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Afghanistan
"Die Taliban sind nicht besiegt"

Die Kampftruppen gehen, der Ausbildungseinsatz beginnt: Der frühere Nato-General Harald Kujat bewertet die Neuausrichtung des Militärbündnisses in Afghanistan skeptisch. Er zweifle an der Stärke der afghanischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen die Taliban, sagte er im DLF.

Harald Kujat im Gespräch mit Dirk Müller | 29.12.2014
    Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr
    Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr ( picture alliance / ZB)
    Ob es in Afghanistan weiter zu Kampfhandlungen kommt, könne nicht die Nato entscheiden, so Kujat: "Das entscheiden die Taliban." Die seien nicht besiegt und würden alles tun, um ihren Einfluss auf das gesamte Land auszudehnen. "Die Schlüsselfrage ist: Wie stark sind die afghanischen Sicherheitskräfte und können sie zumindest das, was bisher erreicht wurde, auch für die Zukunft sicherstellen?", so Kujat. "Ich persönlich habe da auch meine Zweifel." Mit dem 13-jährigen Kampfeinsatz sei auf der politischen Seite nicht erreicht worden, "was wir uns vorgenommen haben". Afghanistan sei nicht zu einem Rechtsstaat "nach unseren Vorstellungen" geworden und ein "schwieriges Territorium" geblieben.
    Er bezweifle allerdings auch, ob ein längerer Einsatz eine entscheidende Wende zur Folge gehabte hätte, sagte der ehemalige Vorsitzende des Nato-Militärausschusses. Es sei eine "Reihe von falschen Entscheidungen" getroffen worden und nicht erkennbar, ob die gesteckten Ziele erreicht wurden, so Kujat. Deshalb gebe es heute "auch bei uns eine gewisse politische Müdigkeit gegenüber dem Einsatz". Entscheidend für die Zukunft Afghanistans sei unter anderem die Unterstützung durch die Bevölkerung. Darüber hinaus gebe es viele Fragezeichen.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Der längste und verlustreichste Einsatz in der Geschichte der NATO ist an diesem Wochenende zu Ende gegangen, der Kampfeinsatz in Afghanistan. 13 Jahre hat er gedauert. 3.500 Soldaten des westlichen Bündnisses sind gefallen, darunter 55 Soldaten der Bundeswehr. Tausende kehren traumatisiert zurück in die Heimat. Jetzt sollen die internationalen Truppen nicht mehr kämpfen, sondern nur noch ausbilden, 800 deutsche Soldaten bleiben dafür. Weiter kämpfen wollen allerdings die Taliban, massiver und stärker denn je, das haben die Islamisten jedenfalls angekündigt. Unser Thema jetzt mit dem früheren NATO-General Harald Kujat, guten Morgen!
    Harald Kujat: Guten Morgen!
    Müller: Kann die NATO einen Krieg so einfach beenden?
    Kujat: Natürlich kann sie den Krieg formal beenden, den Kampfeinsatz beenden. Ob es allerdings weiter zu Kampfhandlungen kommt, zu Überfällen auf die NATO-Truppen, das kann sie natürlich nicht entscheiden. Das entscheiden die Taliban und die Taliban sind nicht besiegt.
    Müller: Und die Taliban werden einen Teufel tun, auf Angriffe zu verzichten?
    Kujat: Sicher werden die Taliban versuchen, weiterhin Einfluss zu gewinnen, zunächst möglicherweise stärker im Süden als im Norden, aber insgesamt werden sie versuchen, ihren Einfluss auf das gesamte Land auszudehnen. Die Frage ist wirklich, die entscheidende Schlüsselfrage ist: Wie stark sind die afghanischen Sicherheitskräfte? Und können sie das, was zumindest bisher erreicht wurde, was ja auch durchaus sehr unterschiedlich bewertet wird, können sie das auch für die Zukunft sicherstellen? Ich persönlich habe da meine Zweifel.
