In dem Moment, in dem Arjan aus seinem Haus trat, schlug die Granate ein. Arjan weiß nicht, ob Taliban oder die afghanische Armee das Geschoss abgefeuert hatten. Er musste zur Arbeit. Arjan arbeitete als Fahrer, er sollte eine Tour mit einem Kleinlaster fahren. Das war vor zwei Wochen.
"Es gab an dem Tag Kämpfe in unserem Dorf. Ich weiß eigentlich gar nicht mehr, was nach der Explosion passiert ist. Mein Vater schaffte es, mich in die Ambulanz zu bringen. Ich war nur so halb bei Bewusstsein. Von dort aus hat man mich hierher nach Kabul gebracht."
Arjans rechter Arm wurde durch die Explosion zerfetzt. Weil er elf Stunden von seiner Provinz Paktia nach Kabul brauchte, konnte sein Arm nicht mehr gerettet werden. Zum Glück konnte Arjan sein Bein behalten. Die ganze rechte Seite war durchsiebt mit Splittern.
Mohammad Hadi ist Polizist, in der Provinz Ghazni. Am 1. September schob er Dienst an einem Straßen-Kontrollpunkt.
"Meine Kollegen und ich wurden von Taliban umzingelt. Wir versuchten über Stunden, sie zurückzuschlagen. Dann waren meine drei Kollegen tot. Und es gab keine Munition mehr. Ich musste fliehen."
Letzte Rettung für Kriegsopfer: das Emergency-Krankenhaus
Allerdings war auch Hadi getroffen worden, dreimal. In der Brust, in der Hand und am Bein. Soldaten der afghanischen Armee lasen ihn schließlich am Straßenrand auf. Das, was er und Arjan erlebt haben, ist Alltag in vielen Provinzen Afghanistans.
In der Notaufnahme des Emergency-Krankenhauses in Kabul geht es hektisch zu. Eine amerikanische Ärztin versorgt die Schusswunde eines kleinen Mädchens. Für das Kind, aber auch für den Polizisten Hadi und den Fahrer Arjan ist das Emergency-Krankenhaus für Kriegsopfer die letzte Rettung. Emergency ist eine italienische Organisation. Sie ist mit mehr als 30 Ambulanzen und drei Kliniken in Afghanistan präsent.
"Die Zahl der Opfer ist sehr stark angestiegen. Wir mussten die Zahl der Betten hier erhöhen. Als ich zum ersten Mal hier war, haben wir auch Opfer von Verkehrsunfällen aufgenommen. Aber der Krieg fordert inzwischen so viele Opfer, dass wir nur noch Kriegsverletzte aufnehmen."
"Ich kann mich nicht an das Leid gewöhnen"
Paolo ist Anfang 50, stammt aus Italien und arbeitet seit zehn Jahren in Kriegsgebieten, meist in Afghanistan. Das Krankenhausgelände verlässt er nicht – zu riskant. Außerdem fehlt die Zeit angesichts der vielen Patienten.
"Die Arbeit ist eigentlich immer schwierig. Ich kann mich nicht an das Leid gewöhnen, denn die Menschen sind unschuldig. Der einzige Weg, mich zu schützen ist, indem ich mir sage: Dass ist meine Arbeit. Ich mache sie für diese Menschen. Solange ich operiere und behandle, funktioniert das. Schlimm wird es erst danach, wenn ich alles sacken lassen kann. Auch daheim, wenn ich in Italien bin und Kinder schreien höre."
Waffen müssen am Eingang abgegeben werden
Das Emergency-Krankenhaus in Kabul verfügt über 120 Betten. Im September mussten Paolo und seine Kollegen aber mehr als 350 Menschen versorgen. Sie reagierten, indem sie jetzt einen dritten Operations-Saal einrichteten. Ein Drittel der Opfer sind Frauen und Kinder. Auch Soldaten, Polizisten und Taliban kommen ins Emergency. Das Krankenhausgelände ist neutrales Gebiet. Waffen müssen am Eingang abgegeben werden. Die Vereinten Nationen verzeichneten im ersten Halbjahr mehr als 5100 tote und verletzte Zivilisten in Afghanistan. Wie viele Soldaten, Polizisten und Taliban starben, darüber gibt es keinen glaubwürdigen Überblick. Seit Juli eskaliert der Krieg vielerorts. In 31 von 34 Provinzen gibt es Kämpfe. 2016 dürfte aber das blutigste Jahr seit dem Sturz der Taliban werden.
Arjan, der Fahrer, wird noch einige Tage im Krankenhaus bleiben. Er will zurück in sein Heimatdorf, nach seiner Familie schauen. Die Ärzte erklärten ihm, dass er regelmäßig zur Ambulanz muss, um die Wunden zu versorgen. Arbeiten wird er ohne seinen rechten Arm aber wohl nicht mehr können. Mohammad Hadi dagegen will zurück zur Polizei, seinem Land dienen, wie er sagt. Er wird voll genesen, glauben die Ärzte. Als die sich von ihm abwenden, will Hadi noch etwas sagen. Hadi ist gerührt:
"Ich bin unendlich dankbar dafür, dass es dieses Krankenhaus hier gibt, und ich danke den Ausländern, dass sie uns hier behandeln. Ich bin wirklich dankbar."
Es sind Gesten wie diese, die Ärzten wie Paolo und auch den Pflegerinnen und Pflegern dabei helfen, weiter zu machen – und das alltägliche Leiden ihrer Patienten auszuhalten.