Archiv

Afghanistan
Keine Normalität

Die US-geführte Militärintervention 2001 sollte Afghanistan Frieden und Stabilität bringen. In ihrem Buch "Der Krieg, der niemals endet" zeigen die Journalisten Carsten Jensen und Anders Hammer, dass das Land am Hindukusch immer noch unsicher und von einem normalen Alltag weit entfernt ist. Schuld daran sind nicht nur die Taliban.

Von Berthold Forssman |
    Afghanische Sicherheitskräfte versuchen die Lage in Afghanistan in den Griff zu bekommen.
    Afghanische Sicherheitskräfte versuchen die Lage in Afghanistan in den Griff zu bekommen. (dpa / picture alliance / Ghulamullah Habibi)
    2013 trifft Carsten Jensen in Kundus auf Jawad, der als Dolmetscher für die Deutschen arbeitet. Seine ganze Familie lebt von dieser Tätigkeit, aber niemand erzählt den Nachbarn davon: Denn keiner weiß, wer Verbindungen zu den Taliban hat. Durch den Abzug der Ausländer droht Jawad und seinen Angehörigen nicht nur der Verlust ihrer Existenzgrundlage, sondern auch die Rache der Taliban.
    Zur Regierung hat Jawad aus eigener bitterer Erfahrung kein Vertrauen: Immer wieder hat er erlebt, wie er bei der Vergabe von Jobs übergangen wurde, weil ein mächtiger Mann im Weg stand. "Wir sind eine gut ausgebildete Generation, aber wir werden von schlecht ausgebildeten und unwissenden Männern regiert und kommen nie zu Macht oder Einfluss", erzählt er. Heute ist Jawad tot, ermordet. Sein Antrag auf Asyl in Deutschland habe seit Langem bei den deutschen Behörden gelegen. Sein Onkel Nasim erzählt:
    "Als die Ausländer nach Afghanistan kamen, glaubten wir, sie wollten uns helfen und uns Demokratie und Frieden bringen. Aber wir hatten keine Ahnung davon, in welche Situation sie uns in Wahrheit bringen würden. Was für ein Frieden soll das denn sein? Die Ausländer reden immer von Menschenrechten, aber sie haben uns keinen Frieden gebracht, und sie denken immer nur an ihre eigene Sicherheit, nicht an die der Bevölkerung. Jetzt sind alle Verwandten von Jawad in Gefahr. Nein, die Ausländer brauchen wir nicht."
    Todesangst als ständiger Begleiter
    Ganz offensichtlich ist dies keine Einzelmeinung. Jensen und Hammer haben mit Menschen aus allen möglichen Regionen und Gesellschaftsschichten gesprochen, darunter mit Opiumzüchtern, Milizionären, Schleusern, Häftlingen, minderjährigen Kandidaten für Selbstmordanschläge oder ganz einfach auch mit Frauen, die normalerweise kaum das Haus verlassen dürfen.
    So unterschiedlich alle diese Menschen sind, in manchen Punkten sind sie sich auf fast erschreckende Weise einig: Schuld an den Missständen tragen vor allem die Regierung in Kabul mitsamt ihrer Korruption, die ausländischen Truppen und die mit ihnen verbündeten Kriegsherren, weniger aber die Taliban. Trotz aller Offenheit bleiben die Gesprächspartner den Autoren dabei innerlich weitgehend fremd. Carsten Jensen:
    "Ich habe mit Witwen und Angehörigen von Ermordeten gesprochen, ebenso mit Menschen, an deren Händen Blut klebt, mit Kindersoldaten, Schuldirektorinnen, Ärzten und vielen anderen. Aber verstehe ich auch nur ansatzweise, was für ein Leben sie führen? Nein. Überall stoße ich auf unüberwindliche Mauern. Nur eine Ausnahme gibt es: Schon bald teile ich ihre ständige Todesangst. Die Gastfreundschaft der Menschen ist legendär, aber überall lauert die Gefahr, in eine Falle zu geraten, statt einen vermeintlichen Interviewpartner zu treffen. Genau diese Angst ist auch das ständige Grundgefühl im Leben der Afghanen."
