Der Gummifuß ist abgenutzt, der Unterschenkel aus Plastik und Metall auch. Latifa braucht eine neue Prothese. Eine Physiotherapeutin schaut sich den Stumpf des Beins an. Keine Druckstellen.
"Ich wollte damals Holz und Gestrüpp sammeln, um Feuer zu machen. Dann gab es einen Knall und ich wurde ohnmächtig", erinnert sich Latifa an den Moment vor 15 Jahren, der ihr Leben veränderte. Wenige Wochen vor den Terroranschlägen des 11. September war sie in Afghanistan auf eine Anti-Personen-Mine getreten. Vielleicht eine Hinterlassenschaft der sowjetischen Besatzungstruppen. Vielleicht aber auch eine Mine aus den Jahren danach, in denen sich die afghanischen Widerstandskämpfer gegenseitig zerfleischten, um an die Macht zu kommen. Oder eine Mine aus der Zeit der Taliban, deren Regime noch regierte, als Latifa ihr Bein verlor.
Eines der am stärksten verminten Länder der Welt
"Das war eine sehr harte Zeit damals, vor allem für eine junge, unverheiratete Frau", sagt Latifa. Sie ist heute 30 Jahre alt und Mutter von drei Töchtern. Sie lebt mit ihren Kindern bei ihrem Bruder und ihren Eltern in einem kleinen Bergdorf mit Lehmhäusern vor den Toren Kabuls. Ihr drogensüchtiger Ehemann hat sie verlassen. Die Familie ist bitterarm.
"Mein Schmerz über mein Leben ist manchmal so groß, dass ich mich am liebsten in Stücke schneiden möchte. Aber dann denke ich an meine Kinder", erklärt Latifa. Dann schnallt sie mithilfe der Physiotherapeutin, die selber eine Prothese trägt, ihr neues Bein an. Die beiden Frauen kennen sich seit Jahren.
"Ich habe hier vor 14 Jahren meine erste Prothese bekommen. Und seitdem bin ich immer wieder hierher zurückgekommen", sagt Latifa. Es sei kein gutes Leben, aber ohne Prothese wäre es gar kein Leben. Latifa gehört zu den landesweit fast 150.000 Patienten des orthopädischen Programms, das das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Afghanistan aufgebaut hat. Als es 1988 los ging, drehte sich alles um die Versorgung von Minenopfern. Afghanistan gehört zu den am stärksten verminten Ländern der Welt. Jeden Monat töten und verstümmeln Landminen und nicht explodierter Kriegsschrott bis zu 30 Menschen.
Doch der Krieg hat sich verändert. Heute geht es auch um Opfer wie Norullah, die einen Sprengstoff-Anschlag überlebt haben.
"Der Patient muss die Prothese auch wollen"
"Es ist schwer, mit einer Prothese zu laufen. Ich muss noch viel lernen", sagt der 22-jährige. Er war am 9. April 2015 zur falschen Zeit am falschen Ort. Damals überfiel ein Selbstmordkommando der Taliban das Büro der Staatsanwaltschaft in der nordafghanischen Stadt Mazar-i-Sharif, in der bis heute Bundeswehrsoldaten stationiert sind. Als sich einer der Angreifer im ersten Stock in die Luft sprenge, verlor Norullah beide Beine und einen Teil der linken Hüfte. Im Physiotherapieraum kämpft er zwischen Gehstangen mit dem Gleichgewicht, mit seiner Scham und mit dem Druckschmerz der Prothese. "Mein Leben liegt in Gottes Hand", sagt Norullah. Er lässt Fotos von seinem Gesicht zu, aber auf keinen Fall von den neuen, fremden Beinen, die jetzt seine Beine werden sollen.
"Der Patient muss einen starken Willen haben und die Prothese auch wollen", erklärt Alberto Cairo, der das Orthopädieprogramm des Internationalen Roten Kreuzes in Afghanistan leitet. Der drahtige Italiener mit der markanten schwarzen Brille lebt seit 26 Jahren in Kabul. 26 Jahre Krieg. 26 Jahre Prothesen und Physiotherapie für zerfetzte Körper.
"Wenn du nur frustriert bist und weinst, kommst du nicht weiter. Zu weinen hilft, aber hier muss man anpacken", sagt Alberto Cairo. Er nennt Afghanistan sein zu Hause. "Hier kannst du sehen und fühlen, wie nützlich du bist", erzählt er enthusiastisch. "Zu uns kommen Menschen, die sprichwörtlich auf dem Boden kriechen. Aber wenn uns die Patienten nach einiger Zeit wieder verlassen, können sie laufen. Wir richten sie auf, das ist unglaublich bereichernd."
Alberto Cairo hat das orthopädische Programm geöffnet. Für Menschen mit einer angeborenen Behinderung wie Klumpfüße. Für Querschnittsgelähmte. Für Menschen, die an Kinderlähmung leiden, weil sie nie gegen Polio geimpft wurden. Für Menschen wie Karishma aus der umkämpften ostafghanischen Provinz Paktia. Kein klassisches Kriegsopfer, doch ein Opfer des Krieges.
"Ich kann ein bisschen laufen, aber noch nicht alleine stehen und normal sitzen. Nein, keine Schule", berichtet Karishma. Das 13-jährige Mädchen hat sein linkes Bein durch einen Autounfall verloren. In einem anderen Land hätten die Ärzte Karishma vermutlich nicht kurz unterhalb der Leiste amputieren müssen. Hier, im Orthopädiezentrum des Internationalen Roten Kreuzes in Kabul, haben die Kosten des Krieges Gesichter. In der Hauptstadt, zwischen Stau, Sprengschutzmauern und Stacheldraht, gehören amputierte Bettler zum Alltag.