, ob sie zum Beispiel Paschtunen sind oder Hazara sind oder Tadschiken sind, wo die Familien sind. Da wird klar, ob man die Leute rückführen kann. Darauf verzichtet die Bundesregierung aber. Sie betont doch in dem Augenblick, in dem sie einen Sammelflieger hinschickt, bei dem überhaupt nicht mehr differenziert werden kann, und bei denen auch es umso schwieriger ist, vor Ort dafür zu sorgen, dass die halbwegs gut ankommen.
Rohde: Aber es gibt ja auch Bundesländer, in denen die Grünen an der Regierung beteiligt sind, zum Beispiel Baden-Württemberg, die weiterhin abschieben. Die vertrauen dieser Sicherheitseinschätzung und der Prüfung der Bundesregierung ja offenbar.
"Die Sicherheitslage wird relativ pauschal in eine Nichtrealität verdreht"
Nouripour: Die Rechtslage ist relativ deutlich. Die Bundesländer müssen der Sicherheitseinschätzung des Bundes vertrauen, und das ist das Problem. Die Sicherheitseinschätzung des Bundes ist ausgesprochen politisch motiviert und hat mit der Sicherheitslage in Afghanistan nichts zu tun. Es gibt einfach eine grassierende Panik, weil Herren wie de Maizière, dass sie jetzt den starken Mann markieren müssen, sonst würde ihnen die AfD die Haare vom Kopf fressen. Und deshalb verdrehen sie die Sicherheitslage relativ pauschal in eine Nichtrealität. Und das müssen dann die Länder ausbaden.
Rohde: Aber die Sicherheitslage wird ja von den Experten des Auswärtigen Amts bestimmt. Haben Sie Hinweise darauf, dass die die Lage nicht im Auge haben und nicht ständig neu bewerten?
Nouripour: Als Joschka Fischer Außenminister wurde, hat er als eine seiner ersten Amtshandlungen dafür gesorgt, dass die Sicherheitslage eben nicht nur aus dem Amt kommt, nicht nur aus den dort liegenden Botschaften, die zwar eine gute Arbeit machen, aber nur ein Segment der Realität da draußen mitbekommt, gerade in einem Land wie Afghanistan, in dem die Botschaftsleute sich ja überhaupt nicht mehr draußen bewegen können. Und dass die Sicherheitseinschätzung auch ergänzt wird um NGOs und die Leute, die wirklich Praktiker sind, die vor Ort arbeiten. Ich wollte beispielsweise Femin Arank treffen. Das ist ein Hindu aus Hamburg. Der ist abgeschoben worden, obwohl Hindus es ungemein schwer haben, überhaupt zu überleben in einem Land wie Afghanistan. Der kommt aus seinem Tempel nicht raus. Ich habe gebeten darum, ihn besuchen zu dürfen. Mir ist gesagt worden, aus Sicherheitsgründen geht das nicht, weil so einer wie ich nicht hin kann und auch die Botschaftsleute nicht hin können. Das sind nicht diejenigen, die akkurat die Sicherheitslage der Leute in den Straßen bewerten können, weil die selber kaum rauskönnen. Und deshalb muss man die Sicherheitslage breiter einschätzen und die Grundlage dafür schaffen, dass es eine realistische Einschätzung gibt, was da vor Ort los ist.
Rohde: Und wie würden Sie das tun in dem Moment jetzt?
"Hier wird Parteiwohl vor die Aufgabe der Regierung gestellt"
Nouripour: Es gibt NGOs, es gibt Gruppierungen in Afghanistan, es gibt Menschenrechtsorganisationen. Es gibt zum Beispiel das Afghan Analysis Network, das vor Ort arbeitet. Schauen Sie sich mal die Analyse genau dieses Netzwerks an, von Thomas Ruttig geschrieben. Thomas Ruttig ist einer, der schon zu Taliban-Zeiten in Afghanistan sich bewegt hat. Und schauen Sie sich an, wie er die Sicherheitseinschätzungen des Bundes bewertet. Das ist vernichtend für die Bundesregierung. Und deshalb hoffe ich, dass Sigmar Gabriel als neuer Außenminister dieses Neusein auch nutzt dafür, dass er die Sicherheitslage auch realistisch einschätzt. Dann hätten auch die Bundesländer nicht mehr diesen Druck.
Rohde: Aber die Bundesregierung betont ja auch, dass es wichtig ist, das geltende Recht jetzt durchzusetzen und konsequent abzuschieben, auch damit die Stimmung in der Bevölkerung nicht kippt und rechte Parteien zum Beispiel Zulauf bekommen. Überzeugt sie das nicht?
Nouripour: Es überzeugt mich keineswegs, weil das Recht auf Asyl ein individuelles Grundrecht ist derjenigen, die um Schutz suchen. Es kann sein, dass auch Leute dabei sind, die das nur vorgeben. Aber das hat mit der Stimmung da draußen überhaupt nichts zu tun. Die Einschätzung der Schutzbedürftigkeit der Leute genauso wie die Einschätzung, ob man sie denn in ein menschenwürdiges Leben zurückführen kann, wenn die Schutzbedürftigkeit nicht hergestellt wird, hat mit der Frage, wie viel Prozent die AfD hat, überhaupt nichts zu tun. Hier wird Parteiwohl, nämlich das der Union, vor die Aufgabe der Regierung gestellt. Und das ist nicht okay.
Rohde: Aber die Grünen sind da ja auch ein bisschen gespalten, muss man sagen. Die sagen zum Beispiel, Straftäter darf man rückführen, andere Afghanen nicht. Wie vereinbaren Sie das mit Ihrem hohen moralischen Anspruch an Menschlichkeit?