    "Wir haben doch keine 100 Prozent stabile Demokratie in Afghanistan"
    Müller: Weil es auch 140.000 NATO-Soldaten in der "besten Zeit" nicht geschafft haben, die Sicherheitsproblematik in den Griff zu bekommen?
    Kujat: Das ist genau der Fall. Aber es ist auch so, dass wir auch auf der zivilen Seite, auf der politischen Seite durchaus nicht das erreicht haben, was wir uns vorgenommen haben. Wir haben doch keine 100 Prozent stabile Demokratie in Afghanistan, es ist kein Rechtsstaat nach unseren Kriterien, also, der Drogenanbau geht weiter. Es sind viele Dinge, die ich jetzt aufzählen könnte, wo wir nicht das erreicht haben, politisch, wirtschaftlich das erreicht haben, was wir eigentlich erreichen wollten.
    Müller: Also kommt das jetzt alles zu früh?
    Kujat: Ich weiß nicht, ob ein längerer Einsatz tatsächlich eine entscheidende Wende herbeigeführt hätte. Afghanistan ist ein ganz schwieriges Territorium und 13 Jahre, das ist eine sehr, sehr lange Zeit.
    "Der Auftrag war schwierig zu erfüllen"
    Müller: Schwieriges Territorium, sagen Sie. Schwierig auch der Irak, das haben wir gesehen, schwierig auch Libyen, schwierig im Grunde auch der Balkan, das Kosovo. Haben sich jemals in der jüngeren Geschichte, Interventionen, Einsätze über einen längeren Zeitraum gelohnt?
    Kujat: Na ja, das kann man am Anfang nicht so ohne Weiteres beantworten. Der Auftrag in Afghanistan hat sich ja auch über die Jahre gewandelt. Er war ja zunächst überhaupt nur gedacht als Zeichen der Solidarität mit den Vereinigten Staaten. Wir erinnern uns, 11. September, die Vereinigten Staaten waren angegriffen. Und dann haben wir uns politische Ziele gesetzt, der Einsatz wurde von Kabul auf das ganze Land ausgedehnt. Es ist immer wieder das Ziel weiter gesteckt worden und der Auftrag war schwierig zu erfüllen. Die Frage ist natürlich jetzt: Kann die Ausbildungsmission in zwei oder drei Jahren mehr erreichen als das, was wir in den vergangenen 13 Jahren erreicht haben? Und auch da kann man natürlich Zweifel haben.
    Müller: Das wollte ich Sie gerade fragen: Warum Zweifel?
    Kujat: Nun, weil zunächst einmal die Taliban, wie ich eben sagte, nicht besiegt sind, weiter ihre Angriffe fortsetzen werden, und zwar auf eine Truppe, die deutlich kleiner ist als früher, deutlich weniger kampfstark ist und, wie wir gehört haben, ja auch keinen Kampfauftrag hat. Außerdem ist es grundsätzlich zweifelhaft, ob man in zwei, drei Jahren tatsächlich qualitativ so viel mehr erreichen kann bei den afghanischen Sicherheitskräften als zuvor. Hinzu kommt, anders auch als das Ihre Einspielung zuvor vermittelt hat, dass die afghanischen Sicherheitskräfte in ihrem Land - sowohl die Polizei als auch das Militär - wirklich keinen guten Ruf haben. Und die Frage ist, wie weit die Unterstützung der Bevölkerung dann reichen wird. Also, es gibt eine ganze Reihe von Fragezeichen, die mit der Beendigung dieses Kampfeinsatzes verbunden sind, Fragezeichen, die auch über die nächsten Jahre bestehen bleiben werden.
    "Es gibt eine gewisse Müdigkeit innenpolitisch gegenüber diesem Einsatz"
    Müller: Vielleicht nennen wir noch einmal die Zahlen, nicht zu viele, aber vielleicht zwei, drei: Wir hatten zur stärksten Zeit - also mit Blick auf die Truppenpräsenz der ISAF-Soldaten - 140.000 im Land, vor einigen Jahren. Jetzt soll das alles reduziert werden auf 12.000, die dann eben für Ausbildung zur Verfügung stehen, und 800 deutsche Soldaten. Also, 140.000 waren es, jetzt bleiben 12.000 übrig. Viele fragen sich jetzt, warum muss das zu diesen Zeitpunkt sein? Ist die einzige vernünftige, nachvollziehbare Erklärung: Weil es innenpolitisch gerade auch in den USA nicht mehr länger gewollt ist?