    Viele gescheiterte Projekte, wenig Optimismus
    Die Autoren zeichnen ein düsteres Szenario - sehen sie auch Anlass für Optimismus? Jedenfalls kaum in den Projekten, die auf ausländische Initiativen zurückgehen. Ihre Kritik: Schulunterricht finde nur sporadisch statt, ein Justizzentrum sei in Wahrheit ein Gefängnis, in dem vor allem Frauen wegen Moralvergehen einsäßen. Ein Wasserkraftwerk liefere keinen Strom, weil wegen der Gefahrenlage keine Turbinen montiert werden könnten, und das Gesundheitswesen liege darnieder.
    Unsummen sind nach Afghanistan geflossen, aber das Geld sei in den Taschen korrupter Amtsträger und in Dubai gelandet, konstatieren die Autoren. Aber ein paar junge Afghanen wie die 17-jährige Marziye Panahi hätten noch nicht alle Hoffnung aufgegeben:
    "Sobald die junge Frau den Mund öffnet, passiert mit ihr eine erstaunliche Verwandlung. Sie entwickelt ein Charisma und eine Autorität wie eine erfahrene Politikerin, die es gewohnt ist, vor großen Menschenmengen zu sprechen. Sie erzählt von der Diskriminierung ihrer Volksgruppe, von der Situation der Frauen. Sie müssten mehr um ihre Rechte kämpfen, sagt sie. 'Wir jungen Afghanen haben keine andere Chance. Die Alten müssen Platz für uns machen, es ist an der Zeit, dass wir die Macht übernehmen.' Maria Raheen aus Mazar-i Sharif verweist immerhin darauf, dass die beiden rivalisierenden Kriegsherren der Stadt ihre Kinder ins Ausland zum Studium geschickt haben. 'Wenn sie zurückkommen, werden sich die Dinge ändern'. Aber werden diese gut ausgebildeten Kinder überhaupt zurückkehren? Darauf hat auch sie keine Antwort."
    Packende Schilderung der Gegenwart
    Kein Zweifel, in Afghanistan läuft nur Weniges so, wie es sollte. Viele der Fehler sind längst bekannt: Es war nie klar, was USA und NATO dort genau erreichen wollten und mit wem. Viel weniger wissen wir dagegen, wie es den Menschen vor Ort geht, und genau sie kommen hier endlich zu Wort. Das Buch ist ein farbiger Erlebnisbericht mit vielen Mosaiksteinchen, die sich langsam zu einem Ganzen zusammenfügen, und ebenso eindrücklich wie die Schilderungen sind die vielen farbigen Fotos. Aller Ästhetik zum Trotz gibt es keinerlei Macho-Kult oder falschen Helden-Schmus wie in anderen Kriegsberichten. Was aber weitgehend fehlt, sind historische Zusammenhänge wie ein Rückblick in die Zeit vor der westlichen Invasion oder vor dem sowjetischen Einmarsch. Gewiss, die Probleme von heute sind teilweise hausgemacht, aber sie sind eben nicht nur den ausländischen Truppen anzulasten.
    Die Stärke des Buchs liegt damit zweifelsohne in einer packenden und vielfältigen Schilderung der Gegenwart. Der Leser wird mit auf eine spannende Reise genommen und abstrakte Verhältnisse werden auf konkrete Einzelpersonen heruntergebrochen. Aber wie repräsentativ sind ihre Äußerungen? Auch vermisst man gerade angesichts der vielen Probleme eine mögliche Lösung, und sei sie auch noch so utopisch.
    Carsten Jensen und Anders Hammer: " Der Krieg, der niemals endet - Reportagen aus Afghanistan" Originaltitel: "Krigen der aldrig ender - Reportager fra Afghanistan"
    Verlag Gyldendal, 335 Seiten, 300 Dänische Kronen (umgerechnet ca. 40 Euro).