"Wir haben bei dem Einsatz haufenweise Fehler gemacht"
Nouripour: Auch da gilt dasselbe. Ich habe zum Beispiel die afghanischen Administrationsleute, die Leute in der afghanischen Regierung gefragt, ob ihnen denn zum Beispiel mitgeteilt wird, welche Straftaten diese Menschen begangen haben. Die Antwort ist: Nein, sie wissen das nicht. Das heißt, da wird ein Mörder möglicherweise rückgeführt, weil man die Bevölkerung in Deutschland beruhigen will, oder ein Gefährder, also einer, der potenziell Terrorist wäre, und es wird den Afghanen nicht einmal gesagt. Und dementsprechend verschlechtert sich die Sicherheitslage in Afghanistan umso mehr. Auch das ist ein Problem mit den Sammelabschiebungen. Die Kommunikation mit der afghanischen Seite funktioniert von vorn bis hinten nicht. Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass wir deutsche Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan stationiert haben, denen wir jetzt Gefährder schicken, und nicht mal der afghanischen Seite sagen, dass das Gefährder sind, dann müssen sie ja auch alle Fälle nehmen – was macht das dann mit der Sicherheit unserer Soldaten.
Rohde: Aber Sie haben ja auch, anders als viele in Ihrer Fraktion, für die Verlängerung dieses Bundeswehreinsatzes gestimmt. Müssen Sie nach Ihrem Besuch, wenn Sie genau das jetzt sagen, nicht eingestehen, dass dieser Einsatz nicht viel gebracht hat und Afghanistan nicht sicherer gemacht hat?
Nouripour: Das habe ich gerade erstens nicht gesagt und zweitens auch nicht gemeint. Ich glaube, dass dieser Einsatz weiterhin notwendig ist, weil die Afghanen, die ich kenne, die ich seit Jahren besuche, die ich meine Freunde nenne, mir sagen, dass sie weiterhin Hilfe brauchen. Die sind leider nicht so weit. Das hat auch was damit zu tun, dass wir natürlich bei dem Einsatz haufenweise Fehler gemacht haben, nicht nur wir Deutsche, sondern die internationale Gemeinschaft. Und deshalb brauchen sie noch weiterhin unsere Unterstützung. Das hat aber mit der Frage, ob wir dann unseren deutschen Soldaten Gefährder schicken aus Deutschland, die sie dann bedrohen, nichts zu tun.
Rohde: Aber die Bundesregierung, muss man sagen, die macht ja ganz gezielt Druck jetzt auf Afghanistan, mit einer Vereinbarung, Afghanistan nimmt eben abgeschobene Afghanen auf und bekommt dafür mehr Entwicklungshilfe. Wie würden Sie denn die Afghanen dazu bringen, jetzt zum Beispiel Straftäter aufzunehmen? Was für eine Lösung könnte man da finden?
"Da sind diese Staaten tatsächlich überfordert"
Nouripour: Das ist ja so nicht richtig, wie Sie es gesagt haben. Es ist ja nicht so, dass die Afghanen jetzt mehr Entwicklungshilfe bekommen, sondern der deutsche Außenminister, damals Steinmeier, hat öffentlich in die Kameras gesagt, entweder, die nehmen ihre Leute auf, oder wir geben denen gar keine Entwicklungshilfe mehr.
Rohde: Genau, das wurde sozusagen als Drohbedingung aufgebaut, ja.
Nouripour: Richtig. Im Übrigen eine Übung in der deutschen Geschichte, dass Entwicklungshilfe so konditioniert wird, so an eine Bedingungen geknüpft wird, die mit dem Land selbst erst mal nichts zu tun haben. Es ist ein bisschen so wie mit Tunesien auch. In Tunesien und Afghanistan gibt es jetzt sehr viele Drohgebärden, den einen will man das Entwicklungsgeld kürzen, bei den anderen hat man mit Sanktionen sogar gedroht, nämlich im Falle von Tunesien. Tunesien hat, per Kopf gesehen, die größte Dschihadistenproblematik weltweit. Die haben so viele Ausreiser gehabt, salafistische und dschihadistische Ausreiser nach Syrien und Irak wie die Europäer zusammen. Wenn diese Leute zurückkommen in so ein kleines Land, haben die ein festes Problem. Deshalb zögern sie, das bestehende Abkommen, Rückführungsabkommen mit Deutschland umzusetzen. Ich verstehe das. Wenn wir wollen, dass die die Leute zurücknehmen sollen, dann sollten wir nicht noch mehr Druck machen, sondern die fragen, auch mit denen sprechen, wie sie das Dschihadistenproblem in den Griff bekommen, was für unsere Sicherheit das Beste wäre. Dasselbe gilt für Afghanistan auch. Wir müssen miteinander reden, wie wir dem Land helfen können, damit sie das auch auf die Reihe kriegen, damit sie zum Beispiel Gefängnisse haben, in denen sie die Leute auch aufnehmen können, wo nicht Folter droht. Das sind Kernaufgaben, bei denen diese Staaten da nicht mitmachen, wo sie tatsächlich überfordert sind. Und deshalb sollten wir nicht immer noch mit dem harten Ton des Drucks und der Drohungen, damit arbeiten, sondern partnerschaftlich mit denen Hand in Hand überlegen, wie man die Situation so verbessern kann, dass auch die Kooperation funktioniert.
Rohde: Sagt Omid Nouripour, der Außenpolitische Sprecher der Grünen. Vielen Dank für das Gespräch!
Nouripour: Ich danke Ihnen!
Rohde: Ja, und das Gespräch haben wir vor zwei Stunden aufgezeichnet. Herr Nouripour ist noch auf Reisen und war nur mobil zu erreichen. Wir bitten, die ausgesprochen schlechte Telefonqualität zu entschuldigen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.