    Kujat: Ja, es ist sicherlich so, dass das eine Rolle spielt. Die Innenpolitik hat immer einen großen Einfluss auf die Außenpolitik, das ist nicht nur in den Vereinigten Staaten so, sondern das ist auch in Deutschland so, das ist in allen Ländern so. Aber in den Vereinigten Staaten macht sich das eben sehr stark bemerkbar. Aber auch bei uns, das muss man sicherlich ohne Weiteres sagen, gibt es natürlich eine gewisse Müdigkeit innenpolitisch gegenüber diesem Einsatz, der so viele Opfer gefordert hat und bei dem eben nicht erkennbar ist, ob wir die Ziele, die wir uns einmal gesetzt haben, auch tatsächlich erreichen können und wann wir sie überhaupt erreichen können. Das heißt, die Frage, hätten wir diesen Einsatz, diesen Kampfeinsatz länger fortführen sollen mit noch mehr Opfern, in der Ungewissheit, jemals ein besseres Ergebnis erzielen zu können, da habe ich genau wie die Amerikaner meine Zweifel, das muss ich sagen.
    Müller: Herr Kujat, Sie sind ja immer auch gerade bei uns im Deutschlandfunk bekannt für offene, klare Worte. Wenn man diese Frage jetzt ein bisschen anders stellt, wenn man das Ergebnis heute kennt und wir tun so, als hätten wir es damals schon gekannt: Hätte man auch nach fünf Jahren schon gehen können?
    Kujat: Vielleicht nicht nach fünf Jahren, aber doch vielleicht einige Jahre früher, als das heute der Fall ist.
    "Eine Reihe von falschen Entscheidungen getroffen"
    Müller: Milliarden Investitionen, viele, viele Tote, 70.000 tote Zivilisten, über 3.000 tote NATO-Soldaten. Hat sich das gelohnt?
    Kujat: Das kann man in der Politik nie so einfach beantworten. Das ist keine Frage, man kann nicht Menschenleben gegen ein politisches Ziel aufwiegen. Jedes Menschenleben, sagen die Japaner, wiegt so viel wie die Erdkugel, und für jeden Betroffenen, jeder tote Soldat, jeder tote Zivilist dort ist eine Tragödie. Das kann man nicht machen. Die Frage ist wirklich: Hätte man mehr erreichen können mit einem anderen Ansatz vielleicht? Hätte man beispielsweise das Prinzip der Lead Nations, die für verschiedene zivile Aufgaben vorgesehen waren, ändern können, so wie wir es im Kosovo gemacht haben? Hätte man dort zunächst eine Art Militärregime aufbauen sollen? Oder hätten die Amerikaner von Anfang an sich stärker engagieren können? Die waren ja im Irak dann auch engagiert. Alles dies sind Fragen, die sich natürlich am Ende stellen, wenn man eine Bilanz zieht und wenn man fragt, haben wir alles richtig gemacht. Und es ist sicherlich so, dass wir eine Reihe von falschen Entscheidungen getroffen haben, am Anfang, und auch im Verlauf dieser Operation. Aber ich würde niemals dazu übergehen, Menschenleben, auch nicht ein einziges Menschenleben gegen ein politisches Ziel aufzuwiegen.
    Müller: Wir haben noch zehn Sekunden, dennoch die Frage: Kann man einen asymmetrischen Krieg gewinnen?
    Kujat: Ja, das kann man. Man kann auch einen asymmetrischen Krieg gewinnen. Man kann jeden Krieg gewinnen, wenn man überlegen ist und wenn man alles richtig macht.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der frühere NATO-General Harald Kujat. Danke für das Gespräch!
    Kujat: Danke Ihnen!
    Müller: Auf Wiederhören!
    Kujat: Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.