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Afghanistan
Die verhinderte Richterin

Das afghanische Parlament hätte Geschichte schreiben können, wenn es Anisa Rassouli für den Obersten Gerichtshof des Landes nominiert hätte. Doch es kam anders. Konservative Politiker und Geistliche machten gegen die Wunschkandidatin von Präsident Ashraf Ghani mobil - und verhinderten sie.

Von Sandra Petersmann | 08.03.2016
    Anisa Rassouli, Richterin in Afghanistan. Wurde jetzt doch nicht in den Obersten Gerichtshof berufen.
    Anisa Rassouli, Richterin in Afghanistan. (deutschlandradio.de / Sandra Petersmann)
    Die Fenster sind zum Schutz vor Anschlägen mit einer Folie abgeklebt, die nur wenig Tageslicht hereinlässt. Richter und Anwälte sind regelmäßig das Ziel von Autobomben und Selbstmordattentätern. Anisa Rassouli empfängt in ihrem dunklen Büro und redet über das Thema, das ihr besonders am Herzen liegt.
    "Die Hälfte unserer Bevölkerung ist weiblich. Es geht hier gar nicht um mich persönlich. Es geht darum, dass die afghanischen Frauen im Obersten Gerichtshof dieses Landes repräsentiert werden. Wenn sie nicht repräsentiert sind so wie jetzt, findet die Hälfte der Bevölkerung nicht statt. Es geht darum, die Rechte der Frauen zu verteidigen, die in der Verfassung garantiert sind."
    Die Enttäuschung ist ihr immer noch in leisen Tönen anzumerken. Präsident Ashraf Ghani hatte sie als erste weibliche Kandidatin für das höchste Gericht des Landes vorgeschlagen, das auch über die Verfassung wacht. Doch am Ende fehlten Anisa Rassouli neun Stimmen. Sie hätte es schaffen können, wenn nicht mehr als 20 der insgesamt 68 weiblichen Abgeordneten bei der entscheidenden Abstimmung im Juli 2015 gefehlt hätten.
    "Ich weiß nicht, warum das passiert ist. Das war definitiv geplant, um mich zu verhindern. Viele weibliche Abgeordnete haben mir vorher gesagt, dass sie mich gerne im Obersten Gerichtshof sehen würden. Aber am Wahltag tauchten sie dann nicht auf. In unserer Verfassung steht, dass Männer und Frauen die gleichen Rechte haben. Niemand kann leugnen, dass das in unserer Verfassung steht. Dafür werde ich weiter arbeiten."
    Der Rat der Religionsgelehrten hatte Präsident Ghani davon abgeraten, Anisa Rassouli zu nominieren, weil eine Frau nicht über Kapitalverbrechen urteilen könne. Ein erzkonservativer Parlamentsabgeordneter aus der westafghanischen Metropole Herat hatte Stimmung gegen Rassouli gemacht, weil sie als Frau einmal im Monat blute, deshalb unrein sei und nicht den Koran berühren dürfe. Und so blieb Anisa Rassouli, was sie vor ihrer Nominierung war: die Chefin des Jugendgerichts von Kabul und die Chefin der afghanischen Juristinnen-Vereinigung. Sie ist Ende 40, unverheiratet und lebt mit ihren Eltern und den Familien einiger ihrer Brüder zusammen.
    30 Jahre Krieg haben das Land geprägt
    "Wir sind ein Land, das seit über 30 Jahren in einem Krieg gefangen ist. In so einer Umgebung leben Männer und Frauen nirgendwo ein gleichberechtigtes Leben. Wenn wir statt drei Jahrzehnten Krieg drei Jahrzehnte Entwicklung und Bildungschancen gehabt hätten, dann würden die afghanischen Frauen heute ein anderes Leben führen."
    Anisa Rassouli begann ihr Studium 1988, kurz vor dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen. Sie schloss es 1992 ab, als Afghanistan im Bürgerkrieg versank. Das Land hat bis heute keinen Frieden gefunden. Es verliert seine Jugend. Es gibt kaum Gerechtigkeit.
    "Es macht mich sehr traurig, dass so viele junge Menschen unser Land verlassen. Sie sind unsere Zukunft. Es ist die Unsicherheit, die sie antreibt. In den Nachrichten hören sie jeden Tag, dass es Anschläge gibt. Oder dass die Taliban diesen oder jenen Distrikt unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die Menschen haben Angst vor der Zukunft. Deswegen schicken Eltern ihre Kinder sogar bewusst auf die Flucht. Die Menschen denken nicht daran, wie gefährlich diese Reise ist. Und dass das Leben in Europa schwer ist."
    Anisa Rassouli will bleiben. Es schmerzt sie, dass Afghanistans Gefängnisse voll sind mit Frauen, die Männer für sogenannte moralische Verbrechen" verurteilt haben: Frauen, die vergewaltigt worden sind. Frauen, die vor häuslicher Gewalt oder vor einer Zwangsehe geflohen sind. Frauen, die sich verliebt haben. Die afghanische Justiz gilt als käuflich. In vielen ländlichen Gebieten sprechen traditionelle Dorfräte oder die Taliban Recht. Anisa Rassouli will das nicht kommentieren. Sie bleibt bei ihrer Grundthese. Ohne Sicherheit kein Recht.
    "Ich kenne mein Volk besser als jeder Ausländer, der sich hier einmischt. Oder der hierher kommt um zu helfen. Kein Ausländer kann fühlen, was wir Afghanen empfinden. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich bin hier zur Schule gegangen und ich habe hier studiert. Ich habe den Krieg ertragen und ich bin Richterin geworden. Das war immer mein Traum. Wenn ich mich weigere, meinem Land zu dienen, wer wird es dann tun?"